Marius' Geheimnis
Innerhalb weniger Sekunden waren Sarayas Worte wieder verständliche Sätze und keine lose umherflatternden Buchstaben. Ihr Anblick ließ Nannas Herz schmelzen wie Schokolade in der Sonne. Sie fühlte sich in ihre Kindheit zurückversetzt, denn Sarayas zerzaustes Haar, ihre vom Schlaf verklebten Augen und die roten Wangen befreiten längst verschüttete Erinnerungen. Wenn sie einen Wunsch frei hätte, würde sie diesen Moment einfrieren, schockfrosten und für immer festhalten.
„Hey, Feuerdrache, wie geht's dir?", fragte Nanna und ihre Stimme zitterte. Die blauen Wellen des Nachtlichtes schienen ihre Worte hinfort zu tragen, denn für einen Augenblick wusste sie nicht, ob sie tatsächlich gesprochen oder nur gedacht hatte.
Doch Saraya antwortete kurz darauf. „Ich vermiss dich natürlich und ich langweile mich zu Tode. Und ich hab nur noch Jungs im Kopf", stöhnte sie und legte den Kopf in den Nacken.
„Natürlich, das hätt ich mir denken können", sagte Nanna und zwinkerte ihr zu, „aber glaub mir, du erwartest dir zu viel."
„Los, erzähl mir was von deinem Mann! Habt ihr schon ...?"
Nanna verdrehte die Augen. „Sari, bitte, verschone mich", rief sie aus. Warum waren alle so scharf drauf, zu wissen, wann und wie sie ihre Unschuld verlieren würde? Genau das war es, was dieses ganze Dilemma mit sich brachte. Dieses leidige Fortpflanzungsthema, das einen Menschen als würdig oder unwürdig deklarierte.
„Hör zu, du erfährst es, sobald es so weit ist, ich verspreche es dir. Aber ich hab nicht viel Zeit, mein Android hat schon Verdacht geschöpft und Levi hat mich gestern erwischt, als ich zurückgewandelt bin."
Saraya schlug sich die Hand vor den Mund und ihre giftgrünen Pupillen schwebten wie Perlen in ihren Augen. „Shit!", sagte sie nur. „Und jetzt?"
„Nichts! Bisher hat niemand was gesagt, aber ich bin mir sicher, dass es bald gefährlich für mich wird."
„Marius will mit dir sprechen. Ich soll ihn sofort holen, wenn du kommst ... also, ich sag ihm mal Bescheid." Saraya aktivierte ihren Chip und sprach eine Nachricht an Marius. Der grüne Lichtkegel des Holograms hüllte sie ein. Wie eifrig sie war, Nannas Herz schwappte über wie ein Teller voll Milchsuppe.
„Er wird gleich hier sein", sagte Saraya. Ihre Stimme bröckelte für einen Moment. Einige kleine Steinchen lösten sich, doch es brachte sie nicht zum Einstürzen. Sie presste die Lippen fest aufeinander. Dann blickte sie Nanna an. Ihre Augen glühten wie Lava.
„Mit Marius stimmt was nicht. Die anderen sind misstrauisch."
„Wie meinst du das?" Über Nanna platzte die Wolke auf. Es traf sie völlig unvorbereitet.
„Er ist nicht bei der Sache, er grübelt und ist unkonzentriert. Er ist ... einfach zu menschlich", flüsterte Saraya mit vorgehaltener Hand. „Irgendwas stimmt da nicht, aber ich wage nicht, es anzusprechen."
Nun schnappten vergangene Zweifel hervor. Nanna wurde heiß und kalt, sie schwitzte und fror und Bilder huschten in ihrem Inneren umher wie Ratten.
Ein zu langer Blick von Marius. Seine Hand auf ihrem Arm. Seine seltsamen Andeutungen, das Knistern in der Luft. Ja, in der Tat, etwas stimmte definitiv nicht mit ihm.
„Was hast du ihm erzählt?", fragte Nanna.
„Die Wahrheit."
„Und die wäre?"
„Dass es dir dreckig geht und dass du vorhast, zu fliehen. Deine Vision, und dass ich mir Sorgen mache." Saraya seufzte und fiel in sich zusammen wie ein Haufen Lumpen.
„Ist schon okay, mach dir keinen Stress."
Saraya blickte auf, holte tief Luft und ließ die Schultern dann hängen. „Ich wünschte, du könntest durchhalten, bis ich komme."
„Aber wir würden uns höchstwahrscheinlich gar nicht oft sehen. Jeder hat seine eigene Wohnung. Da kommst du so gut wie nie heraus."
Saraya nickte zögerlich. Plötzlich wirkte sie gar nicht so tapfer und wild wie sonst. Sie hockte in ihren Kissen wie ein kleines Mädchen. Vielleicht begriff sie erst in diesem Moment, dass ihre Kindheit vorbei war. Sie versuchte, sich an sie zu klammern, doch musste sich eingestehen, dass es zwecklos war. Die Kindheit trieb hinfort wie ein Papierschiff. Dem Untergang geweiht.
