Die Bibliothek

Die Bibliothek war der Himmel für sie. Die Bücher wie Sterne, die Wörter der Sternenstaub und all die Geschichten aus der Vergangenheit zogen Nanna an und verschlangen sie wie schwarze Löcher.

Saraya war einfach ein Goldschatz, dass sie ihr diesen Moment ermöglicht hatte. Nanna bekam weiche Knie, wenn sie sich ausmalte, was Saraya blühte, wenn das rauskäme. Miguel hatte eine komplette Woche im Arrest-Room verbringen müssen, nachdem er hier allein erwischt worden war. Es gab nichts Schlimmeres, als diesen weißen leeren Raum, in dem man nur mit sich selbst und seinen Gedanken ausharren musste. Nanna war bisher nur einmal drin gewesen, doch das war der nächtliche Ausflug durch die Flure von Pueriton wert gewesen.

Aber keiner konnte sich besser ins Schlüsselsystem hacken wie Saraya. Sie beherrschte sämtliche Türschlosscodes im Schlaf und keine Methode war vor ihr sicher. Sie konnten gar nicht mehr mitzählen, wie oft sie schon auf der Blacklist stand wegen ihrer „Begabung". Und auch den Arrest-Room kannte sie besser als alle von ihnen. 

Doch es hielt sie nicht davon ab, die Schließmechanismen außer Kraft zu setzen, es war wie eine Sucht für sie. Nanna beneidete sie um ihre Furchtlosigkeit, obwohl Saraya sonst sehr regeltreu war. Eigentlich war sie eine richtige Idol-Person, was vermutlich auch der Grund dafür war, dass die Androiden sie jedes Mal wieder durchkommen ließen. Hoffentlich kamen sie ihr diesmal nicht auf die Schliche, denn sie tat es nur für Nanna.

Doch nun stand Nanna hier, umgeben von echten Büchern. Bücher zum Anfassen, Bücher zum Riechen. Jahrzehnte alte Druckerschwärze, moderndes Papier und Kaffeeflecken, die ihre Vorfahren wie ein Andenken hinterlassen hatten.

Die meisten der Bücher waren in Kunststoff-Särge verbannt worden. Doch viele standen frei zugänglich in Regalen.

Nanna blieben ganze zwanzig Minuten, dann würde das System wieder aktiviert werden.

Ihr Puls raste und ihre Haut kribbelte wie unter Strom.

Was suchte sie eigentlich? Ihr blieb keine Zeit zum Träumen. Sie brauchte Bücher über die Vergangenheit. Geschichten über das Draußen. Über das Zuvor. Bevor sie irgendetwas unternehmen konnte, um ihr Schicksal zu beeinflussen, brauchte sie Wissen. Wissen und Informationen.

Sie stolperte durch die Gänge. Sonnensysteme, Planeten, Physik, Chemie, Sternenkunde, Roboterkunde, Pflanzenkunde, Insekten.

Nein. Nein. Nein. All diese Themen brachten sie nicht weiter. Wo waren die wahren Schätze? Alte Bücher.

Sie erreichte die letzten Gänge und mit jedem Begriff wurde ihr wärmer ums Herz. Geschichte des Jahres 1900, Kriege, Könige der Antike, Die letzten Städte ...

Da! Nannas Puls beschleunigte sich, sie berührte die in blauem Einband gehaltenen Exemplare: Der Mythos der Profillosen, Die letzte Stadt, Die Große Klimakrise, Die Neuen Seuchen, Die Neue Welt ... Nanna blätterte die Seiten durch und die, die ihr Interesse weckten, speicherte sie auf ihrem Chip im Arm.

Ihr blieben noch genau acht Minuten. Das war nicht genug Zeit, doch die Überschriften, die sie bisher aufgeschnappt hatte, ließen ihr Blut kochen.

