Der Begegnungsraum

Als Hendrik hereinkam, saß die Gänsehaut noch immer auf Nannas Haut. Sie war verwirrt. Einerseits hatte ihr Levi tiefe Einblicke gewährt - sie konnte seine menschliche Seite sehen. Doch der Bruch danach war umso härter. Er wirkte wie gespalten, um dem System gerecht zu werden. Diese Erkenntnis traf Nanna wie eine Axt.

Sie mussten funktionieren, Mädchen waren da, um zu gebären und die Männer, um zu erzeugen. Doch wozu diese Härte? Hier unter der Kuppel drohte keine Gefahr, oder etwa doch? Wussten die Mädchen nur nichts davon? Oder lag die Antwort in der nächsten Welt? Erforderte das Leben auf dem Mars diese Abhärtung? Wenn dem so wäre, dann wollte Nanna nicht an diesen Ort gehen. Doch dann lernte sie ihre Eltern niemals kennen. Sie waren doch dort oben, oder?

Nannas Kopf glich einem Orkan. Die Gedanken reichten sich die Hände und rissen nicht ab. Sie konnte Hendrik kaum folgen und mehrmals musste er seine Anweisungen wiederholen.

„Nanna, Kindchen, schläfst du noch?" Er führte sie den Gang entlang. Nanna war kaum aufgefallen, dass sie das Zimmer schon verlassen hatten. Sie gingen den mosaikbefleckten Boden entlang und die vielen Muster regten Nannas Gehirn noch mehr an.

„Nein, nur ... das ist alles so furchtbar aufregend für mich. Ich kann es noch nicht so ganz glauben, dass ich wirklich hier bin. Jahrelang hörten wir nur von Maternita und träumten davon, doch das kommt der Realität nicht im Geringsten nahe." Sie blickte nach oben. Der schmale Flur erstreckte sich weitläufig. Zu beiden Seiten befanden sich Türen und Bilder, Hologramme und Displays. Dann mündete der Flur in einer gläsernen Tür. Der Aufzug.

„Ja, so geht es den meisten. Es ist fantastisch, nicht wahr? Wir fahren jetzt nach unten, zum Begegnungsraum", erklärte Hendrik und aktivierte den Fahrstuhl. Lautlos setzte er sich in Bewegung. Nanna verfolgte die Stockwerke. Sie zählte zwölf, bis sie bei null ausstiegen.

Die Tür schloss sich hinter ihnen, sie wollte schon weitergehen, doch Hendrik hielt inne. Er musterte sie auf eine Art und Weise, die ihr erneut eine Gänsehaut auf die Arme trieb. Doch dieses Mal aus einem anderen Grund. Hatte sie irgendetwas falsch gemacht?

„Geht's dir gut, Nanna?" Hendriks Stimmlage klang eher nach einer Drohung als nach einer Frage. Seine Pupillen stachen in Nannas Augen wie zu grelles Licht. In diesem Moment konnte sie deutlich sehen, dass Hendrik ein Roboter war. Seine Überlegenheit, das Übermenschliche. Die stete Bedrohung. Wie eine entschärfte Bombe.

„Äh ... ja, mir geht's blendend", stotterte Nanna und sie musste sich konzentrieren, Hendriks Blick standzuhalten. Konnte er Gedanken lesen? Hatte er sie längst durchschaut? Ihre Zweifel, ihre Fluchtgedanken, ihre Unsicherheit? Sie dachte ganz schnell an einen blauen Himmel und bunte Vögel, nur zur Sicherheit.

„Du bist oft in deinen Gedanken gefangen, stimmts? Doch keine Sorge, mit solchen Problemchen werden wir hier mühelos fertig. Versuch, dich zu entspannen und lass uns nur machen." Hendrik schien sie zu analysieren, abzutasten wie ein fremdes Wesen, das es zu erforschen galt.

Nanna geriet ins Straucheln. Die Unterhaltung kam einfach zu spontan. Sie rang nach Kontrolle, atmete zu flach und mühte sich mit den Worten ab, als wären sie ein Schwarm Moskitos. „Ja ... ich habe vollstes Vertrauen, ich freue mich sehr, hier zu sein." Sie klang so zittrig wie ein frisch geschlüpftes Küken. Bemitleidenswert. Nanna biss sich auf die Unterlippe.

„Du bist nun kein Kind mehr, das ist dir doch bewusst, oder? Wenn es dir schwerfällt, loszulassen, dann können wir auch etwas mit deinen Erinnerungen anstellen, du wärst nicht die Erste, die das benötigte." Er durchbohrte sie und seine Worte schwirrten über ihr wie dunkle Wolken.

„Nein, nein, ich bin nur ... überwältigt, das ist alles." Sie zwang sich, an gar nichts zu denken.

Hendrik grinste verhalten und wendete sich ab. Nanna hatte ein ungutes Gefühl. Ein sehr ungutes Gefühl. Er ahnte doch etwas. Er wusste doch, dass mit ihr etwas nicht stimmte - oder? Nannas Gedanken sprangen gegen ihren Kopf, er schmerzte und das Licht, das von der Decke auf sie herabfiel, blendete sie plötzlich.

Doch nichts weiter geschah. Hendrik winkte Nanna, ihm zu folgen. Sie setzten ihren Weg fort. Nach wenigen Minuten kamen sie zu einer Glastür. Hendrik blieb stehen.

