Levis Geheimnis
Es gab Kaffee und einen Good-Morning-Energy-Mix. Es beinhaltete alle wichtigen Vitamine und Mineralstoffe in Form einer cremigen Masse. Nanna kannte es von Pueriton - hierbei gab es also keine spektakuläre Neuheit. Zum Knabbern gab es Gemüsesticks und Nüsse.
Levi und Nanna aßen und tranken, während Hendrik den Plan erklärte. Er projizierte ihn über den interaktiven Tisch, so konnten Levi und Nanna den Plan jederzeit wieder dort aufrufen.
„Nach dem Frühstück geht ihr in den Fitness-Raum, jeder hat seinen Bereich. Ihr aktiviert eure individuellen Assistenten mithilfe von Schaltflächen auf dem Boden."
Nanna kostete den Brei. Er schmeckte nach Beeren und Vanille. Die Aromen waren gut gewählt. Sie ließ sich die Creme auf der Zunge zergehen und versuchte, das Frühstück zu genießen.
Der warme Kaffee schenkte ihr Harmonie, die sich in ihrem Inneren ausbreitete, und sie konnte ihre Sorgen für diesen einen Augenblick vergessen. Sie schielte zu Levi hinüber. Er griff gerade nach der Tasse. Der Dampf hüllte sein Gesicht in Nebel.
Sie wollte es sich zwar nicht eingestehen, aber sein Erscheinen löste eine Reaktion in ihrer Brust aus. Noch konnte sie diese Emotion nicht deuten, sie war ein Gemisch aus Furcht und Faszination. Und da war noch etwas, etwas, was ihr Herz zum Stolpern brachte: Neugierde.
„Nach dem Sport steht Wellness auf dem Programm. Ihr bekommt Roboter zugeteilt, die euch zu dem jeweiligen Bereich führen. Dieser liegt in einem Nebenraum im Badezimmer."
Wellness hörte sich verlockend an. In Pueriton gab es nur die Dusche und einmal die Woche eine Massage. Jeden Tag ein Wellnessprogramm? Kaum zu glauben.
„Danach bekommt ihr Mittagessen, dann folgt Mittagsruhe in eurer Lounge. Ihr könnt dort etwas abschalten, etwas trinken, euch unterhalten oder fernsehen. Danach bekommt ihr Besuch. Es findet ein Austausch unter Euresgleichen statt. Das ist wichtig für eure psychische Gesundheit. Jeder nutzt dafür die vorgesehenen Besucherräume. Sie befinden sich außerhalb eures Wohnbereiches. Ihr werdet von mir dort hinbegleitet."
Das hörte sich jetzt doch interessant an. Rausgehen, wenn auch nur aus ihrem Zimmer, echte, lebende Menschen treffen. Nanna spürte ein Kribbeln in den Nervenbahnen. Sie malte sich Saraya aus, die ihr gegenübersitzt. Ihre wilde Lockenmähne, die grünen funkelnden Augen und ihr lebhaftes Lächeln, ihr echtes, menschliches Lächeln. Wie sie das vermisste. Vielleicht würde Nanna Glück haben und eine wie Saraya treffen.
„Am Nachmittag ist Arbeitszeit. Ihr werdet Aufgaben erledigen müssen, digital und hier im Zimmer. Es dient der Allgemeinheit und der geistigen Fitness." Hendrik setzte ein Lächeln auf, das bei Nanna den Eindruck erweckte, er würde sich bei diesen Worten über die menschliche Intelligenz amüsieren. Sollte er doch, dafür würde er niemals erfahren, was es hieße, zu fühlen. Nanna schenkte ihm ihr herzlichstes Lächeln und er schien einen Moment verwirrt.
„Wo war ich stehengeblieben ...?", überlegte er und starrte Nanna weiterhin an. „Ach ja, danach nochmal Fitness, Abendessen und dann", er blickte von Levi zu Nanna. Seine Stimme fiel einige Lagen nach unten, „Zeit zu zweit für euch beide."
Nanna stockte der Atem und sie verschluckte sich. Levi grummelte unverständliche Worte und Hendrik klatschte in die Hände. „Ich habe schon gemerkt, dass ihr beide eine harte Nuss seid, aber keine Sorge. Wir haben bisher noch jede geknackt. Mal mit mehr, mal mit weniger Hilfe."
Nanna schluckte. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie diese Hilfe aussehen würde. Sie trank einen langen, tiefen Schluck Kaffee, obwohl die Tasse schon so gut wie leer war. Levi schaufelte den Rest seines Breis in sich hinein und sagte kein Wort.
„Alles klar, habt ihr noch Fragen?"
Schweigen.
„Ein Zuckerschlecken also, hier bei uns, wenn ihr schön brav mitmacht." Hendrik zwinkerte Nanna zu. „Ich hol euch nach der Mittagsruhe ab." Er machte sich auf, verließ den Speiseraum und ließ die Stille zurück. Der Plan leuchtete Nanna vom Tisch heraus entgegen. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen.
Sie deaktivierte das Tablet und räumte ihr Geschirr zusammen, stellte es in den dafür vorgesehenen Behälter. Dann erhob sie sich. Auf in den Fitness Raum! Sie freute sich, etwas tun zu können, sich abzulenken.
Levi ließ sie links liegen, er badete noch in seinem Selbstmitleid. Es floss aus ihm heraus und verteilte sich überall auf dem Boden. Nanna machte sich daran, der giftigen Masse zu entfliehen.
