Die Jacke
Auf dem Weg zu Laylani war der Boden unter Nannas Füßen noch etwas wackelig. Ihre Beine wie Pudding, ihre Körperspannung, als wäre jeder Knochen gebrochen. Sie fühlte sich wie damals, als sie beim Sporttraining von der Sprossenwand drei Meter tief gefallen war.
Und doch freute sie sich auf das Gespräch mit Laylani. Endlich wieder unter den Lebenden. Was verdammt nochmal hatte Carla ihr nur eingeflößt? Das perfekte Lächeln einer künstlichen Dame, die durch und durch rationell handelte. Warum hatte sie Nanna das untergejubelt? Wusste sie tatsächlich über ihre Pläne Bescheid, dann war Saraya und Marius in Gefahr. Wie sollte Nanna jetzt nur Kontakt zu ihnen herstellen?
Nach all den Jahren war Nanna nun ein offenes Buch, Carla wusste von ihrer Schwäche, von ihrem Verrat. Nun stand sie also auf der Abschussliste, doch was genau bedeutete das? Nanna funktionierte nicht. Nicht so, wie es das System unter der Kuppel forderte. Und sie hatte die Regeln gebrochen, war eine Gefahr für die Ordnung, die hier so überlebenswichtig war. Vernachlässigte auch nur ein Rädchen seine Funktion, so stockte das gesamte Getriebe. Nanna war solch ein Rädchen und würde es immer bleiben.
Sie starrte auf Hendriks Rücken, seine Muskeln, die sich unter seinem Overall bewegten, menschengleich und doch nur eine Nachbildung. Sie würde ihm gern Fragen stellen, doch etwas hielt sie zurück. Bloß nicht noch mehr auffallen, Nanna musste sich mit ihrem Schicksal abfinden. Sie würde hier leben müssen und auch sterben, so wie ihre Eltern. Ein Stich fuhr durch ihr Herz und sie verkrampfte sich.
Sie musste sich ablenken, immerzu nach einer Hilfe zur Verdrängung suchen. Sie ließ ihren Blick zu den Bildern huschen. In regelmäßigen Abständen hingen sie an den Wänden des Ganges.
Porträts berühmter Menschen, deren Namen Nanna schon wieder vergessen hatte. Sie stellte es sich zur Aufgabe wenigstens einen nennen zu können. Dazwischen Gemälde und Fotografien von Bäumen, Pflanzen und Tieren. Nanna wollte alle festhalten, stehenbleiben, sich darin verlieren, in der dicken Rinde einer Eiche, die wie eine Schlangenhaut aussah. Die Muster, Farben und Formen eines Schmetterlings von solch unglaublicher Schönheit, dass es unwirklich schien. Kein Wunder, dass die Androiden so viel Aufwand in die Zucht der Insekten steckten. Es waren Schätze. Von ungeheurem Wert. Doch Nanna würde sie zu gern in freier Wildbahn sehen, natürlich geboren und aufgewachsen.
Nun war sie schon wieder bei einem Thema gelandet, das sie eigentlich aus ihrem Kopf verbannen wollte, es war schier unmöglich. Immer wieder kam sie an den Punkt, wie furchtbar es hier war und wie sehr sie sich nach Draußen sehnte.
Das letzte Bild, bevor sie im Begegnungsraum eintrafen, war die Fotografie eines Raubvogels. Solch einen hatte Nanna draußen noch nie gesehen. Er segelte über einen Abgrund. Rundherum steile Klippen und unter ihm das stürmische Meer. Nannas Brust zog sich zusammen, sie hörte den Ruf dieses Falken zu deutlich in ihrer Seele.
Warum hingen all diese Bilder hier? Es musste einen Sinn und Zweck haben, nichts fand man hier, ohne dass die Androiden - und die Erwachsenen dort oben - sich nicht irgendetwas dabei gedacht hatten. Sollte es eine Art Prüfung sein? Ob die Jugendlichen Emotionen empfanden? Ob es sie berührte? Jetzt wurde sie schon paranoid, sah an jeder Ecke eine Bedrohung, fühlte sich durchschaut und bedrängt. Ihr Herz hämmerte wie Trommelschläge. Hendrik blieb stehen, drehte sich um und blickte Nanna lang und tief in die Augen.
Er wusste Bescheid! Er konnte alles sehen, erkennen, was Nanna empfand, soviel war gewiss. Nanna wurde es eiskalt. Und gleichzeitig trat ihr der Schweiß aus sämtlichen Poren. Sie starrte in die Augen des Roboters und fühlte sich wie ein Fisch am Haken. Zappelnd. Wehrlos. Nackt.
„Was ist?", zischte sie wie eine Schlange. Plötzlich hatte sie die Wut gepackt und sie wand sich tapfer. Doch Hendrik lächelte nur. Er drehte sich um und öffnete die Tür zum Begegnungsraum.
„Du kommst hier nicht mehr lebend raus!"
„Wie kannst du dir so sicher sein?"
„Ich hab es oft genug bei anderen gesehen, die so waren wie du und ich."
„Wie sind wir denn? Warum redest du so offen? Hören sie uns nicht ab?"
