Nannas Entschluss
„Was war denn los, Mondmaus?" Saraya blickte Nanna mit Augen an, die selbst wie zwei Vollmonde wirkten. Grüne Vollmonde. Die wilde Haarmähne kitzelte Nannas Hals, als ihre Freundin sie in den Arm nahm. Sie roch nach Bubbletea.
„Du bist noch weißer als weiß, hast du unterwegs 'nen Geist gesehen oder haben dich die Männer so erschreckt?" Die kratzige Stimme von Saraya kribbelte auf Nannas Schultern und am liebsten würde sie einfach so in den Armen ihrer Freundin liegen bleiben. Das Herz klopfte wie verrückt und ihr Verstand schien spurlos verschwunden.
Auf den Hügeln verloren? Bei dem Jungen? Welcher Junge? Wer war ER?
„Du verschweigst mir doch etwas. Ich merk es ganz genau, dein Puls ist auf mindestens Dreihundert." Saraya packte Nanna bei den Schultern und blickte sie an, als wäre sie eine Schwerverbrecherin. „Du redest jetzt!", befahl sie, als wäre sie ein Roboter.
Nanna glich einem Schatten. Sie konnte nichts tun, nicht reden, nicht reagieren. Selbst das Health-Programm konnte nichts ausrichten. Ganze drei Mal hatte sie es versucht.
„Okay, ich sehe schon, du bist gerade ein echtes Mondkalb. Jetzt schlaf 'ne Runde, ich zieh mir meine Serie rein. Wenn du wieder bei Sinnen bist, sag Bescheid."
Nanna rollte sich wie ein Kätzchen zusammen. Sie vernahm die Stimmen aus dem Fernseher, hörte Saraya kommentieren und dann entfernten sich die Geräusche allmählich. Der Schlaf umhüllte sie wie ein Freund und trug sie auf die Hügel im Dschungel. Dort traf Nanna wieder auf den mysteriösen Jungen. Er stand einfach da, in Lumpen und mit stechenden schwarzen Augen, als würde er alles verstehen, alles kennen. Er winkte sie zu sich und ihr Herz verknotete sich. Eine unerträgliche Sehnsucht befiel sie, sie wollte zu ihm, zögerte keine Sekunde. Sie MUSSTE mit ihm gehen, egal wohin er sie führte. Hauptsache dieses Ziehen in ihrer Brust würde nachlassen. Ihr Platz war nicht in Elysion.
Was waren das nur für verrückte Gedanken? So durfte sie nicht denken, wie konnte sie nur? Alles war doch genauestens geplant, es gab keinen anderen Weg, sie würde verlorengehen. Hoffnungslos. Und doch, diese Gedanken waren ihr nicht fremd. Doch nie zuvor drängten sie so stark an die Oberfläche wie jetzt gerade. Ihre Vision musste das ausgelöst haben, anders konnte sie es sich nicht erklären. Ein Deckel war geöffnet worden, eine Mauer eingerissen, eine Illusion in ihrem Bewusstsein war bei dem Zusammenbruch im Dschungel in sich zusammengefallen.
In diesem Moment wurde ihr eines ganz deutlich bewusst.
Es gab kein Zurück mehr.
Die Tür war geöffnet worden und würde sich nie, nie wieder verschließen lassen. Und dann kamen die Worte. „Ich kann das nicht", presste Nanna hervor.
„Was?"
„Das ... heiraten und Kinder und das alles", stammelte Nanna. Sie hatte sich aufgesetzt und hörte sich selbst reden, sah sich selbst dort auf dem Bett sitzen, als würde sie neben sich stehen.
„Aber ... du musst!" Noch nie hatte sie Saraya so schockiert gesehen, nicht mal, als sie ihr erzählt hatte, dass sie Bryan aus „Lost Children" absolut langweilig fand, wo doch wirklich ALLE von ihm träumten.
„Ich weiß, aber genauso muss ich eine Möglichkeit finden, um zu fliehen." Saraya konnte offensichtlich noch schockierter sein, so wie jetzt. Nanna bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Wie konnte sie nur? Sie musste jetzt schleunigst den Mund halten, was dachte sie sich nur dabei?