Nanna war tatsächlich einige Minuten eingedöst. Der Sport, Wellness und das Mittagessen hatten ihren Teil dazu beigetragen, und natürlich die schlaflose Nacht zuvor. Das Fleisch und Gemüse kitzelten noch immer ihren Gaumen. Die Überraschung war ihnen gelungen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Nanna echtes Fleisch gegessen. Es wurde hier gezüchtet und bestand aus echten Zellen. Unglaublich, dass sie dieses kostbare Gut hier serviert bekamen. Was würde sie noch erwarten? Welche Geheimnisse lagen hier begraben?
Nanna räkelte sich. Sie lauschte der Klaviermusik, hörte Geräusche von Levi. Hatte er auch geschlafen? Sie blinzelte ins Licht. Die Sonnenstrahlen fielen von der Decke auf sie herab. Der Moment war so angenehm, dass Nanna ihn am liebsten einfrieren würde. Doch sie wusste, dass die schönen Augenblicke so selten wie Sternschnuppen waren. Und festhalten konnte man diese nicht.
Sie drehte den Kopf und sah ihn dort sitzen. Er war in sein Hologramm vertieft. Eine tiefe Falte durchfurchte seine Stirn. Strähnen verdeckten die Hälfte seines Gesichts. Neben ihm stand eine Flasche Sprito - er trank also schon jetzt am Tag. War das überhaupt erlaubt? Der Fridge war voll von allen möglichen Getränken und Hendrik hatte nicht erwähnt, dass Alkohol nur zu bestimmten Anlässen getrunken werden durfte. Wenn sie sich recht erinnerte, befand sich in Sprito sogar dieses Pulver, das man bekam, wenn der Kopf zu ruhelos war, so, dass es auffiel. Nannas Kopf ruhte nie und eigentlich bräuchte sie jede Menge dieser Pillen und Pulver, die die Ärzte verschrieben. Aber sie wollte diese Mittel nicht in ihrem Körper haben.
„Was starrst du mich so an?", durchbrach Levi die Stille. Er drehte den Kopf und seine Augen waren ruhig, trotz der scharfen Worte.
„Sorry, war nur in Gedanken", murmelte Nanna.
„Ich bin schon ziemlich interessant, ich weiß", sagte Levi und zwinkerte Nanna zu. Sie runzelte die Stirn und wandte sich der Sonne zu. Sie schloss ihre Augen. „Gut geschlafen? Du hast übrigens geschnarcht."
Nanna zuckte zusammen. „Das glaub ich dir nicht", presste sie hervor. Wie kann er sowas sagen? Sie schnarchte doch nicht, was für ein Blödsinn.
Levi lachte und ließ seine Hände sinken. Das Hologramm verschwand. „Wie war es bei euch in Pueriton? Wie war euer Leben dort?" Er klang ehrlich interessiert. Dieser Typ verwirrte sie. Er wechselte sein Verhalten wie die Musik ihre Töne. Aber sie ließ sich darauf ein. Der Schlaf hatte ihr neue Energie geschenkt.
„Ja, wie schon gesagt, wir mussten viel lernen. Einmal am Tag hatten wir Sport und Spiele, am Abend Musik und Kunst. Alle zehn Tage waren wir draußen im Dschungel und lernten die Pflanzen- und Tierwelt kennen. Wir haben dann auch draußen übernachtet, unter freiem Himmel, das habe ich geliebt. Alle dreihundert Tage gab es ein Fest. Das war natürlich das Highlight, es fand auch im Dschungel statt, mit leckerem Essen, bunten Lichtern und Tanz und Musik. Ich hatte eine wunderbare Zeit mit meiner Zimmergenossin, Saraya, wir hatten viele Freiheiten. Mehr als hier, denke ich. Und die Androiden waren ... menschlicher irgendwie. Und bei euch?"
„Wir sollten zu Männern werden", schoss Levi hervor. Bitterkeit trat aus, er stockte. „Wir haben gelernt, dass das Leben hart ist und mussten noch härter werden. Ich denke, Mädchensein ist einfacher!"
„Was musstet ihr tun?" Nanna war ehrlich interessiert. Was bedeutete es, hart zu sein?
Levi schwieg einen Moment zu lang. Er schien mit sich zu ringen. Die Stimmung veränderte sich, eine Schwere schlich sich unter die sonst so klare Raumluft. Die Staubpartikel knisterten unter der Spannung.
Nanna sah plötzlich einen ganz anderen Menschen vor sich. Sie erkannte in ihm den kleinen Jungen, der er einst gewesen sein musste und sie sah noch etwas, was ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er musste Schlimmes erlebt haben. Seine Gestalt fiel in sich zusammen wie ein Häufchen Asche. Er starrte mit trüben Augen ins Leere, seine Erinnerungen konnten keine angenehmen sein und Nanna verspürte das dringende Bedürfnis, Levi in den Arm zu nehmen.
Doch so plötzlich wie sein Inneres Kind erschienen war, so schnell war es wieder unter die Oberfläche gestürzt. Es zog sich die Decke über den Kopf. Diese Decke war keine wirkliche Decke, sondern die Härte, von der er gesprochen hatte. Seine Mauer. So war es ihm beigebracht worden und so würde er es immer tun.
Er drehte den Kopf schwerfällig zu Nanna und flüsterte: „Ich erspare dir die Details. Das ist nichts für kleine Mädchen." Seine Worte klangen so, wie sie klingen sollten: emotionslos, kalt und hart.
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