Nächte in Nordeis (zweiter Akt)

Er hasste es. Das Waisenhaus war für ihn zum Symbol des Spottes geworden, den man seiner Mutter entgegenbrachte. Jetzt hatte Marko fast niemanden mehr. Einzig seine kleine Schwester, Fida, war ihm geblieben.
Und Fida... Fida schien das Waisenhaus gar nichts auszumachen.
Sie redete, lachte und spielte mit den anderen Kindern, fast als würde sie die Mutter gar nicht vermissen. Es tat Marko weh es mit anzusehen, aber er musste Fida vergeben. Seine kleine Schwester war schon immer anders gewesen, als die Mutter und er.

Seit sie in Venedig, oh wie vermisste Marko Venedig, in die Schule gegangen war, hatte sie sich von ihrer dämonischen Herkunft distanziert. Marko hatte das nie verstanden. Die anderen Jungen und Mädchen, die in der Fabrik gearbeitet hatten, waren immer sehr beeindruckt von seinen Fähigkeiten gewesen. Wieso hätte dies in der Schule anders sein sollen?
Natürlich hatte Marko auch von den Gerüchten über die 'Dämonendirne' mitbekommen, doch die hatten ihn genauso wenig gekümmert wie seine Mutter.

Jetzt war Madame Bianco weg und ihr Sohn bezweifelte, dass er sie je wieder sehen würde.
Er war mit seinen siebzehn Jahren sowieso zu alt für das Waisenhaus. Bald würde man ihn vor die Tür setzen, damit er sein eigenes Leben anfangen konnte, schließlich würde er, sobald er 19 war, den vollen Lohn bekommen.
Auch Fida würden sie sicher bald als Hausmädchen zu irgendeiner großbürgerlichen Familie schicken. Das machten sie manchmal sogar schon mit 14jährigen Mädchen. Fida, 15 Jahre alt, hatte ja ein riesen Glück, dass sie noch so kindlich aussah und sich auch so benahm. Für immer würde sie das aber nicht schützen. Dann hätte Marko gar niemanden mehr.

Mit Tränen in den Augen hockte der junge Mann auf der Fensterbank seines Zimmerchens und las in dem fetten Buch, das die Mutter ihm vermacht hatte. Als er noch sehr klein gewesen war, hatte die Mutter ihm das Lesen beigebracht.
Er war nicht so gut darin wie Fida, da er die Schule nie besucht hatte, und so dauerte es ewig sich durch die Seiten zu arbeiten. Aber Marko gab es nicht auf. Nur wenn er sich das geheime Wissen des Buches aneignen konnte, gab es eine Chance, dass er vielleicht doch noch eine Familie haben könne. Schließlich gab es noch den Vater.
Hoffentlich fand er in Mutters mystischen Buch Informationen darüber, wie er mit diesem Kontakt aufnehmen konnte.

Marko hatte seinen Vater einmal getroffen, als er noch sehr klein gewesen war.
Er war an diesem Tag in Madame Biancos Wohnung zurückgekehrt, nachdem er für ein paar Centisimo den Hof des reichen Nachbarn gefegt hatte.
Damals hatte die Familie dieses Geld nicht gebraucht, aber Marko gefiel die Vorstellung, dass er helfen konnte.
Völlig erschöpft von der schweren, körperlichen Arbeit, hatte er die Tür zur Wohnung aufgemacht und hatte eine große, bleiche Gestalt gesehen, die mit der Mutter redete.
Die Gestalt schien vollkommen aus Eis gemacht zu sein, hatte gebogene, eisige Hörner auf der Stirn und Augen in der Farbe, die auch das Gletschereis in den Alpen annimmt, wenn die Sonne darauf scheint.
Der Dämon war in einen weiten Pelzmantel gehüllt gewesen und hatte buschiges schneeweißes Haar auf dem Kopf gehabt, dass an mit Raureif überzogene Spinnennetze erinnerte.

Nervös war Marko näher an ihn herangetreten und hatte mit zitternde Stimme gefragt: "Wer seid Ihr denn?"
Plötzlich war auf dem Gesicht des Dämons die Sonne aufgegangen, zumindest hatte es so ausgesehen. Sein zuvor grimmig dreinblickender Mund hatte sich zu einem Lächeln verbogen, und seine Gletscheraugen hatten hell gefunkelt.
"Sei gegrüßt!", hatte der Dämon gesagt, "Du musst Marko sein. Ich bin Alges, dein Vater. Sicherlich hat die reizende Madame Bianco dir schon viel von mir erzählt."
Mit diesen Worten hatte der Dämon Marko und seine kalten Arme geschlossen, ihn hochgehoben und glücklich im Kreise gewirbelt. Der kleine Marko hatte gelacht und auch von Alges war ein fröhliches Grollen gekommen.

