Gefangen
Vom Mittagessen hatte Nanna nichts angerührt. Carlas Kuchen lag ihr noch immer wie ein Stein im Magen, doch noch viel mehr schmerzte der Verlust ihrer Hoffnung. Die einzige Möglichkeit, zu fliehen, war zerstört. Nanna glich mehr einem Geist als einem Menschen. Sie fühlte weder die Kissen, auf denen sie saß noch Levis Anwesenheit. Sie wusste, er befand sich neben ihr und ahnte von alledem nicht das Geringste. Und doch, Nanna war wie in einer fremden Dimension. Ihr Kopf dröhnte und Ängste raubten ihren Gedanken jeglichen Sinn und Verstand. Sie wollte nur noch ihre Ruhe, schlafen, nichts tun. Jede Bewegung schien bedrohlich, jede Regung eine Qual. Sie war lebendig begraben unter einer Masse aus Ängsten.
Ihr Profil war zurückgesetzt worden, ihre ID auf Zero. Sie war ein Nichts, eine Null, ein Anfang vom Ende. Carlas Lächeln brannte sich in Nannas Bewusstsein, immer und überall stand sie und lächelte dieses tote Lächeln. Sie hatte Nanna alles genommen, ihre Verbindung zu Saraya und Marius, ihre Chance, zu fliehen.
Außerdem hatte Carla ihr den Mut geraubt, die Stärke, ihre Hoffnung. Ein fremder Stoff breitete sich in Nannas Körper aus, sie fühlte, wie er Besitz von ihr nahm, sie seelenlos und gefügig machte. Doch Nanna konnte noch immer ihr Herz spüren, es schlug, es lebte und es fühlte - wenn auch wie durch Watte.
Levi sagte etwas, doch Nanna konnte ihn nicht verstehen. Er packte sie an den Schultern, blickte sie an. Sie blickte zurück, doch sie konnte nichts tun. Nichts hören, nichts sagen. Sie schaukelte wie ein Blatt im Wind, wie ein Tropfen Wasser im tiefen Meer. Sie war ein Nichts, ein Niemand.
Nun würde die Nacht kommen und Marius und Saraya würden vergeblich warten. Sie konnte ihnen nicht einmal Bescheid geben, sie würden sich wahnsinnige Sorgen machen und sich den Kopf zerbrechen. Vielleicht könnte Marius eine Lösung finden, aber nicht, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Wenn ihm irgendjemand auf die Schliche käme, würde er einfach abgeschaltet werden. Das System der Programmierung war gnadenlos, es tolerierte keine Gefährder, Rebellen oder Andersdenkende. Immer für die Gemeinschaft, alles, was das Allgemeinwohl bedrohte, musste beseitigt werden.
Nanna erinnerte sich an Walwin, ein Android, der ab und zu die Regeln außer Acht gelassen hatte, um den Kindern einen Spaß zu ermöglichen. Er hatte einen klitzekleinen Fehler im System - zum Vorteil der Kinder. Wie das möglich gewesen war, konnte Nanna nicht sagen, doch Walwin war einmalig. Sie durften allein durch die Gänge flitzen, sich am Süßkram bedienen, die Bibliothek durchstöbern und geheime Räume inspizieren. Es war fantastisch und Nanna spürte noch heute das Jucken in den Haarspitzen und das Kribbeln in den Fingern, wenn sie an diese kostbaren Momente zurückdachte.
Wo war Walwin eines Tages hin verschwunden? Nanna wusste es nicht, doch sie ahnte es - es gab da diesen Raum, in dem inaktive Androide stumm vor sich hinstarrten wie ein leerer Haufen Kunststoff. Nanna hatte als Kind oft von ihnen geträumt, von den Roboter-Zombies, die eines Tages ausbrechen könnten.
Nanna schrie auf, als etwas Kaltes ihr Gesicht streifte. Eine Hand! Levis Hand. Sie schlug sie weg. Doch als sie in Levis besorgtes Gesicht blickte, murmelte sie eine Entschuldigung.
„Was haben sie nur mit dir gemacht?", murmelte er und sein Blick verfinsterte sich. Tiefe Falten durchzogen seine Stirn und er starrte Nanna an. Dann zog er sie sanft, doch bestimmt, an sich. Sie sträubte sich. Levi aber ließ sie nicht los. „Beruhige dich und dann rede endlich. Das ist unmöglich mitanzusehen, wie du dich quälst", flüsterte er. Seine Stimme war rau und er roch nach Seife und Alkohol. Eine Schwere ging von ihm aus, die Nanna wie ein Magnet ansaugte.
