Hendrik
Die Wirkung des Alkohols verwirrte Nanna. Er tunkte sie noch tiefer in die geistige Welt der Gedanken und Gefühle. Das Drumherum rückte weit weg und doch nahm sie ihre Umgebung wie durch ein Fernrohr deutlich wahr.
Ein Android, der Nanna als Hendrik vorgestellt wurde, blinzelte ihr zu und lächelte wie ein Verbündeter, als er ihr und ihrem Mann die Zimmertür öffnete. „Ihr könnt euch nun in aller Ruhe beschnuppern." Er blickte Nanna verschwörerisch an und erklärte dann weiter: „Getränke und Essen habt ihr zur Genüge, wenn ihr etwas benötigt, einfach Bescheid geben. Es sind überall Call‑Dots integriert. Ihr aktiviert sie, indem ihr zweimal klatscht. Alle weiteren Dienste wie Lichtregler, Musik oder Special‑Effects aktiviert ihr mit einmal Klatschen. Noch Fragen?"
Nanna konnte immer noch nicht glauben, was sich hier gerade abspielte. Sie sah den Roboter wie durch einen Screen, es fühlte sich einfach nicht real an. Doch was war schon real? Diese Welt sicherlich nicht. Das Universum vielleicht und die Welt außerhalb Elysions, die sie nicht kennenlernen durfte. Die Realität bedeutete Chaos, Fehlerhaftes, Unordnung, Vergänglichkeit − diese Dinge gehörten zur Realität.
„Alles in Ordnung, Nanna?" Nanna blinzelte den Roboter an. Sie nickte zaghaft.
„Ich bin einfach etwas überwältigt von Maternita. Ich habe es mir nicht so ... es ist beeindruckend." Etwas vorspielen, das erschien ihr in dieser Situation am besten. Einfach so tun, als fände sie diese Welt gigantisch, als wäre sie dankbar.
„Ist wohl der Alkohol", sagte der Mann neben ihr und lachte. Es klang abwertend. Als wäre Nannas Verhalten nur dadurch zu erklären. Hendrik stimmte in sein Lachen mit ein.
„Gut, dass ich solche Probleme niemals haben werde", sagte der Android und erhob sich noch ein Stück weiter über Nanna.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, ihr Herz schlug ihr dabei bis zum Hals und sie dachte, dass es jeder sehen musste, wie ihre Halsschlagader pochte und sich der Stoff über ihrer Brust hob und senkte. „Mir geht es blendend, ich freue mich einfach nur auf mein neues Leben." Sie würdigte ihrem zukünftigen Lebenspartner keines Blickes, sondern fixierte den riesigen Oktopus auf dem Bild an der Wand. Die Blau- und Violetttöne schimmerten außerirdisch und seine Tentakel bewegten sich. Sie schienen nach ihr greifen zu wollen. Sie mit in seine surreale Welt hinabzuziehen. Das Gefühl, das sie beschlich, versetzte sie zurück in die Situation am Anfang der Hochzeit. Als sie dort oben stand, vor den Augen aller Anwesenden. „Es ist einfach wunderschön hier ...", log sie weiter.
„Das ist es in der Tat. Du wirst dein neues Leben hier in vollen Zügen genießen, so viel ist gewiss", säuselte Hendrik und sie traten in den Wohnbereich. Das Zimmer war groß, gigantisch, im Gegensatz zu Sarayas und Nannas Zimmer. Aber so leblos, unpersönlich und furchtbar perfekt. Nanna hatte ihr altes Zuhause vor Augen und ihre Kehle wurde trocken. Sie schluckte. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und ein Fünkchen Hoffnung kehrte zurück. Die Decke war eine Glaskuppel. Nanna konnte die Sterne sehen - und ihren geliebten Mond.
„Das gefällt dir, hab ich recht?", flüsterte ihr Hendrik ins Ohr und Nanna zuckte zusammen. Doch sie lächelte.
„Ja, ich liebe den Mond, er wird mich an mein Zuhause erinnern." Sie senkte den Kopf wieder und ihr Blick blieb an den Blumen und Pflanzen hängen, die zahlreich im Raum verteilt waren. Prächtige lilafarbene Orchideen, weiße und gelbe Lilien und jede Menge Palmen, Kräuter und Obstpflänzchen. Sie fühlte sich wie in einem Gewächshaus und das gefiel ihr, auch wenn es kein Vergleich zu dem Dschungel dort draußen war.
„Du liebst auch die Pflanzen, nicht wahr?", stellte Hendrik weiter fest und rieb sich die Hände. Er kannte seine Schützlinge genau. Was für eine Frage.
„Ja, in Pueriton hatten wir nur im Gesellschaftsraum ein paar wenige. Aber das hier ... es ist überwältigend." Dieses Mal hatte sie nicht gelogen. Es beeindruckte sie wirklich.
Der Mann − IHR Mann − interessierte sich mehr für die Fitnessecke im Nebenzimmer. Nanna warf nur einen kurzen Blick auf das Studio mit Sportgeräten und Wellness-Bereich.
Sie musste zugeben, dass es ihr hier an nichts fehlen würde. Sie konnte hier selber kochen, wenn sie wollte. Das Badezimmer war so groß wie ihr gesamtes früheres Zimmer und es gab jede Menge Möglichkeiten, sich zu entfalten. Aber trotzdem hielt Nanna an ihrem Entschluss fest. Sie wollte all das nicht. Ein unsichtbares Band zog sie an den Ort, an dem ihr dieser Junge erschienen war. Seine Augen bereiteten ihr noch immer Gänsehaut. Der Berg war von Bedeutung, das wusste sie. Und Marius hatte ihre Vermutung bestätigt, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie musste etwas tun, bevor ihre Chance zerplatzte wie eine Seifenblase.
