Gespräche
Nanna zitterte und die Kälte gefror ihre Gedanken zu einer farblosen Schneelandschaft. Sie fühlte das weiche Bett, auf dem sie lag, auch die Masse der Decke spürte sie auf ihrem Körper, doch trotz alledem war ihr eiskalt.
Sie öffnete die Augen, nur einen Spaltbreit, denn selbst diese schienen zugefroren zu sein. Das Schlafzimmer lag im Ozean begraben. Stille Wellen waberten durchs Zimmer und Nanna hörte gleichmäßiges Atmen. Ganz dicht an ihrem Ohr.
Sie wagte nicht, sich zu bewegen und die Erkenntnis, dass alles ruhig war, entspannte sie fürs Erste. Sie bemerkte ihren flachen Atem und sie zwang sich, loszulassen. Sie musste mit einfließen, in den Takt der Nacht, durfte die Choreografie nicht stören.
Sie schloss ihre Augen und allmählich wich die Kälte einer angenehmen Wärme. Nanna spürte, wie sie von einem zum nächsten Muskel sprang und sich so ausbreitete.
Als die Wärme ihre Gedanken benetzte, sie auftaute und Farben darüber goss, flackerten plötzlich Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Der Junge auf dem Hügel, das lachende Gesicht eines Mannes, eine weinende Frau, dazwischen Marius' lebendige Augen und das Wissen, das darin verborgen lag wie ein Schatz auf dem Meeresgrund.
Nanna ließ die Bilder fließen, durch ihre Synapsen, hin zu ihrer Seele, die jedes einzelne erkannte. Sie versuchte, all das Erfahrene sacken zu lassen, es sollte ihren eigenen Meeresboden in ihrem Inneren bedecken und dort seinen Platz finden. Es gehörte nun mit zu ihrer Vergangenheit und niemand würde es je entdecken. Nanna schloss all die Bilder und Gefühle in eine Truhe ein. Es wurde zu ihrem Schatz und sie beschloss, ihn zu hüten wie ein Meeresungeheuer.
Nun zählten ausschließlich Marius' Anweisungen. Sie musste jetzt denken und handeln wie eine Maschine. Nun hieß es warten bis zur Vollmondnacht und dann war alles möglich. Sie hatte eine Aufgabe, von der sie noch nichts wusste, die ihr aber schon jetzt Kraft und Energie für alles Folgende gab, egal, wie waghalsig diese Geschichte war. Sie würde es durchziehen, bis zum letzten Atemzug, für ihre tote Mutter, für ihren verschollenen Vater und für ihren Bruder. So ein wundervolles Wort, so neu und unbenutzt.
Nanna übermannte die Erschöpfung und sie schlief tief mit wirren Träumen, bis der Weckruf sie zurück in die Realität warf. Eine künstliche, falsche Realität. Mit rasendem Herzschlag riss sie die Augen auf und starrte an die Decke. Das Sonnenlicht hatte schon begonnen, dort oben seine Schattenspiele aufzuführen. Still und heimlich. Nur für Nanna allein.
„Guten Morgen", brummelte es neben ihr. Nanna brachte kein Wort hervor, sondern nur einen tiefen Atemzug. Sie erhob sich mechanisch und flüchtete aus dem Zimmer, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, doch nicht aus Arroganz, sondern, um sich sortieren zu können. Sie brauchte einige Minuten für sich allein.
Nanna stürmte ins Bad und sprang sogleich unter die Dusche. Sie ließ sich ihre Verwirrung wie Dreck abwaschen und fühlte sich danach ein wenig befreiter. Sie hatte nun ein Ziel vor Augen, nichts anderes zählte. Sie musste den Tag nur irgendwie überstehen, um dann heute Nacht zu Marius und Saraya wandeln zu können. Sie musste stark sein, durfte sich nicht auffällig verhalten oder Schwäche zeigen. Niemand sollte auf sie aufmerksam werden.
Ihren Augen wohnte ein neuer Glanz inne. Ihr Spiegelbild blickte sie aus veränderter Mimik entgegen. So silbern und feurig zugleich. Tiefschwarz und wild entschlossen funkelten ihre Pupillen und ein Lächeln umspielte ihre blassen Lippen.
Sah sie da etwa einen Hauch von Rosé auf ihren Wangen? Ein leichter, fiebriger Schimmer? Es schien so.
Sie nahm den Kamm in die Hand und mit jedem Bürstenstrich fiel ein Zweifel von ihr ab. Sie schien fest entschlossen, alles zu riskieren. Sie hatte nichts zu verlieren, außer ihre Gefangenschaft, ihre Leere. Nichts, was sie vermissen würde. So trat sie heraus und hinein in den neuen Tag.
Levi saß im Speisesaal, hatte sich schon am unschuldigen Morgen einen Drink gemixt. Es roch scharf und beißend. Nanna musste unwillkürlich die Nase rümpfen. Diese Geste musste auf ihn abweisend wirken, was nicht ihre Absicht war. Sie versuchte sich an einem Lächeln, doch ihre Wangen schienen wie festgefroren. Sie blickten sich in die Augen. Glühende Kohlen trafen auf Mondkristalle. Nanna konnte nicht mehr wegschauen, er schien sie geradezu aufzusaugen. Sie entdeckte so viel in diesem Augenblick. Er war ein Gefangener seiner selbst, da war so etwas wie Bewunderung, Faszination und Stärke in seinem Inneren, doch sogleich zog ein Schleier über seine Pupillen und ein Schatten bedeckte das eben erahnte.
