Die erste Nacht
Nanna hatte nicht geschlafen. Ihre Gedanken kreisten umher wie die Planeten dort oben. Unaufhörlich. Jeder einzelne Knochen schmerzte. Jede Faser schrie nach Erholung, doch die Spannung hatte Nannas Körper und Geist fest im Griff. Das Mondlicht fehlte hier drin in dieser Höhle.
Sie schmeckte den Duft von Lavendel und Orangen. Die Morgensonne schwappte durch die durchsichtige Tür ins Schlafzimmer und fraß sich Nannas Decke entlang, an den Stellen leuchtete der Stoff neon-gelb.
Sie konnte ihn atmen hören, gleichmäßig und tief. Nanna spürte den Neid in ihrer Brust, wie sehr wünschte sie sich in diesem Augenblick, auch so tief schlafen zu können.
Levis Geruch hatte sie bis vor Kurzem bedrängt, als wäre sie eine Maus in einer Wolfshöhle, doch der Duft, der seit wenigen Minuten durchs Zimmer wanderte, erlöste Nanna. Sie atmete tief ein und entspannte sich für einen kurzen Augenblick.
Sie gehörte hier nicht her und würde es auch niemals. Eine Schwere breitete sich in ihrem Inneren aus, krabbelte in jede Pore und Vene. Könnte sie nicht einfach hier liegenbleiben, für den Rest der Zeit, bis sie hier rauskäme?
Nanna hob ihren Arm. Sie wischte über ihren Chip-Point. Es war kurz vor Sieben. Sicherlich würden sie gleich geweckt werden. Sie überprüfte nochmal dem Dreamwalker, ob er sicher getarnt war. Zum Glück hatte Levi vorher nicht weiter nachgebohrt, als er Nanna überrascht hatte.
Nanna ließ ihren Arm sinken, es war ihr egal, sie hatte keine Furcht mehr, denn es gab nichts, was sie hätte verlieren können. Nicht mehr. So nahm sie sich vor, schon morgen Nacht wieder zu Saraya zu reisen. Sie musste unbedingt mit Marius sprechen, irgendwie, um eine Möglichkeit für ihre Flucht zu finden. Sie spürte, dass der Android ihr helfen würde.
Dann ertönte Hendriks Stimme. „Guten Morgen, meine Lieben. In einer Stunde wird das Frühstück serviert. Bitte zieht euch an und wartet im Speisezimmer auf mich. Danke." Dann folgte Musik. Eins der wenigen Dinge, die Nanna genoss. Alte Instrumente, Klavier und Flöte. Balsam für ihre überreizte Seele. Sie sog die Klänge tief in ihr Bewusstsein ein und schöpfte ein wenig Energie.
Er gähnte, grummelte, wälzte sich - auf Nannas Seite. Sie blickte nicht zu ihm, doch sie spürte, dass er wach war. Ihre Anspannung wuchs ins Unermessliche. Sie hielt den Atem an. Stille.
„Sieh mal einer an, bist ja immer noch hier und ich war mir sicher, du schleichst dich wieder heimlich davon."
Nanna überlief es eiskalt. Seine Stimme war eine Demütigung. Er sprach über sie, als wäre sie ein lästiges Anhängsel.
„Hast du keine Angst mehr, dass ich über dich herfalle?" Er beugte sich über Nanna. Seine dunklen Haare rutschten ihm in die Augen und ein Schatten lag auf seinem Gesicht. Er drängte den Duft von Orange und Lavendel wieder zurück.
Nanna blickte ihn an. So tief hinein, wie sie es bei sich selbst vor dem Spiegel getan hatte. Doch sie konnte keine Seele sehen, nur Schwärze.
Er verzog sein Gesicht zu einem Grinsen. Sie war nur ein Spielzeug für ihn. Er hatte keine Ahnung von Emotionen, von Ängsten. Er lebte im Hier und Jetzt. Er lebte nur für sich. Das sah Nanna ganz eindeutig in der Art und Weise, wie er von ihren Augen entlang zu ihrem Mund und dann zu ihrem Hals hinunter blickte.
