Erinnerungen
Das Wasser der Dusche hüllte Nanna ein wie die Umarmung eines geliebten Menschen.
Ihrer Mutter? Ihres Vaters?
Sie konnte sich nicht erinnern, nur schemenhafte Gesichter blitzten manchmal auf. Ein Lächeln, vertraute Blicke, Augen, die sagten: „Ich bin bei dir, für immer!"
Lüge.
Nicht für immer, denn keiner von ihnen hier in Pueriton hatte noch Eltern - zumindest nicht auf diesem Planeten.
Doch niemand schien ein Problem damit zu haben. Natürlich nicht, denn sie besaßen keine Erinnerungen und ihre Emotionen waren zu schwach. Alle, außer Nanna. Sie hatte zwar genauso wenig Erinnerungen, doch umso mehr Träume und Visionen. Und Emotionen zur Genüge. Doch sie behielt diese Wahrheit fest verschlossen, keiner durfte davon erfahren.
Einmal hatte Nanna Saraya gefragt, ob sie ihre Eltern vermisse, ob sie irgendwen vermisse. Saraya hatte nur gelacht. „Nö, wieso?", war die Antwort gewesen. Unbekümmert hatte Saraya auf einer Kakaoschote herumgekaut und mit den Schultern gezuckt. „Ich erinnere mich an gar nichts, warum sollte ich sie vermissen? Du etwa?"
Nanna schluckte die Wahrheit herunter. Die Wahrheit über ihre Sehnsüchte, ihre Wünsche und ihre erbarmungslose Unruhe. Saraya sollte sich nicht um sie sorgen und wenn Nanna all ihre Gedanken aussprechen würde, so bekämen die Gefühle nur noch mehr Gewicht. „Nein, eigentlich nicht, ich frag mich nur manchmal, was sie dort oben so machen, ob sie an mich denken und so ...", sagte Nanna, obwohl sie am liebsten geschrien hätte. Die Sehnsucht nach ihren Eltern und einer anderen Welt, einem anderen Leben, raubte ihr tagtäglich den Verstand. Wie sollte sie das nur länger ertragen?
Die Zeitschaltuhr beendete den Duschvorgang und Nanna stand halb eingeseift im Trockenen. Ganze zehn Minuten war sie im Tagtraum gefangen gewesen, wie so oft.
Sie trat heraus und stellte sich zwischen Farngräser und Palmen. Warme Luft umströmte sie und sie ließ sich trocknen. Sie schloss die Augen und spürte die Wärme der Lampe von oben und die Fönluft von der Seite.
Wieso könnte sie nicht einfach für immer in diesem Badezimmer bleiben? Umgeben von Pflanzen und Wärme. Die Welt außerhalb dieses Raumes war kalt und leer. Die Zeit sollte jetzt auf der Stelle stehenbleiben. Doch auch der Timer des Trockners endete nach kurzer Zeit und Nanna stellte sich vor den Spiegel.
Ein Geist stand vor ihr, mit hüftlangem Haar, das so silbern wie der Mond strahlte. Augen so tief und klar wie Eis und einer Haut wie Wachs. Die Leute sagten, sie wäre etwas Besonderes. Aber Nanna wünschte sich lieber, normal zu sein. Nicht aufzufallen. Ihre Augen verrieten zu viel von ihrer Seele. Das machte alles nur noch komplizierter.
Sie drehte sich herum und die Strahlenschutzhülle wurde angelegt. Nanna sträubte sich dagegen, sie würde sich nie an diesen Fremdkörper gewöhnen, obwohl sie ihn schon ihr Leben lang trug und eigentlich daran gewöhnt sein müsste. Vor allem nach dem Duschen würde sie das Mistding am liebsten in der Luft zerfetzen. Was sie tatsächlich schon mal getan hatte, da war sie etwa fünf oder sechs Jahre alt gewesen. Marius war schockiert bis in die Haarspitzen, seinen Blick würde sie niemals vergessen.
Sie schmunzelte, als sie ihn auch jetzt vor sich sah. Der Arme, wie verzweifelt er versucht hatte, Nanna begreiflich zu machen, dass diese zweite Haut ihr Leben schützte. Nanna hatte es nicht glauben wollen, löcherte ihn tagelang mit Fragen. Erst als ihr Marius einige Videos präsentierte, was mit den Menschen geschehen war, bevor sie diese Schutzkleidung getragen hatten, ließ sie sich umstimmen. Die Verbrennungen auf der Haut waren noch das kleinere Übel. Lähmungen bis hin zum Herzstillstand und epileptische Anfälle waren die eigentliche Norm. Das sei eben der stolze Preis für High-Tech und unser paradiesisches Leben in Elysion.
Nanna beobachtete, wie ihre Haare zurecht gemacht wurden. Der Beauty-Robot drehte sie zu Zöpfen und wickelte sie wie einen Kranz um ihren Kopf. Dann steckte er blaue Blumen dazwischen.
Die Hand des Roboters war beinahe so silbern wie Nannas Haare. Dann wurde sie geschminkt. Sie verwandelte sich binnen Minuten in ein ganz gewöhnliches Mädchen. Das Make-up entzog ihr Anderssein und brachte Nanna in die gewünschte Form. Nun fühlte sie sich etwas geschützter. Wie hinter Mauern.
Langsam entspannte sie sich. Es würde schon alles irgendwie weitergehen. Und vielleicht käme wirklich alles so, wie Saraya gesagt hatte. Besser und aufregend.
Nanna musste sich zwingen, daran zu glauben. Sie musste einfach.
Sie verließ das Badezimmer und stellte sich auf die Ankleideposition. Ihr Blick fiel auf Sarayas und ihr eigenes Bett. Sie selbst hatte die blaue Bettdecke zurückgeschlagen und ordentlich gefaltet. Sarayas Decke hingegen lag auf dem Boden und ihr Bett war übersät mit Perlen. Saraya liebte es, Perlenbänder zu knüpfen. Für die gesamte Bevölkerung. Alle trugen Sarayas Armbänder.
Nanna würde sie so sehr vermissen. Das Leben, das sie versprühte, ihr Chaos, ihre Unordentlichkeit. Ihre Stärke.
Der BR schwirrte um Nanna herum und kleidete sie ein. Weiße Leggings, blaues Kleid, etwas Schmuck. Schwarze Stiefel wurden vor sie geschoben und Nanna schlüpfte hinein. Der Roboter zupfte alles zurecht und legte ihr zum Schluss einen dunkelblauen Seidenmantel an.
Dann betrachtete sich Nanna im Spiegel. Sie sah einigermaßen normal aus. Lediglich ihre Haarfarbe war noch andersartig. Aber ansonsten ganz passabel, Saraya würde natürlich umwerfend sagen. Nanna hörte sie kreischen, die Hände vor den Mund schlagen.
Sie vernahm ein Piepsen und die Service-Klappe öffnete sich. Dampf trat aus der Luke heraus und Nanna ging hinüber, um den Tee zu entnehmen. Sie setze sich damit aufs Bett und versuchte, ihre letzten Minuten zu genießen. Der Duft von Lavendel benebelte ihre Sinne und sie legte den Kopf in den Nacken. Über ihr drang das Sonnenlicht herein und brach sich in dem Mosaik des Fensters. Tausende Formen tanzten auf ihrem Gesicht. Sie spürte jede einzelne.
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