Kapitel 1
Sie blickte aus dem Fenster. Sie war in einem Haus, in dem all die Leute gesichtslos waren, in dem die Luft kalt und blau war. Jeden Morgen hob sich ein Vorhang vor diesem Haus. Nur war er nicht rot wie im Theater, wo man sich eine heitere Vorstellung erhofft. Nein, er war schwarz. Er hob sich schwerfällig, tropfte an den Wänden hinunter von all der schuldvollen Last, es bildeten sich schwarze Pfützen auf dem Rasen.
Die tägliche Vorstellung begann. Die Menschen in dem Haus handelten nicht irrational oder unüberlegt, unvorsichtig. Jeden Morgen begann es zu rattern und klappern, sie erhoben sich, setzten ihr aufgesetztes Lächeln auf, sagten ihre eingeübten Worte, taten ihre einstudierten Gesten. Alles war blass um sie herum. Die Sonne schien auf den schwarzen Vorhang. Sah ihn jemand?
Sie trat vor die Tür, achtete darauf nicht in die Pfützen zu treten. Der Schnee schmolz. Sie ging die Straße entlang und ließ den Blick durch die Häuserreihen schweifen. Sie spürte Blicke auf ihr ruhen, versteckt hinter schwarzen Vorhängen. Sie zog ihre Mütze tiefer ins Gesicht und blickte zu Boden. Sie sah ihr verschwommenes Spiegelbild in einer Pfütze. Mit ihren langen braunen Haaren und den gewöhnlichen braunen Augen unterschied sie sich von niemandem hier.
Sie kam an der Bushaltestelle an und blickte auf. Dort saß nur ein Junge auf der Bank. Wie jeden morgen. Sie kannte ihn. Allerdings nur vom sehen. Aus der Ferne. Er wohnte am Ende der Straße und ging mit ihr auf die selbe Schule. Sie fragte sich, warum gerade er ihr aufgefallen war. Es lag nicht an seinem Aussehen, an seinen schwarzen Haaren oder blassen Haut.
Sie hatte ihn einst das erste Mal gesehen und beobachtete ihn seit jeher. Wie er immer in den Pausen draußen allein an der Wand lehnte, mit den Händen in den Hosentaschen und scheinbar ins Nichts starrend. Wie er im Unterricht saß, mit einem genervten Zug um den Mund, so als ob er alles schon längst wüsste und er die Schule nur aus reinem Pflichtbewusstsein besuchte.
Mittwochs blieb er immer länger in der Schule, er gab Klavierunterricht. Das wusste sie, denn sie hatte ihn ein paar mal durch ein Fenster sehen können. Sie hatte ihn aber noch nie spielen gehört.
Sie setzte sich neben ihm auf die Bank. Er hatte die Hände in die Jackentaschen vergraben und schaute zu Boden. Genau wie sie.
Sie fragte sich, ob sie das hier für immer wollte. Sie fing schon vor einiger Zeit an, sich Gedanken um einige Dinge zu machen. Dabei hatte sie bemerkt, dass ihr etwas fehlte. Es traf sie nicht wie ein Schlag, sondern hörte sie es, als ob etwas zerbrechen würde. Etwas fehlte ihr schon seit langer Zeit, so unwichtig, das es nicht in ihrem Leben nötig war, etwas von gar absurder Nichtigkeit. Doch wiederum so wichtig, dass es ihr dennoch aufgefallen war.
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