Er öffnete sie und beide betraten einen Flur, der ebenso gläsern war. Rundherum konnte man nach draußen blicken und Nanna blieb stehen. Wie schön! Der gläserne Gang führte durch den Dschungel und man vergaß, dass man kein direkter Teil davon war. Sie wanderten durch Bäume hindurch und Nanna sah zahlreiche Äffchen herumhüpfen. Wie gern wäre sie selbst solch ein lebenslustiges Tierchen. Frei und wild.

„Ich dachte mir schon, dass es dir gefällt", sagte Hendrik. Er drehte sich nicht um, Nanna blickte auf seinen Rücken. Bunte Formen bewegten sich mit seinen Schritten im Takt. Die fließenden Linien gingen in ihn über. Was sollten diese Anspielungen? Nanna fühlte sich nicht mehr wohl in seiner Gegenwart. Sie antwortete nicht, trottete hinter ihm her, als hätte er sie bei irgendetwas Verbotenem ertappt. Beim Fühlen und Träumen zum Beispiel.

Sie kamen zu einer Tür, die sich öffnete und einen Raum offenbarte. Gelb und Blau dominierten die Wände. Es stand eine bunt gemusterte Couch darin mit einem Tischchen davor. Eine Blume in einer Vase, die mit goldenen Ornamenten verziert war. Tassen, Gläser, Knabbereien. Und jede Menge Grünzeug: Pinkfarbene Orchideen, Magnolien, deren Duft sich im Raum verteilte, Palmen und Gestecke.

Nanna liebte diesen Raum auf Anhieb. Er war wie ein Frühlingstag. Sie seufzte.

„Setz dich doch schon mal. Laylani müsste gleich mit Igor auftauchen. Mach es dir solange bequem, aber träume nicht so viel", fügte er hinzu, nachdem er sich nochmal umgedreht hatte. Er zwinkerte und verließ das Zimmer.

Ihr Herz setzte für einen Moment aus und schlug dann umso heftiger. Hendrik durchschaute sie! Ganz bestimmt. Was würde er nun mit ihr machen? All ihre Erinnerungen löschen, so wie sie es auch mit ihren ersten sechs Lebensjahren gemacht hatten? Nein! Sie konnte nicht ohne Saraya und Marius leben, ohne die glücklichen Stunden, ohne das einzig schöne in ihrem Leben. Doch was sollte sie schon dagegen tun? Keiner würde es ihr erzählen, wenn noch Schlimmeres mit Problemfällen passiert wäre, das Unangenehme unterlag dem Gesetz der Verschwiegenheit. Das war schon in Pueriton so gewesen. Doch irgendwie war dort zugleich alles harmloser, vertrauter und weniger beängstigend gewesen. Tja, willkommen in der Welt der Erwachsenen!, würde Saraya wahrscheinlich sagen.

Nanna setzte sich auf die Polster. Orange- und Rottöne schlängelten sich in Linienmustern um sie herum, passend zu dem Dschungel-Feeling, das hier herrschte. Es duftete nach exotischen Früchten und es hallten stimmungsvolle Geräusche durch den Raum: Wasserplätschern, Vogelgezwitscher, Blätterrauschen. Nanna saugte all das in sich auf. Sie genoss diese Minuten allein.

Doch schon bald kam ein Mädchen durch die Tür, das sofort Nannas volle Aufmerksamkeit erlangte. Sie erschien ihr inmitten der fiktiven Wildnis wie ein schwarzer Panther. Ihre Augen blitzten angriffslustig und eine Stärke trat daraus hervor, wie Nanna sie schon lang nicht mehr bei einem Menschen gesehen hatte. Sie war sofort in ihren Bann gezogen.

Die kinnlangen schwarzen Haare glänzten wie Öl und hatten einen blauen Schimmer. Die Haut des Mädchens war golden und Nanna stach sofort der Neid in die Brust. Sie sah so wunderschön aus, dass es fast schon wehtat.

„Hey!", sagte das Mädchens und es glich eher einem Schnurren. Jede ihrer Bewegungen strahlten Selbstbewusstsein und Eleganz aus. Nanna musste sie angestarrt haben wie ein kleines Mädchen. So kam sie sich zumindest vor.

„Hey!", sagte auch Nanna. Sie rutschte etwas nach hinten, richtete sich auf, straffte die Schultern.

Das Mädchen blieb inmitten des Raumes stehen und zwinkerte Nanna zu, dann kam ihr Android dazu, Igor. Nanna fiel der Name des Mädchens ein: Laylani. Es passte so perfekt zu ihr. Kunstvoll verschnörkelt. Mystisch und geheimnisvoll.

„Ihr trefft euch ab nun jeden Tag um diese Zeit für je eine Stunde. Ihr könnt euch austauschen oder euch anschweigen, wie ihr wollt." Das war alles, was Igor zu sagen hatte. Er verließ den Raum und überließ die Mädchen sich selbst.

Laylani kicherte und schlängelte sich zu Nanna. Sie kam ganz nah, betrachtete ihr Gesicht, griff nach Nannas Haaren und betrachtete sie. „Ich hab noch nie so ein wunderschönes Mädchen wie dich gesehen", hauchte sie und ihre Katzenaugen glänzten unnatürlich. Als wären es die Augen eines Androiden.

„Das Gleiche hab ich mir auch gedacht, aber von dir",sagte Nanna und beide lächelten. Das Eis war gebrochen, vom ersten Moment an. 

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