Free-Time-Day

„Wir schieben heute einen Free-Time-Day ein, damit ihr Zeit habt, euch etwas besser kennenzulernen. Ab dann geht das Programm wieder seinen gewohnten Lauf. Habt ihr Fragen zu dem heutigen Tag?" Hendrik stand an der verglasten Eingangsfront, die aus Maternita herausführte. Er wirkte klein im Vergleich zu der riesigen Halle. Hinter ihm wartete der Dschungel schon auf sie. Palmen und Gräser säumten den Kiesweg, der von Maternita weg in das dichte Grün führte. Nannas Herz klopfte wild vor Aufregung. Ja, sie freute sich auf diesen Tag, auch wenn Levis Gegenwart ihr etwas Bauchschmerzen verursachte. Sie versuchte, sich einzureden, dass es vielleicht ganz unterhaltsam würde.

„Also wir sollen bis zum Einbruch der Dämmerung da draußen bleiben, hab ich das richtig verstanden?", fragte Levi.

„Ja, sobald die Dämmerung eintritt, macht ihr euch auf den Heimweg. Ihr habt das Navigationsprogramm auf eurem Chip vorbereitet. Ihr müsst es nur entsprechend aktivieren."

Nanna kramte nach einer sinnvollen Frage, sie wollte nicht wieder stumm wie ein Fisch hier stehen und Levi damit verärgern. „Wie ist es mit Proviant? Sollen wir uns im Dschungel versorgen?" War das eine dumme Frage? Sie rechnete schon mit einem spöttischen Lächeln. Was auch beiderseits kam.

„Meine liebe Nanna, das hatte ich euch bereits erklärt, das ist dir sicherlich entfallen, nicht wahr? Wir haben ja über die Stationen gesprochen, die ihr abgehen sollt. Dort wartet Verpflegung auf euch, ihr müsst euch also kein Sorgen machen, dass ihr dort draußen verhungern werden. Wir haben wunderschöne, romantische Plätze für euch ausgesucht." Er zwinkerte Nanna zu wie ein Junge, der einen Streich ausgeheckt hat.

„Entschuldige, ich wollte nur noch mal sichergehen, nichts falsch verstanden zu haben. Jetzt fällt es mir auch wieder ein. Danke, dass du es noch mal für mich wiederholt hast."

„Ist schon in Ordnung, es sei dir verziehen, du bist nicht die erste, die wegen all der Aufregung etwas durcheinander ist."

Er blickte zu Levi. „Aber ich bin mir sicher, mit Levi an deiner Seite kann dir nichts passieren, er hat alles im Griff, nicht wahr?"

Levis Mimik verdunkelte sich kaum merklich. Doch wie immer behielt er die Kontrolle. Er nickte und Hendrik drehte sich zufrieden zu dem Tablet an der Eingangstür. Er fuhr mit seiner Hand einmal darüber und lautlos schwang sie auf. Tausend Düfte schwappten über Nanna hinweg und verzauberten die Umgebung in eine Oase der Sinne. Blütenduft und nasse Erde. Ein Hauch von Orangen, Baumrinde und der schwere warme Geruch der Hitze, die sich sofort auf Nannas Körper legte und ihre gefrorenen Glieder lockerte. Ein kurzer Glücksrausch beflügelte sie und es kitzelte in ihren Mundwinkel. Sie spürte Hendriks prüfenden Blick, bevor er den ersten Schritt tat und die beiden herauswinkte.

Levi griff nach Nannas Hand und zog sie an Hendrik vorbei, hinaus ins Paradies. „Viel Spaß, ihr zwei. Genießt die Zeit und tankt ein wenig frische Luft für eure neue Arbeitswoche, ihr werdet es gebrauchen können."

„Danke, vielen Dank", sagte Nanna und lächelte Hendrik im Vorbeigehen zu. Sein tiefer Blick gab ihr noch eine Gänsehaut mit auf den Weg, doch er konnte ihre Stimmung nicht trüben. Sie fühlte sich plötzlich unglaublich stark.

Der Kies und die weiche Erde dazwischen drückten durch ihre dünnen Sandalen und massierten ihre steifen Fußsohlen. Die Geräusche des Dschungels empfingen sie, das Geplapper der Papageien, die Rufe der Kraniche, das Gezwitscher der Kolibris. Nanna tapste hinter Levi her, der ihre Hand inzwischen losgelassen hatte und stur geradeaus marschierte, ohne seinen Blick vom Weg zu heben. Nanna hingegen stolperte mehrmals, weil sie ihren Blick einfach überall außer auf dem Weg hatte. Nach nur kurzer Zeit klebte ihr Kleid an ihrem schweißnassen Körper, obwohl der Stoff ein Hauch von nichts war. Vielleicht bekämen sie die Möglichkeit, zu baden, das wäre ein Traum. Doch dann schob sie diesen Wunsch schnell wieder beiseite, wenn sie an Levi dachte ... außer sie könnte sich beim Baden irgendwie verstecken.

„Wann kommt die erste Station?", fragte sie, um das Schweigen endlich zu brechen.

„Was weiß ich? Ich weiß nicht mehr als du."

„Und woher wissen wir, wo sie sich befindet?"

„Du hättest Hendrik vorher fragen können, Madam."