Schließlich lehnte sie sich an ihn und die Nähe dieses Menschen überschwemmte sie mit Zufriedenheit. Für einen Moment konnte sie sich treiben lassen, im Strudel der Zeit, und alles von sich schieben. Doch es waren nur Sekunden. Ein Riss in der Endlosschleife ihrer Existenz. Sie musste denken, fühlen, handeln - immer und für den Rest ihres Daseins. Diese Erkenntnis schürte Panik, engte sie ein. Sie schwitzte, rang nach Luft. Hustete und stieß sich von Levi weg.
„Tut mir leid, ich weiß nicht, was los ist!", stammelte sie.
„Soll ich dir 'nen Drink holen?"
„Ja, bitte!" Noch schlimmer konnte es kaum werden.
„Pillen auch?"
„Nein, lieber nicht."
Levi stand auf und aktivierte den Türöffner des Fridges. Er holte eine Flasche heraus und stellte sie vor Nanna hin. Sie trank und der Nebel, der sich allmählich ausbreitete, half ihr ein wenig. Doch sie wurde müde. Ihre Zunge war wie festgeklebt und es war, als knetete jemand ihre Gedanken wie Teig.
„Ich muss schlafen", murmelte sie und erhob sich. Levi stützte sie. Warum war er auf einmal so fürsorglich? Sie wurde nicht schlau aus ihm und doch war sie in diesem Moment dankbar für seine Hilfe. Denn der Boden tat sich auf und wollte Nanna verschlucken wie ein Tiefseemonster. Sie blickte in den Schlund des Ungeheuers und die Tiefe war erschreckend. Der Grund dort unten war wie ein Sumpf, es gab kein Entkommen.
„Ich habs doch gewusst, dass sie es merken", hörte sie Levi sagen. Seine Wärme an ihrem Arm war das Einzige, was ihr noch real vorkam. Alles andere rundherum war ein pulsierendes Chaos.
Sie murmelte vor sich hin, wollte etwas sagen, doch ihre Zähne klebten aufeinander. „Es ist offensichtlich, dass du was vorhast und dass du nicht ... naja, normal bist."
Sie betraten das Schlafzimmer. Die Dunkelheit und die Stille waren wie Medizin für Nanna. Sogleich aktivierte sich das Schlafprogramm, obwohl es noch heller Tag draußen war, doch das geschah zu jeder Zeit, wenn man diesen Raum betrat.
Klavierklänge ertönten und das Weltall machte sich breit. Planeten kreisten in Nannas Kopf und Fraktale schienen sie verschlingen zu wollen. Sie legte sich hin und igelte sich ein. Fest umschloss sie ihre Beine mit ihren Armen und vergrub das Gesicht an ihren Knien. „Ich muss los. Das Tagesprogramm geht weiter. Du bist freigestellt. Hendrik wird nach dir sehen."
Nanna war alles egal. Sie wollte nur noch in ihrem Kopf verweilen, ihre Gedanken kreisen lassen und ihr Blut rauschen hören. Ohne Sinn und Verstand. Es war alles verloren. Ihre Ziele, Hoffnungen und Träume.
Er streichelte über Nannas Rücken, zupfte an ihrem Haar und flüsterte: „Jetzt, wo ich mich gerade an dich gewöhnt hätte ... schade, haben sie es wieder mal geschafft. Verdammte Schweinebande." Danach wurde Nanna endgültig von der Stille rundherum verschluckt. Sie verweilte in den Sphären ihres eigenen Geistes. War Opfer ihrer Resignation. Sie wollte nicht mehr kämpfen, nicht mehr hoffen und warten. Was zählte, war nur noch die Ruhe, die sie suchte. Die Realität brannte wie Feuer, sie konnte nur überleben, bliebe sie im Mondenschein. Das Licht der Nacht.
Ab und zu spürte sie Levis Hände auf ihrem Rücken. Sie schlug die Augen auf, wenn sie ins Bad geführt wurde - von Androiden - und wenn sie schluckte, trank und aß. Doch das waren nur Augenblicke, die sie wie eine Beobachterin wahrnahm. Die meiste Zeit verbrachte sie in völliger Surrealität. Lachende Gesichter - Mutter und Vater? Der Junge am Portal - ihr Bruder? Saraya mit Tränen in den Augen. Marius, war er enttäuscht und dachte, Nanna käme absichtlich nicht zurück? Hatte auch er alle Hoffnung verloren? Würden sie ihn abschalten, wenn sie erfuhren, was für Pläne geschmiedet wurden? Nanna weinte viele Tränen in diesen Tagen, mehr als sie in sich hatte.
Am sechsten Tag - dem letzten vor der verheißungsvollen Vollmondnacht - erwachte sie aus ihrem Dornröschenschlaf. Sie blickte auf ihren Arm, morgen würden ihre Träume endgültig sterben und in die Tiefe stürzen. Morgen würde ihre letzte Chance auf Veränderung an ihr vorbeiziehen wie die Wolken am Himmel.
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