Er riss sich los, fluchte und schüttete sich den Inhalt seines Getränkes in einem Zug in den Rachen, schluckte schwer, verzog das Gesicht und knallte das Glas auf die Anrichte. Nanna zuckte zusammen.
Levi war ein Vulkan. Ruhig brodelte er vor sich hin, sie wusste nicht, ob und wann er explodierte und glühende Lava um sich herum spie. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, er wäre ein kleiner Junge. Verwirrt und auf der Suche nach Halt und Geborgenheit − was Nanna ihm unmöglich geben konnte.
Sie vertraute ihm nicht, auch wenn sie das Bedürfnis schon mehrmals übermannte, ihn in den Arm zu nehmen. Sie wagte es nicht. Seine Verzweiflung im Schlaf, als er sich an sie geklammert hatte wie ein geschlagenes Kind ... Nanna fröstelte.
„Gut geschlafen?", fragte er, als wäre nichts geschehen. Er schenkte sich nach und tippte auf seinem Arm herum. Nun war der Vorhang wieder gefallen, den er kurz geöffnet hatte.
Nanna schlich zu ihrem Platz, setzte sich und aktivierte ihr Tagesprogramm. In leuchtenden Lettern stand Free-Time-Day auf dem Programm. Warum schon heute? Es war doch erst der zweite Tag. Vielleicht zum Kennenlernen, Hendrik würde gleich auftauchen und es ihnen sicherlich erklären.
„Ja, und selbst?", antwortete sie auf Levis Frage, die schon wieder fast zu lange im Raum stand, nicht dass er wieder wütend darüber würde und ihr unterstellte, sie würde ihn ignorieren. Sie spürte seine Nähe. Bedrohlich und beruhigend zugleich. Hatte er etwas von ihrer Wandlung bemerkt? Nichts deutete darauf hin und doch ... irgendetwas stimmte nicht. Der Tag war nicht frei von Schwere, etwas lag in der Luft.
„Albträume, wie immer", presste er hervor. Nanna blickte nicht zu ihm, und doch konnte sie die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen sehen. Er atmete schwer und ein Geruch von Verzweiflung haftete an ihm. „Zeit für eine Pille!", rief er aus, als hätte er gerade etwas gewonnen. Er sprang auf, lief zur Wand, tippte an eine der vielen Berührungspunkte und eine Schublade öffnete sich. „Was nehmen wir denn heute? Blau? Rosa? Grün? Alles derselbe Mist." Er schloss die Schublade und warf sich die Pille ein. Dann kehrte er zurück an seinen Platz und trank einen weiteren Schluck.
„Was sind das für Träume?", wagte sie, zu fragen.
Levi war für einen Moment gelähmt. Damit hatte er anscheinend nicht gerechnet. Er räusperte sich. „Das willst du nicht wissen", murmelte er.
„Doch, sonst würde ich nicht fragen!"
„Wir sollen es vergessen." Er flüsterte mit vorgehaltener Hand.
„Was vergessen?"
„Mädchen, du weißt schon, dass die Wände Ohren haben?" Er hob theatralisch die Arme.
„Du kannst doch wohl deine Träume erzählen, oder?"
„Nein. Ich soll vergessen und ich werde vergessen, wenn die Scheiße hier mal wirkt", sagte er und deutete auf seinen Mund, wohin die Tablette verschwunden war. „Wie war das bei euch? Habt ihr nur Gutes erlebt, ihr Mädchen?"
Nur Gutes? Was bedeutete nur gut? Nanna war seit jeher in ihrem Inneren gefangen, sie fühlte sich stets wie eine Gefangene, war von Sehnsüchten, Visionen und Ängsten geplagt. Ihren Eltern und ihrem Bruder war Furchtbares zugestoßen, doch das wusste sie da ja noch nicht. Nein, gut ging es ihr wohl nur, wenn sie mit Saraya lachte. Nur dann vergaß sie all das. Aber Levi meinte etwas anderes, das wusste Nanna. Etwas Schlechtes, was so schwer wog, dass es einen nicht mehr ruhig schlafen ließ und was nur mit Medizin im Zaum gehalten werden konnte. Ein Monster, das im Inneren wohnte und einen nicht in Ruhe ließ. Nein! So etwas kannte Nanna nicht.
„Es war nicht alles gut, aber nicht so übel, dass es mir den Schlaf raubt oder meine Träume und meine Hoffnung ... ich glaube, ihr wurdet irgendwie ... gebrochen?" Sie blickte zu ihm. Er sah sie ebenfalls an.
„Sie würden es wohl eher abgehärtet nennen. Auf das Leben dort oben vorbereitet, erwachsen und funktionstüchtig gemacht ..." Er sprach fast schon gelangweilt, als wollte er damit verhindern, dass es ihn berührte oder gar seine Verletzlichkeit preisgab. „Aber dabei vergessen sie, dass wir keine Maschinen sind, so wie sie. Noch nicht ..."
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