Carlas Kaffeekränzchen
Nanna blinzelte in die Sonne, die über ihr stand. Es musste bereits Mittag sein. Die Wärme schmiegte sich an ihre Wange wie eine Hand, die sie beruhigen wollte, doch Nannas Herz raste. Ihre Vorahnung schnürte ihr die Kehle zu, sie wusste einfach, dass das Folgende nichts Positives sein würde. Dabei war der Morgen so wunderschön gewesen. Nach diesem fantastischen Free‑Time‑Day und einer erholsamen Nacht. Auch Levi war guter Laune und Nanna hatte das Frühstück mit ihm genossen.
Doch das Hochgefühl war auf dem Weg hierher schnell verflogen. Hendrik hatte den ganzen Weg über geschwiegen bis an das äußerste Ende dieses Gebäudes. Bis hin zur Spitze von Maternita. Hier befand sich Carlas Reich.
Doch was zur Hölle sollte sie hier? Was wollte das Oberhaupt Maternitas ausgerechnet von ihr? Es musste verdammt ernst sein, so viel war gewiss.
Nanna krallte sich in das flauschige Kissen, auf dem sie saß. Unter anderen Umständen könnte sie es so sehr genießen, hier zu sein. Dieser Bereich war gigantisch, ein wahr gewordener Traum.
Die Aussicht erstreckte sich bis weit über die Baumwipfel hinweg. Nanna konnte das gesamte Gelände überblicken. Den hinteren Bereich mit den Eltern und Kindern - er wand sich in einem Halbkreis, bis weit in den Dschungel hinein.
Ganz hinten, Richtung Horizont erspähte Nanna ihr eigentliches Zuhause - Pueriton. Und links die Hügel, die im gleißenden Sonnenlicht mit dem Himmel verschmolzen.
Hier oben thronte man über allem. Carla thronte über allem. Sie hockte hier wie ein Raubvogel und kontrollierte alles und jeden. Was hatte sie nur mit Nanna vor? Sie war aufgeflogen, Hendriks Verhalten gestern hatte sie es schon vermuten lassen. Nun würde sich zeigen, wie mit Problemfällen umgegangen würde.
Nanna erhob sich, trat an die Fensterfront und sehnte sich den Mond herbei. Wie sehr sie sich wünschte, es wäre schon Vollmond und sie könnte einfach verschwinden. Zu ihrem Bruder. Raus zu den Profillosen. Es gibt sie wirklich!, stellte sie fest. Die Legenden stimmten. Sie hatte es stets gewusst, tief in ihrem Inneren sah sie die Menschen dort draußen vor sich, wie sie sich durch die Kälte der Eislandschaften kämpften, dem Hungertod nahe, immer auf der Suche nach einem sicheren Unterschlupf. Und erst die Wüste, die Hitze und Trockenheit. Es schien kaum wahrscheinlich, dass ihr Bruder noch lebte. Vielleicht gab es dort draußen doch keine einzige Menschenseele. Was war dann Nannas Aufgabe? Warum drängte Marius sie dazu und welchen Plan hatte ihr Vater für sie zurechtgelegt?
Nanna bremste sich, sie musste die Gedanken aus ihrem Kopf bekommen, sonst bemerkte Carla mit Sicherheit etwas. Bestimmt konnte sie Gedanken entschlüsseln.
Nannas Herz schlug noch schneller. Es war hoffnungslos. Sie käme Carla nicht aus, so nervös wie sie war. Sie war ein offenes Buch, dazu bräuchte Carla nicht einmal ihre Tricks. Nanna wendete sich vom Hügel ab. So viel Ungewissheit über ihr Schicksal zermürbte sie. Von allen Seiten krachten die Wände ein und überschütteten ihr Herz mit Geröll. Dieses wieder freizuschaufeln, würde Tage dauern. Wenn nicht gar Wochen. Nannas Arme und Beine wurden schwer von all den Steinen in ihrem Körper und die Gedanken zerbröselten zu Sand.
Kraftlos ließ sie sich auf den Stuhl sinken und ergab sich ihrem Schicksal. Was auch immer es bringen mochte, es lag nicht mehr in ihrer Hand. Eine Flucht war unmöglich, es glich dem Versuch, zu fliegen oder sich in Luft aufzulösen. Hier gab es kein Entkommen. Zu keiner Zeit, nicht, ohne eine spezielle, technische Funktion - die sie ohne Marius nicht bekommen würde. Nanna schloss ihre Augen. Die Sorgen hämmerten gegen die Lider.
„Meine liebste Nanna, bitte, trete herein".
Nanna zuckte zusammen unter dieser zuckersüßen Stimme. Sie lockte wie die böse Hexe aus den alten Märchen.