„Fliehen? Wovor? Wohin?" Saraya verlor sämtliche Fassung, ihre Gesichtszüge entglitten ihr, als hätte jemand sämtliche Muskeln durchtrennt und jede ihrer Nervenbahnen gelähmt.
„Ach, vergiss es, ich habe nur geträumt!", ruderte Nanna zurück. Sie durfte Saraya nicht in Gefahr bringen. Wenn die Androiden es erfahren würden, was in ihr vorginge, dann hinge auch Saraya mit drin.
„Was hast du denn geträumt? Du machst mir wirklich Angst, Mäuschen." Saraya setzte nun ihr Mama-Gesicht auf und nahm sie in die Arme. „Du bist total nassgeschwitzt. Jetzt erzähl, verdammt nochmal, was haben dir die Schweine angetan?" Jetzt spuckte sie Feuer, ihr kleiner Drache. Nanna zwang sich zur Ruhe, sie musste von der Männergeschichte ablenken, vielleicht wäre die Wahrheit weniger schlimm?
„Saraya, Ich hatte vorher eine Vision." Sie versuchte, es so neutral wie möglich zu erzählen. So, als wäre das nichts Besonderes und absolut kein Grund, sich aufzuregen.
„Das hast du doch öfter, warum führst du dich auf, als würden dich Monster jagen?"
„Diesmal war es eben irgendwie verwirrend und sehr real."
Saraya atmete laut aus. Sie blickte sie an, als wäre Nanna ein Kleinkind, das Gespenstergeschichten erzählte. „Ich hab das Gefühl, diese Vision wollte mich warnen, mir deutlich machen, dass ich ... ich will einfach nur fort von hier, von all den Zwängen, verstehst du?"
Saraya erhob sich, öffnete den Fridge in der Ecke und holte zwei Smoothies heraus. Sie drückte einen davon Nanna in die Hand und schnaufte dabei, als hätte sie drei Stunden Fitness hinter sich. „Was redest du denn da? Das sind nur die Nerven, die Aufregung vor der Veränderung. Nanna, wir sind keine Kinder mehr, wir sind fast volljährig und unser Leben ändert sich von Grund auf. Natürlich spielt da die Psyche verrückt, das haben wir doch ausführlich besprochen."
„Ja, aber bei mir ist es anders, Saraya, du weißt, dass etwas nicht mit mir stimmt. Du weißt es, sei ehrlich. Ich gehe kaputt, wenn ich nicht endlich etwas unternehme. Hier in Pueriton ist die Welt einigermaßen behütet, aber du weißt genau, dass es härter wird. Wir MÜSSEN heiraten, jemanden, den wir nicht kennen, wir MÜSSEN Kinder bekommen, all das, ich ..."
Saraya spielte mit Nannas Haaren, starrte gedankenverloren auf ihre Hände und zuckte mit den Schultern. „In einem Jahr komme ich doch nach. Dann wird alles wieder gut und wir schwärmen von unserem neuen Leben und unseren Männern. Vielleicht wird diese Zeit wunderschön! Versuch doch mal, dich darauf zu freuen!" Nun klang sie beinahe verzweifelt. Natürlich wusste sie, dass Nanna recht hatte, aber sie wollte es nicht akzeptieren.
„Ich muss mir etwas einfallen lassen, aber mach dir keine Sorgen, ich verhalte mich ruhig und ich werde versuchen, tapfer zu sein. Bitte, mach dir keine Sorgen um mich!"
„Ich versuche es. Aber was hast du vor? Sag mir bitte alles, du musst keine Rücksicht auf mich nehmen, ich mache mir mehr Sorgen, wenn du mir nichts erzählst. Also, bitte!"
Nanna hatte einen Entschluss gefasst, in genau diesen Minuten. Sie musste Elysion verlassen. Die Härte dieser Wahrheit tat weh. Ihr blieben drei Wochen. Wenn sie erst mal bei ihrem Mann wäre, würde es von Tag zu Tag schwieriger werden. Und wenn sie ein Kind unter dem Herzen trüge, gäbe es kein Entrinnen mehr, denn dann zählte nur noch das Kind und nicht mehr sie selbst.
„Ich werde Elysion verlassen!"
Saraya fehlten zum ersten Mal in ihrem gemeinsamen Leben die Worte. Ihre Mimik war so sonderbar, dass Nanna fast schmunzeln musste, wenn die Erschöpfung nicht so groß gewesen wäre.