Nachdem sie jeden Winkel des neuen Zuhauses begutachtet hatten, forderte Hendrik die beiden auf, sich zu setzen. Die Lounge bot Platz für mindestens sechs Personen. Weiße Kunststoffmöbel mit allerlei technischem Schnickschnack. Auf dem Tisch standen Cocktails und Knabbereien.
Nanna fühlte sich noch immer so fehl am Platz wie ein Eisbär im Dschungel. Sie setzte sich, als wäre das Sofa aus Gold. Traute sich kaum, sich zu bewegen und die Blicke ihres Mannes - sie kannte noch nicht einmal seinen Namen - bohrten sich in ihr Herz.
Nanna betrachtete den Teppich. Das Muster war wunderschön. Es erinnerte sie an den Dschungel. Weiche Linien und bunte Farben. Lebendig und chaotisch. Beruhigend. Sie spürte, wie sich ihre Gedanken verselbstständigten. Könnte sie Saraya noch heute Nacht im Traum begegnen? Mithilfe des Dreamwalkers wäre es theoretisch möglich. Doch was, wenn ihr Mann zu aufmerksam wäre? Es durfte schließlich niemand davon erfahren, sie hatte es Marius versprochen, auch wenn sie nicht genau verstand, wieso.
„Ab morgen bekommt ihr einen Plan. Jeder Tag ist für euch organisiert. Außerhalb dieses Zimmers habt ihr nichts verloren. Im anderen Teil des Gebäudes sind die Eltern mit Kindern untergebracht und im Seitenflügel der Anbau unserer Lebensmittel. Hier in diesem Bereich gibt es nur die Living−Rooms. Ihr trefft euch alle zweimal im Jahr im Versammlungsraum zur Zeremonie, wenn neue Paare gebildet werden. So wie heute.
Der Rhythmus ist Folgender: sechs Tage Work‑Time‑Day, ein Tag Free‑Time‑Day – da dürft ihr das Gebäude verlassen und einen Spaziergang durch den Dschungel unternehmen, euch kennenlernen und euch voll und ganz auf euch selbst konzentrieren. Dann geht es wieder weiter mit sechs Tagen Work‑Life‑Day und so weiter. Noch Fragen?" Hendrik blickte das junge Paar an. Seine Hände lagen ordentlich auf den Knien. Was wusste er schon von Fragen? Von den wirklich wichtigen Fragen des Lebens. Er war nur eine programmierte Maschine, die Befehle ausführte. Eine seelenlose Kreatur.
Doch was war mit Marius? Er schien keineswegs seelenlos. Konnte es sein, dass Androiden eine Seele entwickeln konnten? Stellten sie irgendwann auf eigene Faust Emotionen her? Nanna fröstelte bei dem Gedanken. Es war einfach zu verrückt.
„Nanna liebt nicht nur den Mond und die Pflanzen, sie träumt wohl auch sehr gerne ...", lästerte Hendrik und lächelt dem Mann zu. „Levi, hast du denn irgendwelche Fragen an mich, bevor ich euch beiden allein lasse?"
Levi hieß er also. Levi. Nanna formte die Buchstaben in Gedanken. Sie mochte den Namen nicht.
„Wie lange werden wir hier sein?", fragte er.
„Maximal fünf Jahre. Wenn bis dahin keine Schwangerschaft vorliegt, müsst ihr euch in eine medizinische Untersuchung begeben.
„Was, wenn man keine Kinder bekommen kann?", platzte es aus Nanna heraus. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Sie war selbst über ihre Worte erschrocken. Doch Hendrik reagierte sachlich.
„Das gibt es nicht, mein Kind. Noch nie ist hier jemand ohne Kind rausgegangen. Wir bekommen alle Probleme geregelt. Mach dir keine Sorgen."
„Und wie läuft die Sache mit der Marsreise?", fragte Levi. Seine Anwesenheit raubte Nanna den Atem. Sie war nicht mehr frei, konnte sich nicht mehr so verhalten, wie sie es bei Saraya getan hatte. Er war eine Gefahr, so fühlte sie jedenfalls. Als streifte sie durch den Dschungel und würde das Grollen eines Raubtieres hören, irgendwo im Gebüsch.
„Sobald ein Kind sieben Jahre alt sind, kommt es nach Pueriton - nach Süd oder Nord, je nachdem, ob es ein Mädchen oder Junge ist. Es wird maximal zwei Jahre gewartet, wenn keine weitere Schwangerschaft folgt, ist die Zeit auf Elysion verwirkt. Ihr gelangt dann durch unser Portal hier im Gebäude zur Zivilisation auf den Mars."
Levi nickte.
„Wie ist das Leben dort oben?", fragte Nanna. Diese Frage brannte ihr schon lang auf der Seele.
„Das kann und darf ich dir leider nicht beantworten."
Stille. Jeder hing seinen Gedanken nach. Dieser Ort war so weit entfernt. Wie sah das Leben dort oben aus? Würde sie ihre Eltern wiedersehen? Was würden dort ihre Aufgaben sein? In frühestens zwölf Jahren würde sie es erfahren. Eine verdammt lange Zeit.
„Wenn nun alles geklärt ist, lass ich euch jetzt allein." Hendrik erhob sich.
Das Paar schwieg. Nanna würde Hendrik am liebsten anflehen, zu bleiben, doch sie saß auf ihrem Platz wie eine Statue.
Levi griff sich ein Glas, trank einen Schluck. „Danke, Hendrik. Und bis morgen."
Dann waren die beiden allein.
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