Annäherungen
Mit vollen Bäuchen und einem Lächeln auf den Lippen lagen sie nebeneinander und blickten in den Himmel über dem Dschungel. Das Zirpen der Grillen, das Plätschern des Wassers und das Quaken einer Kröte im Ohr. Den Duft von Magnolien und Lavendel in der Nase, das Gefühl von Freiheit im Herzen. Ein Stückchen Freiheit, auch wenn es nur für diesen Moment war. Am liebsten würde Nanna hierbleiben, sich eine kleine Hütte bauen und einsam sein. Einsam aber frei. Doch das war nicht erlaubt und Marius hatte ihr erst gestern Nacht eröffnet, dass sie einen Weg zu gehen hatte, und der führte hinaus aus der Kuppel.
„Hey, was hältst du von einer Runde Schwimmen?" Levis raue Stimme raschelte wie die Blätter im Wind. Nanna hatte beinahe vergessen, dass er neben ihr lag. Doch nun klärte sich ihr Bewusstsein und sie vernahm seinen tiefen gleichmäßigen Atem, seinen Geruch, der ihr leicht in der Nase stach und doch ihren Herzschlag dezent beschleunigte. Was hatte er da gerade gefragt? Baden gehen? Mit ihm?
„Ich ... du meinst einfach so? Mit unseren Kleidern?" Sie benahm sich schon wieder wie ein kleines Mädchen. Zum Glück sah er ihren Gesichtsausdruck nicht, er würde ihre Unsicherheit sofort spüren.
„Natürlich ohne Kleidung, wir sind doch nun ein Paar. Du wirst mich noch öfter nackt sehen und ich verspreche dir, du wirst mich gern so sehen." Er lachte laut auf und sprang auch schon auf die Füße. Noch während er auf dem Weg zum Bach war, schleuderte er zuerst sein Shirt und dann seine Leinenhose in hohem Bogen über seine Schulter. Nannas Herz blieb stehen, als sie seinen Körper und alles was dazugehörte erblickte. Doch viel konnte sie nicht denken, denn schon sprang er mit einem lauten Klatschen ins Wasser und das Geräusch drängte auch Nanna dazu, sich sofort auf der Stelle abzukühlen. Doch sie scheute sich. Niemals würde sie dasselbe tun wie Levi.
„Jetzt komm! Ich dreh mich auch um und schau erst wieder hin, wenn du im Wasser bist. Versprochen!"
Konnte sie ihm trauen? Die Verlockung war groß. Nichts lieber wollte sie als da hineinzuspringen. Das Wasser glitzerte in der Sonne und lockte sie mit kühlen Versprechungen. Sie zögerte, stand aber schließlich auf und überprüfte, ob Levi es ernst meinte. Sie sah seinen schwarzen Haarschopf, wie er in einer dunklen Ecke bei den Felsen hin und herschwamm. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen.
„Dir werd ich's zeigen, unterschätz mich bloß nicht", murmelte sie und ihr Herz drohte, aus ihrer Brust herauszuspringen. Doch ihre Stimmung war so over the top, dass sie zum ersten Mal in ihrem bisherigen Leben ihre Gedanken stoppte, ihr Kleid mit einer Handbewegung über den Kopf zog und wie von der Tarantel gestochen auf die Bucht zulief. Sie sprang und tauchte hinab in die fantastischste Erfrischung seit Langem. Das Wasser schlug über ihr zusammen und das taube Gefühl war so unvergleichlich selig wie kaum etwas anderes. Sie hatte es wirklich gemacht! Sie schwamm nackt in einem Bach im Dschungel mit einem Mann! Sie sah schon jetzt Sarayas Grinsen vor sich.
Als sie wieder auftauchte, empfing sie ebenso ein Grinsen, aber nicht von Saraya, sondern von Levi. Das nasse Haar klebte ihm im Gesicht und die Augen blitzten abenteuerlustig hindurch. Er hob den Finger über die Wasseroberfläche und schnipste ihr was davon ins Gesicht. „Ich glaube, ich habe dich tatsächlich gerade unterschätzt, hab nicht mit dir gerechnet, Mondlady."
Nanna versuchte, trotzig zu gucken, doch der Stolz zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. „Tja, unterschätze niemals ein Mädchen. Sie sind immer für eine Überraschung gut und tapferer als ihr Männer vielleicht denkt."
„Komm, wir schwimmen da nach hinten zu den Felsen, da ist eine schöne warme Stelle, wo man sich auf die glatten Felsen im Wasser setzen kann. Keine Angst, das Wasser ist so trüb von den Pflanzen, ich werde nichts von dir sehen. Auch wenn es Blödsinn ist, sich zu genieren, wir sind wie gesagt ein Paar und werden noch öfter das Vergnügen haben."
Nanna warf ihm einen schmunzelnden Blick zu und schwamm neben ihm her.
Hinten bei den Felsen setzte sie sich im Wasser auf einen Stein und lehnte sich an den kühlen Felsen im Rücken. Levi setzte sich neben sie. Jetzt bloß nicht bewegen, nicht dass er auf dumme Gedanken kam, die Situation forderte schon fast einen ersten Schritt seinerseits in Richtung Eheverhältnis. Doch Levi blickte gedankenverloren in die Ferne und schien nicht an solche Dinge zu denken. So schien es zumindest. Nanna versuchte, sich zu entspannen, sie musste diesen Tag in vollen Zügen genießen, bevor sie wieder in die kalte tote Welt Maternitas geworfen würde.