„Das ist doch scheißegal. Natürlich kriegen sie alles mit, aber was ändert das schon? Unser Schicksal ist schon lang besiegelt."
Nanna wollte noch immer hoffen, doch insgeheim gab sie Laylani recht. Der Besuch bei Carla hat ihr sämtliche Lebensgeister entrissen. Sie war nicht mehr die Nanna von zuvor. Ihr Dreamwalker war deaktiviert worden, wer weiß, was mit Marius passierte. Lebte er überhaupt noch? Sicherlich wussten sie einfach alles.
„Hey, wer weiß, vielleicht ists im Jenseits ja gar nicht so übel. Vielleicht ists da ganz angenehm, nur niemand weiß davon." Laylani lehnte sich tief in die knallgelben Kissen, legte ihre Stiefel auf dem Tisch ab und schlürfte ihren Smoothie. Das Geräusch hallte durch den Raum.
„Ich will es nicht drauf ankommen lassen. Außerdem muss ich ... na, egal. Ich hab noch was vor, meine Bestimmung, weißt du?" Nanna wollte es nicht aussprechen. Versuchte, doch noch auf Nummer sicher zu gehen, auch wenn alles verloren schien. Ein Fünkchen Hoffnung bestand immer.
„Ach Quatsch! Bestimmung, deine Bestimmung ist ein früher Tod. Sieh's doch endlich ein, du Traumtänzerin. Hoffnung, Glaube, Pipapo - alles Lug und Trug deiner traumatisierten Psyche. Du willst es einfach nicht wahrhaben, dass das Leben scheiße ist, oder?"
Nanna war fasziniert von Laylanis Energie. Hass und Wut gaben Kraft und Stärke. Laylani war wie ein Orkan. Erbarmungslos und grausam ehrlich. Sie hatte recht! Und doch, Nanna spürte etwas in sich drin, was nicht zu erklären war. Man konnte es nicht in Worte fassen. Ihre Sehnsucht, die Visionen, die Verbundenheit zum Mond - zur Natur. All das.
„Warum kämpfst du nicht, wenn du dir so sicher bist? Hast doch nichts zu verlieren!" Nanna forderte sie heraus.
Es gab einen Knall, als Laylanis Boots auf den Fliesenboden knallten. Ihre Fußspitzen waren genau im Innersten eines schwarzen Sternes auf dem mosaikgefliesten Boden gelandet. Nanna zuckte zusammen und Laylani beugte sich nah zu ihr. Ihre schwarz umrandeten Katzenaugen fixierten sie wie eine Maus. Sie grinste. „Hey, gib mir doch mal deine Jacke. Hab ich dir schon mal gesagt, dass die echt hot ist? Ich liebe dieses Muster."
Was war das nun wieder für eine Anwandlung? Nanna verstand dieses Mädchen einfach nicht. Wie kam sie nun auf die Jacke? Vielleicht war sie doch schon etwas wirr von ihren Verschwörungstheorien.
Sie zog ihre silberne Jacke mit dem grauen Rautenmuster aus. Sie hatte sich die Jacke erst vor einigen Wochen im Mode‑Design‑Tool kreiert. Ja, sie musste es selbst zugeben. Sie hatte ein Händchen dafür. Die Jacke war ein Kunstwerk.
Laylani grabschte sich die Jacke und stolzierte durch den Raum. Um den Tisch herum, drehte sich, warf ihre schwarzen Haare um sich und Nanna verschwörerische Blicke zu. „Machst du mir auch so eine?", schnurrte sie.
„Klar, wenn ich darf!"
„Natürlich darfst du! Zum Wohle aller darf man alles", sagte sie und zwinkerte.
„Wenn du Glück hast, darfst du Klamotten designen, bis zum Tage deiner Einschläferung." Sie kicherte wie irre.
Nanna schluckte. Nein. Das wollte und konnte sie nicht glauben. So sah ihr Schicksal nicht aus, das spürte sie deutlich. Und auch Laylani war anderes vorherbestimmt. In diesem Moment, als sie in dieser silbernen Jacke an ihr vorbeistolzierte, kam sie Nanna seltsam vertraut vor. Eine Vision schälte sich heraus. Nanna und Laylani standen inmitten von Nichts. Sie waren an einem anderen Ort. Gemeinsam. Und sie lächelten. Es war ein guter Ort und es war nicht dieser Ort. Nanna spürte ein kleines bisschen Energie in sich zurückkehren, konnte sie aber kaum festhalten.
Sie beobachtete Laylani, wie sie ihr die Jacke zurückgab - etwas an ihr war seltsam. Sie wollte ihr irgendetwas sagen, aber sie schwieg. Ihr Blick durchbohrte Nanna. Was willst du mir sagen? Was?, ratterte es in ihrem Kopf.
Plötzlich standen die beiden Androiden im Raum und die Chance war dahin. Laylani verschwand mit den Worten: „Deine Jacke ist ein Traum. Wir besprechen das noch, hörst du? Vor allem die Sache mit den Taschen, okay?" Nanna starrte ihr hinterher und das Loch in ihrem Verstand schwoll an. Was, verdammt noch mal, sollte das bedeuten?
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