Die große Flut, Schwarze Löcher, Weiße Hoffnung, Leben auf dem Mars, Profillose − Erfahrungsberichte, Ist ein Leben außerhalb der Kuppel möglich?, Portale in der Kuppel und wo sie vermutet werden, Eltern und ihre Kinder.

Nannas Kopf drohte zu platzen und sie brach ab. Lieber etwas zu früh hier heraus, bevor sie riskierte, Saraya zu gefährden.

Nanna erachtete ihre Ausbeute für genügend und stellte das letzte Buch, das sie in Händen hielt, zurück ins Regal.

Sie sog den Duft des Papieres tief ein und war unendlich dankbar, dass die Bücher zur Sicherheit und auch zum Andenken neben den digitalen Schriften aufbewahrt wurden. Es war Nanna ein Rätsel, wie sie all die letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte überdauert hatten.

Doch nun war keine Zeit, sich weiter den Kopf zu zerbrechen. Nanna ließ ihren Blick ein letztes Mal über die Schätze gleiten, lief durch die Gänge zurück zum Ausgang und huschte hinaus.

Alles war ruhig und so machte sie sich weiter auf den Weg zurück ins Zimmer. Die gespeicherten Seiten würden sie fürs Erste beschäftigen. Drei Wochen waren Zeit genug.

Nur wenige Minuten später kam Saraya hereingestürmt. Sie durchbrach die Ruhe, die im Zimmer geherrscht hatte, wie ein Wolkenbruch. Nanna schreckte hoch und ihr Herz klopfte wie wild.

Brachte Saraya schlechte Nachrichten mit? Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, musste etwas passiert sein, so aufgebracht kannte Nanna ihre Freundin gar nicht.

„Haben sie mich erwischt?" Nannas Worte kratzten in ihrem Hals.

„Du glaubst nicht, was für eine unglaubliche Überraschung ich für dich habe!" Sarayas Wangen glühten und sie stürmte auf Nanna zu. „Wie wars bei dir? Konntest du was finden?"

„Ein wenig, kaum der Rede wert, aber besser als nichts", sagte Nanna und kam wieder auf das Überraschungs-Thema zurück, „was für eine Überraschung meinst du?"

Saraya atmete theatralisch aus und ließ sich vor Nanna aufs Bett fallen. Das Lichtspiel im Raum zauberte ein Glänzen in ihre Augen. Nanna hielt die Luft an und wartete auf Sarayas Worte.

„Ich hab nicht locker gelassen, ich wollte etwas Sensationelles für dein Abschiedsgeschenk herausschlagen", Sarayas Blick bohrte sich in Nannas Augen, „und ich sage dir, ich habe es tatsächlich geschafft, frag mich bloß nicht wie." Ihr Lächeln war das einer Gewinnerin.

„Nun sag schon, sonst bekomm ich davor noch 'nen Herzinfarkt und du hast dich umsonst bemüht."

Nanna griff nach Sarayas Händen. „Lass mich raten, du hast für uns beide einen Teleporter zum Mars, oder noch besser - einen Weg zurück in die Vergangenheit?"

„Fast!"

„Nun sag schon, so unglaublich kann es doch gar nicht sein. Los, raus damit!"

„Ich habe einen Dreamwalker-Code für dich." Ihre Worte klangen wie Musik. Es folgte eine himmlische Schweigeminute, in der sich Nanna an Sarayas Blick festsaugte. Sie glaubte, sich verhört zu haben.

„Du hast WAS?"

„Ich bin ein Genie, gib's zu!" Saraya atmete durch und ihr Grinsen wurde noch breiter. Nanna wollte sie einfach nur noch küssen und drücken und nie wieder loslassen, dieses Mädchen war ein Engel. Doch zeitgleich zog sich ihre Brust zusammen, denn sie wusste, dass sie Saraya schon sehr bald loslassen musste, und nicht nur wortwörtlich. Trotzdem wollte sie jetzt nicht darüber nachdenken, sie musste verdrängen, auch wenn es ihr unmöglich erschien.