Dann ertönte ein Surren − die Tür - und Marius trat herein.
Als Nanna ihn erblickte, schwappte eine Welle der Zuneigung über sie hinweg. Marius bedeutete Heimat, Vertrauen, Kindheit, Unbeschwertheit. All die Dinge, die Nanna entrissen worden sind. Tränen stiegen ihr in die Augen und sie schnappte nach Luft. Sie liebte diesen Androiden, das wurde ihr in diesem Moment bewusst, auf eine ganz besondere Art und Weise. Eine Liebe wie für eine Vollmondnacht, wenn das silberne Licht die Schatten der Erde verdeckte. Eine allumfassende Liebe für das Gute um sie herum. Doch woher kamen all die Gefühle? Wieso diese Zuneigung für eine Maschine ohne Herz und Seele?
Marius kam auf Nanna zugelaufen und nahm sie in die Arme, er wollte sie gar nicht mehr loslassen. „Wie gut, dass du hier bist!", flüsterte er in ihr Ohr und es klang wie die Stimme eines Menschen. Wie konnte er nicht menschlich sein, wenn doch sein gesamtes Wesen darauf hindeutete?
Nanna schluchzte. Sie blickte Marius ins Gesicht, als er sie von sich löste. Er hielt sie an den Armen und lächelte. In diesem Moment sah er wunderschön aus. Ja, wie ein Gemälde, perfekt und makellos. Seine Augen reflektierten das blaue Licht und bargen tiefe Abgründe, die es so gar nicht geben konnte.
„Warum weinst du? Hör auf damit, bitte!", flüsterte Marius.
Nanna wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und plötzlich stand Saraya neben ihnen. „Hey, da hat aber jemand Sehnsucht", sagte Saraya und zwinkerte den beiden zu. Dann deutete sie den beiden, sich zu setzen.
Alle drei nahmen auf Sarayas Bett Platz. Im Schneidersitz saßen sie im Kreis und schwiegen einander an. Die Wellen der Unterwasserwelt schwappten über ihre Körper hinweg und gaben der Situation etwas Traumhaftes.
„Ich hab nicht viel Zeit. Letztens wurde ich beinahe erwischt", sagte Nanna. Die Unruhe kroch ihren Rücken empor und sie fröstelte.
„Wie geht es dir? Behandelt er dich gut?", fragte Marius und ein Lauern lag in seinem Blick.
„Ja, ist schon okay."
„Ich würde ihm mal ordentlich einheizen, damit er dir zu Füßen liegt", presste Saraya heraus. Nanna seufzte, doch konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Nanna. Es ist an der Zeit, dass du es erfährst. Saraya, es gibt da etwas, was nicht leicht zu ertragen ist. Kannst du diese Geschichte, die ich erzählen werde, für dich behalten? Es geht um unser aller Leben! Verstehst du das?"
Saraya schluckte, schwieg und nickte bloß. Sie hob zwei Finger, die sie wortlos auf ihr Herz legte.
Marius nickte. Nanna gefror zu Eis. Plötzlich schwappten Gefühle über sie, die ihr Angst machten. Sie wusste, es würde schlimm werden und sie ahnte etwas, was sie nicht in Worte fassen konnte. Alles floss in sich zusammen, alle Ereignisse, Fragen, Sorgen und Zweifel bildeten Flüsse, die alle in einen See mündeten. Der See der Wahrheit. Der See der Erkenntnis.
Und Marius war der Schlüssel. Der Junge auf dem Hügel war der Schlüssel. Ihre Eltern? Und sie selbst.
„Du hast wenig Zeit, sie rinnt durch deine Finger. Du musst jetzt ganz stark sein. Bist du bereit?", flüsterte Marius.
Nanna nickte und Saraya griff nach ihrer Hand. Sie hielt sie fest in ihren eigenen und gab ihr somit etwas von ihrer Stärke ab. Nie zuvor waren sie einander so nah gewesen, obwohl ihr richtiger Körper gar nicht anwesend war. Doch ihr Geist war zu hundert Prozent hier in ihrer manifestierten Kopie.
„Nanna, es ist an der Zeit, der Mond wird in wenigen Tagen über dem Hügel stehen. Voll und so groß wie an jenem Tage deiner Geburt. Du musst dorthin, wo dein Bruder einst verschwand ..." Die letzten Worte waren kaum zu verstehen.
„Mein was?"
„Dein Bruder. Das erste Kind deiner Eltern."
Und dann brachen sämtliche Emotionen und Bilder über Nanna herein, doch nichts davon konnte sie festhalten. Ihr wurde schwindelig, sie sah Gesichter. Unbekannte Gesichter und doch schmerzlich vertraut. Hände, die nach ihr griffen, Tränen und Wärme, Kälte und Schreie. Nanna fiel, doch Saraya hielt sie fest. Als wären beide miteinander verwurzelt. Untrennbar.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top