Nannas Gefühle interessierten ihn nicht. Ganz bestimmt nicht. „Ich hab keine Angst", presste sie hervor und drehte ihren Kopf zur anderen Seite. Dort huschte gerade das Hologramm eines Vogels an der Wand entlang. Er versteckte sich hinter der Pflanze.
„Musst du auch nicht, ich tu dir nichts", sagte er und flüsterte dann in ihr Ohr: „Noch nicht."
Nanna ignorierte ihn und machte sich daran, aufzustehen. Seine Drohung jedoch verfolgte sie wie eine giftige Schlange. Lautlos und hinterlistig. Die stetige Gefahr.
Sie hörte sein Pfeifen hinter sich. Spürte seine Blicke wie Giftpfeile in ihrem Rücken.
Sie kam sich so wehrlos vor in ihrem dünnen Nachtkleid. Als wäre sie nackt. Ihre Haare bedeckten ihr Gesicht, als sie um das Bett herumging, so sah sie ihn nicht.
„Das sind also Männer ... wirklich beeindruckend", zischte sie ihm im Vorbeigehen zu und verschwand durch die Tür mit einem leichten Anflug von Stolz in der Brust.
Der Speiseraum war lichtdurchflutet. Zu einer Seite bildeten Glasfronten die Außenwand und man konnte in den Dschungel hineinblicken. Nanna verliebte sich auf der Stelle in diesen Ort. Ihr Herz pochte so wild wie die Natur dort draußen. Die Bäume und Pflanzen erstreckten sich bis zum Horizont. In der Ferne sah Nanna den Hügel. Er war ihr Anker, ihre Hoffnung. Die Sonne schüttete ihr Morgenlicht darüber aus und es schwappte bis in Nannas Körper hinein. Ihr Blick schweifte in die Ferne und sie verlor sich darin, hörte seine Schritte, doch sie ließ trotzdem nicht ab.
„Hey, was gibts da zu sehen?" Seine Stimme schnitt scharf in Nannas Bewusstsein und ihre innere Ruhe erstarb. Sie zuckte zusammen, das Band zwischen ihr und der Welt dort draußen zerriss. Doch den Kopf drehte sie nicht.
„Das kannst du dir mal abgewöhnen, es nervt mich schon jetzt zu Tode", herrschte Levi sie an. Er griff nach ihrem Arm und drehte sie herum. Seine Augen bohrten sich in ihre und sie spürte, wie er ihre Energie raubte. Plötzlich wurden ihre Arme schwer wie Steine und sie rang nach Atem. Etwas Unbändiges huschte in seinen Blick. Seine Pupillen waren tiefschwarz und geweitet. Nanna wurde es eiskalt, ihr Arm schmerzte. Er starrte sie an, seine Kieferknochen waren angespannt und er presste die Lippen aufeinander. Doch sie konnte noch etwas in seinem Blick sehen. Ein Anflug von Unsicherheit und Verletzlichkeit, nur einen Hauch davon. Er bemerkte es selbst, denn er versuchte zwanghaft, sein Gefühl zu unterdrücken. Waren sie am Ende gar nicht so verschieden? Auch er hatte deutlich stärkere Emotionen als üblich.
Nanna war ungewöhnlich ruhig. Ihr Körper fast schwerelos, als sie so etwas wie Mitleid mit ihm empfand. Obwohl er sie immer noch grob am Arm festhielt und mit Blicken tötete. „Was soll ich nicht machen?", fragte sie. Kein Zittern steckte in ihren Worten. Sie hielt seinem Blick stand, sein Auge begann zu zucken.
„Mich ignorieren. Ich hasse das, verstehst du?"
Sie schwieg und senkte den Blick. „Kannst du mich bitte loslassen?"