Es hatte keinen Sinn, seine Laune war miserabel. Genoss er denn gar nicht, hier draußen zu sein? „Naja, wir werden es schon früh genug merken. Der Weg ist ja vorgegeben, also müssen wir nur immer weitergehen." Sie blickte auf das Hologramm, das ihr Chip auf den Boden warf und ihr somit bestätigte, dass sie richtig gingen.

„Hey, ich bin beeindruckt von deiner Scharfsinnigkeit."

„Miesmuschel", murmelte Nanna.

„Das hab ich gehört", sagte er, doch es klang nicht verärgert, eher belustigt.

„Kann ich vorausgehen? Ich habe deinen Rücken nun lang genug angestarrt", fragte Nanna, nachdem sie einige Zeit schweigend im Gänsemarsch gelaufen waren.

Levi blieb stehen, deutete ihr mit einer ausladenden Armbewegung an, vorbeigehen zu dürfen. Er beugte sich leicht nach vorn, in gespielter Demut, als wäre sie eine wichtige Person. „Die Dame ... bitte nach vorn zu treten."

Nanna verkniff sich ein Grinsen und huschte an ihm vorbei. Ein fantastisch freier Blick in den Dschungel empfing sie und sie hüpfte freudig voraus. In einiger Entfernung konnte sie eine Hängebrücke entdecken und sie beschleunigte ihre Schritte. Vielleicht käme schon bald die erste Station. Sie konnte dringend eine Pause vertragen. Das Kleid fühlte sich nun mehr nass als trocken an und mit jedem Schritt erschwerte sich ihre Atmen. Außerdem fühlte sie Levis Blicke in ihrem Rücken, oder womöglich etwas weiter unterhalb. Zusätzliche Hitze stieg ihr in die Wangen und sie wagte nicht, sich umzudrehen.

Als sie die Brücke erreicht hatten, drehte sie sich doch um und blickte in sein unergründliches Gesicht. Seine Augen schimmerten und er begegnete ihrem Blick mit leicht geneigtem Kopf, so als würde er über etwas nachdenken. Das war doch eigentlich ihr Element – das Grübeln und Denken. Sie lächelte ihn an und er runzelte die Stirn nur noch mehr. „Ich vermute, die erste Station ist auf der anderen Seite der Brücke."

„Was treibt dich zu der Annahme?"

„Weibliche Intuition."

„Nie davon gehört ..." Er drängte sich an ihr vorbei, auch er war schweißnass, das war deutlich zu riechen. Schon setzte er den ersten Schritt auf die wankende Brücke. Die Tiefe darunter war beängstigend. Ein reißender Bach rauschte dort unter ihren Füßen hinweg. Hoffentlich war die Brücke auch stabil genug. Nanna schloss dicht hinter Levi auf, nun war sie doch dankbar, dass er dabei war und ihr den Weg ebnete. Ihre Finger umschlossen das hanffaserne Tau, sie klammerte sich fest wie ein Äffchen. Schritt für Schritt kamen sie dem Ende der Brücke näher.

„Da vorne ist die erste Station, glaube ich zumindest. Irgendwas steht da auf alle Fälle", rief Levi ihr über die Schulter hinweg. Er beschleunigte und sie musste sich beeilen, um ihm auf den Fersen zu bleiben. Die Aufregung stieg an, ihr Magen knurrte und ihre Beine schmerzten. Die Pause war dringend nötig und zugleich scheute sie ein Gespräch mit Levi.

Als sie zu ihm aufgeschlossen hatte, entfuhr ihr doch tatsächlich ein langgezogenes „Wooow!!" Ein traumhafter Rastplatz empfing sie und sogar Levi schien für einen Moment sprachlos. Vor ihnen lag eine kleine Bucht, umrandet von üppigen Blumen mit orangenen und pinken Blüten. Drum herum mischte sich Sand, Kies und plattgedrückte Erde. Es roch so intensiv nach diesen Blumen, dass Nanna ganz schwindelig wurde. Die Bäume rundherum ließen ihre Lianen und Äste so weit hängen, dass es wie ein Dach erschien. In einiger Entfernung plätscherte leise ein kleiner Wasserfall vor sich hin. Nanna war im Land ihrer Träume. Diese Bucht war mit so viel Liebe und Details angelegt worden, dass es ihr Tränen in die Augen trieb. Es war nicht die Natur selbst gewesen, sondern Androiden, die das geschaffen hatten, doch in diesem Moment vergaß Nanna diese Tatsache mühelos. Es war einfach nur ein Traum.

„Nicht schlecht, das muss ich zugeben", staunte Levi und bewegte sich auf die Decke zu, die zwischen Farnen und Palmen lag. Sie schimmerte golden und die gelb- und orangefarbenen Muster darauf passten sich der Umgebung perfekt an. Darauf erwartete sie eine einladend gedeckte Tafel. Melonen, Orangen und Kiwis neben Gebäck und jeder Menger unbekannter Dinge.

„Ich habe so Hunger, tut mir leid, aber ich muss zuallererst was essen, auch wenn es unhöflich erscheint." Nanna setzte sich inmitten der Köstlichkeiten und griff ungeniert zu. Sie biss in eine Honigmelone und der samtene Geschmack kitzelte in ihren Wangen. Sie schloss die Augen und genoss das Stück in vollen Zügen. „So viel besser als dieses gesunde Fitness‑Zeug vom Frühstück", murmelte sie und blinzelte in die Sonne, die zwischen den Blättern hervorspitzte. Ein perfekter Tag, sie liebte den Free‑Time‑Day schon jetzt über alles.  

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