„Wer hat ihn dir gegeben?"

„Was denkst du denn?"

„Ich weiß es echt nicht. Was hast du dafür getan?" Jetzt musste Nanna grinsen. Sie traute Saraya alles zu, sogar die Bestechung eines Androiden. Was fast unmöglich war.

„Ich habe geschworen, keinem jemals mehr auf die Nerven zu gehen", flüsterte Saraya und zwinkerte.

„Das würdest du nicht schaffen!"

„Okay, ich gib's zu. Ich habe einfach die Wahrheit gesagt."

„Was ist denn die Wahrheit?" Nanna hatte absolut keine Ahnung, wie Saraya es angestellt hatte, so etwas Wertvolles zu organisieren. Das war einfach absolut unglaublich.

„Ich hab gesagt, dass du in Maternita echte Probleme bekommen wirst. Jeder weiß das. Du bist nicht so anpassungsfähig wie wir, du wirst es schwerer haben, sehr viel schwerer. Ich habe gesagt, dass ich die Einzige bin, die dir helfen kann und dass du meine Nähe brauchst. Normale Kommunikation wie Voices oder Visuals werden nicht ausreichen. Jeder gab mir recht."

„Das war alles? So ein belangloser Grund hat ausgereicht?" Nanna konnte es kaum glauben. Andere bekamen Virtual‑Reality‑Games oder neue Kleidung, Beauty-Produkte oder im besten Falle Haushaltsroboter.

„Hey, jetzt mal ehrlich, ich nehme ihnen 'nen Haufen Arbeit damit ab. Ich werde mich weiterhin zu hundert Prozent um dich kümmern, so muss es keiner der Androiden tun. Du weißt, sie mögen keine Problemfälle wie dich und außerdem war einer ganz besonders dafür, er hat sich für dich eingesetzt."

Das klang nachvollziehbar. Die Androiden dachten rational. Zwar besaßen sie ab und an Emotionen, aber auch diese waren berechnet. Damit ein vertrauensvolles Zusammenleben möglich blieb.

Nanna hatte sich in den letzten Jahren intensiv mit Androiden beschäftigt, um besser klarzukommen. Sie besaßen mehr menschliche Eigenschaften, als Nanna angenommen hatte.

Früher, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte sie sich vor den Seelenlosen, wie sie die Androiden immer genannt hatten, gefürchtet. Doch mit der Zeit war Nanna zu der Überzeugung gekommen, dass es nicht die Maschinen sind, die sie fürchten müssten, sondern die Menschen selbst.

Die Menschen waren für alles Schlechte verantwortlich, nicht die Natur und auch nicht die Künstliche Intelligenz.

„Wer war es?", fragte Nanna und ein Kloß sammelte sich in ihrem Hals.

Sarayas Blick wurde weich und ein seltsamer Glanz legte sich auf ihre Mimik. Wie ein Strahlen von innen heraus.

„Marius." In diesem Wort schwang so viel Wärme, dass Nanna das Gefühl hatte, jemand würde ihr eine Decke um die Schultern legen. Sie kuschelte sich in die imaginäre Decke und ihre Haut kribbelte. Sie sah das Gesicht von Marius vor sich, wie er sie mit seinen kalten Roboteraugen doch so herzlich anblickte.

Sie hatte oft geahnt, dass er sie verstand, dass er ihre Gefühle und Gedanken kannte.

Manchmal hatte Marius Nanna einen Moment zu lang angesehen, sie bemerkte es, doch maß dem keine Bedeutung zu.

Er war nur irgendeine Maschine. Doch nun kroch das schlechte Gewissen in ihr hoch. Sie hatte den Androiden unterschätzt, ihn missachtet und zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Denn scheinbar lag ihm sehr viel an Nanna. Mehr, als man von einem Roboter erwarten würde.

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