Er tat es, stieß einige Flüche aus und setzte sich ihr schräg gegenüber. Der Tisch zwischen ihnen war eine schwarze Platte. Sie legte ihre Hand darauf, die Oberfläche schlug Wellen. Es war eine dieser interaktiven Flächen, auf denen man sich Speisen und Getränke kreieren und ordern konnte. Doch im Moment war die Technik deaktiviert. Saraya würde tot umfallen, wenn sie hier wäre. In Pueriton war es nur den Androiden möglich, diese Dinger zu benutzen, die Mädchen durften sie ohne deren Aufsicht nicht bedienen.
Jetzt hatte Nanna ein eigenes Board im Zimmer. Doch für sie hatte es keine Bedeutung, es war nichts, was sie hier fortbringen könnte, weg von diesem brodelnden Vulkan, der scheinbar bei jeder noch so kleinsten Reizung Lava spuckte.
„Es tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun", sagte er plötzlich.
Nanna traute ihren Ohren kaum. Hatte er sich gerade wirklich entschuldigt? Sie wagte einen Blick zu ihm. Er hob den Kopf. Seine Mimik zeugte von Schmerzen, die ihn irgendwo quälten. Tiefe Schatten überzogen sein Gesicht.
„Schon okay, war nicht schlimm", log sie. Doch sie spürte einfach keinen Hass, keine Wut oder Groll gegen ihn. Er strahlte gerade etwas Verletzliches aus und er schien mehr zu leiden wie sie. Auf andere Art und Weise. Etwas fraß sich durch sein Innerstes und vergiftete seine Nerven, so kam es Nanna vor. Er war nicht so stark, wie er sich ihr gegenüber zeigte.
„Es ist ... Wir müssen jetzt Eltern werden, ein Paar sein, doch ich ... ich kenne dich nicht, du bist eine Fremde, du bist seltsam. In Pueriton hat man uns erzählt, Frauen wären wundervoll – aufmerksam, fürsorglich, lustig und lebendig."
Seine Offenheit passte absolut nicht in das Bild, das Nanna von ihm hatte. Und sie offensichtlich nicht in das, was er von ihr gehabt hatte. Ihre innere Kälte wurde zu unerträglichem Eis, ihre Nerven klirrten und ihr Herz gefror.
„Jetzt tust du es schon wieder!"
„Was meinst du?"
„Jetzt rede doch mal mit mir! Ständig schaust du irgendwo in der Gegend herum und tust so, als wär ich gar nicht da. Hat man euch das bei euch Mädchen gelernt? Na toll, wirklich ..."
„Es tut mir leid, ich mach das nicht mit Absicht, ehrlich. Bei uns ... Also, wir haben gelernt, wie man eine gute Mutter und Ehefrau wird, wie wir unsere Kinder auf das Leben in Pueriton vorbereiten. Wie wir sie stark und systemtreu erziehen. Sie dürfen niemals zweifeln oder eigenen Ideen nachhängen, so die Lehre. Alles in Elysion hat einen Sinn und Grund und es übersteigt unsere menschliche Vorstellungskraft, diese zu begreifen. Es ist einfach so. Wir schulten unser Bewusstsein, unser Vertrauen und die absolute Treue den Androiden gegenüber. Trotzdem habe ich furchtbare Angst, zu versagen ...", sagte sie, ohne den Blick vom Fenster zu nehmen. Sie klammerte sich daran fest, scheute seine Reaktion Außerdem hatte sie Zweifel zugegeben, ein Verrat am System. Sicherlich waren Levi und Nanna nicht die Einzigen, die es nun wüssten.
„Warum bist du so?" Er klang fassungslos.
„Ich weiß nicht, was mit mir falsch ist. Ich weiß nur, dass ..."
„Was?"
Nanna stockte. Sie konnte ihm nicht vertrauen, auf keinem Fall. „Ich will keine Mutter sein, ich will nicht erwachsen sein ... noch nicht." Eigentlich waren andere Worte auf ihrer Zunge gelegen, doch die schloss sie ein. Ganz tief drinnen.
Er nickte.
Dann vernahmen sie Geräusche. Levi drehte den Kopf zum Eingang des Speiseraumes. Nanna hörte ein Surren, dann Schritte. Hendrik erschien hinter der Glaswand, die sich lautlos zur Seite schob. Lächelnd trat er ein.
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