„Du bist komplett verrückt!", murmelte Saraya.
„Ich weiß, aber ich war noch nie zuvor so klar bei Verstand. Es ist, als wäre es schon immer mein Plan gewesen. Ich hab mich nur nicht getraut, es mir einzugestehen. Bitte, Saraya, es tut mir so unendlich leid, dass ich dich damit belaste, ich bin eine grottenschlechte Freundin."
Nun erwachte der kleine Feuerdrache wieder zum Leben. Sie sprang auf und schnappte sich einen Schokoriegel. „So ein Blödsinn, jetzt hör aber auf, du bist die beste Freundin, die man sich nur wünschen kann. Jetzt lass uns erst mal abwarten, ich weiß auch ehrlich gesagt nicht, wie du dir das vorstellst. Es gibt nichts da draußen, außerhalb von Elysion, wo willst du denn hin? Nanna, ich unterstütze dich in allem, was du tust, aber das ist eine Sache, die einfach rein logisch nicht möglich ist. Oder hab ich da irgendwas verpasst?"
„Meine Vision hat mir gezeigt, dass der Mythos der Profillosen wahr sein kann. Ich bin mir sicher, dass ein Leben außerhalb von Elysion möglich ist und ich fühle, dass mein Weg dorthin führt."
Tränen sammelten sich in Sarayas Augen. Das Grün ging unter und schimmerte wie Glas, Nannas Brust zog sich zusammen und auch sie fühlte Tränen aufsteigen. Wie sehr wünschtes sie sich, dass Sarayas Zukunftspläne wahr würden, aber das war nicht möglich. Sie wusste es einfach. »Nanna, ich glaube, dass das Leben auf dem Mars nicht schlecht sein wird, hab doch Vertrauen. Warum sollte unsere Kolonie war Schlechtes wollen? Warum? Wir sind doch eine Einheit? Das ergibt keinen Sinn. Vielleicht findet das alles nur in deinem Kopf statt. Vielleicht wurde irgendetwas falsch gemacht, bei deiner Erziehung. Rede doch noch mal mit Marius darüber, er wird dich sicher beruhigen können. Ihm kannst du doch vertrauen. Er war immer für dich da.«
»Ich bin so furchtbar verwirrt und doch weiß ich das ganz sicher. Mein Weg ist ein anderer. Ich kann es nicht erklären, aber vielleicht werde ich es irgendwann verstehen. Wir wissen so wenig über unsere Welt, das kann nicht richtig sein. Wir werden von unseren Eltern getrennt, werden von Robotern erzogen, dürfen Elysion nicht verlassen und keiner erzählt uns, was uns als Erwachsene dort oben auf dem Mars erwartet. Wir kennen niemanden aus der Kolonie, keiner nimmt Kontakt zu uns auf. Wieso? Wenn es nichts zu verbergen gibt, dann können sie doch mit uns kommunizieren, sich uns zeigen, mit uns sprechen, oder nicht?
Und was, wenn ich nicht mit meinem Mann zusammenleben will, wenn ich keine Kinder bekomme? Was geschieht dann mit mir? Keiner spricht mit uns darüber. Uns wird nur gesagt, was normal ist, wie es ablaufen soll. Heiraten, Kinder bekommen, und dann zur Kolonie auf den Mars. Und dann? Was ist dort oben? All das fühlt sich für mich einfach nur falsch an. Falsch und bedrohlich. Ich fühle, als würde ich innerlich zu Eis erstarren. Vor Angst. Ich werde die nächsten fünf Jahre mit einem Mann verbringen müssen, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Ich habe überhaupt noch nie zuvor einen Mann gesehen. Das ist verrückt. Ich muss Kinder bekommen, aber ich bin doch selbst noch eins. Ich will noch nicht erwachsen werden. Ich will hier bei dir bleiben. Warum wird uns nicht mehr über unsere Zukunft erklärt, dann wäre ich vielleicht beruhigter. Aber diese Ungewissheit ...«
Saraya wischte sich die Tränen von der Wange und dann auch Nannas. Sie sagte nichts mehr, schloss Nanna einfach nur in ihre Arme und drückte sie ganz fest an sich.
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