„Es ist ein Traum hier, daran könnte ich mich gewöhnen", murmelte sie. „Wir waren zwar früher oft im Dschungel, aber solch ein Paradies habe ich nie gesehen. Du?", fragte Nanna.
„Ich wusste nicht, dass sich die Androiden so für uns ins Zeug legen, sieht ihnen so gar nicht ähnlich."
„Ja, das ist wirklich seltsam." Lag es daran, dass sie sich wohlfühlen sollten, um leichter Kinder zu bekommen? Es musste einen praktischen Grund haben, sonst hätte es keinen Nutzen für die Androiden und die Gesellschaft Elysions. „War es wirklich so schlimm bei euch in Pueriton?" Nanna wollte die gute Stimmung nicht gefährden, aber ihre Neugierde drängte sie dazu.
„Merkt man mir das etwa nicht an? Ich kämpfe jede Nacht mit meinen Dämonen. Ich weiß nicht, ob es all den anderen auch so geht, aber für mich war es die Hölle."
„Warum kannst du dich an die schlimmen Dinge erinnern? Wird nicht alles Negative gelöscht? All die negativen Erinnerungen entfernt?"
Levi fuhr mit der Hand durchs Wasser, um die innere Anspannung herauszulassen höchstwahrscheinlich. Er zog immer dieselben Kreise und die Wellen schlugen um die beiden herum. Nanna zog die Knie dicht an ihre Brust und schlang die Arme darum. So fühlte sie sich am sichersten. So ganz traute sie Levis friedvoller Stimmung nicht. Es konnte ganz schnell umschlagen, so wie die Wellen um sie herum.
„Doch, deshalb kann ich es dir auch nicht genau erzählen. Aber genau das ist es, was mich wahnsinnig macht. Ich sehe da diese Dunkelheit, ich sehe diese schlimmen Bilder in meinen Träumen und weiß nicht, was wahr davon ist und was pure Einbildung. Es ist immer dasselbe Bild von Gesichtern und Händen, die sich an mich klammern, die um Hilfe rufen, die mich schlagen, die nach mir treten, die in einem tiefen schwarzen Nichts verschwinden. Aber ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat."
Nanna fühlte mit ihm, sie verstand jedes Wort. Ihr erging es ähnlich, nur nicht so düster. Bei ihr waren es helle Bilder, nicht so bedrohlich, doch auch beängstigend und beklemmend. Waren es ihre Erinnerungen, die sie quälten, weil sie niemals vollständig gelöscht werden können? Erging es vielleicht allen in Elysion so? Vielleicht kannte auch Saraya solche Träume, solche Albträume, nur nicht so stark. Womöglich kam es doch auf den jeweiligen Charakter an, wie man damit klarkam. Dann waren sich Levi und Nanna ziemlich ähnlich, nur jeder ging anders damit um. Er reagierte mit Aggression und Ablehnung, sie mit Abwesenheit und Überforderung. Doch warum wurde es bis jetzt von den Androiden toleriert? Das passte alles nicht zusammen.
„Dann geht es dir wie mir. Auch ich werde von meinen Visionen gequält. Und sie werden immer stärker, immer fordernder."
Levi atmete lange aus, seufzte und schob das Wasser energisch beiseite. Er machte einen langen Zug, drehte sich um und schwamm rückwärts weiter. „Komm, lass uns nicht über sowas reden, das verdirbt den schönen Tag. Genießen wir ihn einfach."
Der Tag ging viel zu schnell vorbei, doch schon in sechs Tagen käme wieder ein Free-Time-Day und dann könnten Levi und Nanna erneut einen wundervollen Tag verbringen. Und in sieben Tagen würde sie Elysion verlassen – falls alles nach Plan liefe − daran klammerte sie sich, um all das, was noch kommen mochte, zu überstehen.
***
In dieser Nacht benutzte Nanna den Dreamwalker nicht. Hendrik hatte sich seltsam benommen, als er sie zurück in ihre Wohnung geführt hatte. Sie wurde das seltsame Gefühl nicht los, dass er etwas ahnte, oder bereits wusste. Seine Blicke, seine Anspielungen, die höchst verdächtige Verabschiedung. Vielleicht bildete sie sich alles nur ein, aber dennoch wollte sie auf Nummer sicher gehen. Und auch wenn sie es kaum mehr aushalten konnte, mit Marius über ihre Flucht zu sprechen und Antworten auf ihre viel zu vielen Fragen zu erhalten, so wusste sie einfach, dass es das beste so war. Sie hatte Saraya eine kurz Nachricht geschickt und war dann sogleich in einen tiefen Schlaf gesunken.
Dieses Mal konnte sie sich neben Levi entspannen. Es beruhigte sie sogar, seinen regelmäßigen Atem zu hören und seinen schon so vertrauten Geruch zu vernehmen. An diesem Tag und in dieser Nacht tankte Nanna neue Energie, was dringend nötig war.
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