Nanna schlug ihre Augen auf und erhob sich. Es fiel ihr schwer. Sie schlurfte auf Carla zu, die wie eine Erscheinung in der Tür stand. Das Weiß ihrer makellosen Kleidung blendete Nanna geradezu. Die schwarzen Haare lagen wie ein Helm um ihr Puppengesicht. Rote Lippen formten einen Halbmond, die Mundwinkel nach oben. Durch und durch eine unmenschliche Erscheinung. Bedrohlich freundlich. Unnatürlich perfekt.
Als Nanna an ihr vorbeiging, roch sie Kirschen und Zuckerguss. Lavendel und Zitrone. Die Duftwolke trug sie in Carlas Reich.
„Setz dich doch, meine Liebe", trällerte Carla und schwebte geradezu vorbei. Sie machte eine Geste auf eine Sitzgelegenheit inmitten des Raumes - zwei pinkfarbene Sessel mit goldenen Verzierungen. Dazwischen ein Tischchen. Es hatte die Form einer Blume.
Nanna durchschritt den sonnendurchfluteten Raum - auch hier vollbrachte eine Glasfront mit Blick in den Dschungel diesen Lichtsegen. Dschungelgeräusche klangen an Nannas Ohren. Vogelgezwitscher und Blätterrauschen, doch diese kamen nur aus Lautsprechern. Einige Hologramme erschienen. Pflanzen und Blumen, die aus dem Nichts hervorsprießten und sich an die Decke schlängelten. Ab und zu flog ein Vogel über ihre Köpfe hinweg.
Wäre diese Situation nicht so bedrohlich, könnte man diesen Ort als schön empfinden. Doch Nanna konnte es kaum genießen. Sie setzte sich auf den Stuhl. Blieb starr wie eine Statue und krallte ihre Finger ineinander. Sie atmete flach, versuchte, an nichts zu denken - stellte sich den Mond vor und die Sterne, konzentrierte sich auf das immer gleichbleibende Bild.
Carla blieb stehen, beugte sich leicht zu ihr und fragte: „Möchtest du etwas trinken? Etwas essen?"
„Nein, danke!", antwortete Nanna. Ihre Stimme kratzte im Hals und die Worte purzelten unelegant heraus. Sie schluckte.
„Aber ich bestehe darauf, es wäre sehr unhöflich von dir, meinen selbstgebackenen Kuchen nicht zu kosten", säuselte Carla und Nanna fühlte sich erneut wie in einem Märchen. Sie schauderte. Musste sie jetzt tatsächlich etwas essen? Was sollte das? Nein, nicht denken, nicht grübeln. Carla fixierte sie, wartete auf ihre Reaktion. Wahrscheinlich hatte sie Nanna schon bis ins Kleinste durchleuchtet. Denke an den Mond!, rief sie sich ins Bewusstsein und nickte. „Ja, dann nehme ich gern ein Stück!"
Carla nickte ebenso. „Gute Entscheidung. Du wirst es nicht bereuen, mein Kind!"
Sie klatschte zweimal und eine Tür in der Wand öffnete sich. Ein Wagen fuhr heraus mit zwei Tellern und zwei Tassen. Es wurde serviert. Nanna starrte auf den Kuchen. Er sah lecker aus - Kirschkuchen mit Sahne und bunten Streuseln. In einer silbernen Tasse mit schwarzen Blumen schimmerte eine rötliche Flüssigkeit. Tee?
„Greif zu, meine Liebe", forderte Carla. Sie beobachtete jede von Nannas Bewegungen, bedrohte sie mit Blicken und trotzdem lächelte sie. Sie legte ihre Finger aneinander und tippte mit ihren Zeigefingern aneinander.
Nanna führte die Hand zur Gabel, dann zum Kuchen, stach ein Stück ab und führte es zum Mund. Was, verdammt noch mal, war in dem Kuchen, dass sie ihn essen musste?
Nanna schmeckte die Stücke auf ihrer Zunge. Die Kirschen weckten Sehnsüchte nach mehr Köstlichkeiten und die Sahne schmeckte zuckersüß. Nanna dachte an ihren letzten Geburtstag zurück, als sie sechzehn geworden war, da hatte sie sich mit Saraya gegenseitig die Sahne in die Haare geschmiert. Ihr Herz stolperte.
„Vermisst du deine Freundin sehr?", bohrte Carla in die Wunde.
Nanna fluchte innerlich, sie hatte ihr Mondbild fallengelassen, war das Carlas Ziel gewesen? Ein Test, ob der Kuchen ihre Sehnsüchte und Erinnerungen weckte? Und Nanna war drauf reingefallen. Sie senkte den Blick, fokussierte sich wieder. „Ja, ein wenig schon", murmelte sie.
„Du siehst sie wieder, wenn sie hierherkommt", stellte Carla fest. „Nun iss weiter, mein Kind, und vergiss nicht, dabei deinen Tee zu trinken." Nanna wurde übel, ihr Magen krampfte, wehrte sich, doch ihr blieb keine Wahl. Sie musste nun mitspielen.
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