Lange hatte der Vater aber nicht bleiben können. Er fürchtete einen Fuch der Malitia und außerdem gab es Angelegenheiten, um die es sich in Nordeis zu kümmern galt.
Viel zu bald hatte sich Alges auch schon von Marko und Sofia verabschiedet und sich zum gehen gewandt.
Kurz bevor er aus der Tür getreten war, hatte er sich noch einmal zu Marko umgedreht, war in die Hocke gegangen und hatte gesagt: "Wenn du einmal meine Hilfe brauchen solltest, mein Sohn, dann zögere nicht dich zu melden, ja."
Marko hatte nur genickt.

Jetzt hätte Marko Bianco wirklich Hilfe brauchen können, doch leider hatte der junge Mann keine Ahnung, wie er seinen Vater kontaktieren sollte.
Seit er in das Waisenhaus eingeliefert worden war, kämpfte er sich nun schon durch den dicken Welzer, den seine Mutter aus dieser Schnöselschule gestohlen hatte, doch er fand kaum Brauchbares.

Es gab ein paar Runen, die angeblich Magie erzeugten.
Auch die Mutter hatte des öfteren von Runen gesprochen, und sie auch in ihrer Arbeit als Medium hin und wieder eingesetzt.
Aber Fida und Marko hatte sie nie viel über ihre Verwendung beigebracht.
Marko versuchte nun mit jenen Runen, kombiniert mit seiner eigenen, dämonischen Magie, einen Weg zu finden den Vater zu kontaktieren.

Wochen lang konnte er keine Erfolge verzeichnen. Trotzdem gab Marko die Hoffnung nicht auf. Sogar seine zwei Köfferchen hatte er vorsichtshalber schon einmal gepackt, falls der Vater bereit wäre ihn sofort mitzunehmen. Dann entdeckte er eine Rune, um die Sophia mit grüner Tinte einen verschmierten Kreis gemalt hatte. Daneben war in der krakeligen Schrift Madame Biancos 'Rufen' geschrieben worden. Marko konnte sein Glück kaum fassen. War dies der Durchbruch? Hatte er endlich eine Rune gefunden, mit der er einen Dämon aus Tendämlow rufen konnte?

Eilig nahm Marko ein Stück Kreiden, aus den Medieumssachen der Mutter, und zeichnete mit zitternden Fingern die Rune auf den Boden. Für einen kurzen Moment geschah absolut nichts. Enttäuscht legte Marko die Kreide in die kleine, goldene Schatulle zurück. Es hatte also schon wieder nicht geklappt. Dann stieg von der Rune Rauch auf.
"MIO DIO!", schrie Marko und griff sich ein Hemd, um im Notfall das Feuer ausschlagen zu können.

Pinke Funken schossen die Linien der Rune entlang. Sie sprangen von Eckpunkt zu Eckpunkt und füllten den Raum mit einem Geruch, wie von schwerem Parfüm.
Marko hustete. Die Funken flogen zur nächsten Rune und zur Nächsten und zur Nächsten.
Bei jedem Zeichen nahmen sie eine andere Farbe an.
Mal waren sie blau, mal lila, mal grün, mal rot, mal orange, mal gelb, mal silbern. Rauch, immer in der gleichen Farbe, die auch die entsprechenden Funken hatten, stieg über den magischen Zeichen auf und zog, einem Kometenschweif gleich den Funken hinterher.

Jede Farbe hatte ihren ganz eigenen Duft, mal wie von Wiesen, wie vom Meer, wie von Gebäck, wie von Nadelwälden und andere Gerüche, die in der Vielfalt untergingen.
Und die Funken sprangen, wie im Tanze, umher und bildeten ein undurchdringliches Netz aus Licht und Farbe.
Mittendrin saß Marko Bianko, mit weit aufgerissenen Augen.
Die Funken schossen um ihn herum, doch sie berührten ihn nicht. Der duftende Rauch bildete über ihm eine bunte Decke.

Plötzlich, als hätten die Funken ein Kennenlernritual beendet, von dem Marko freilich nichts verstand, verharrten sie mitten in der Luft, oder auf dem Boden, genau da wo sie waren, als wären sie in der Zeit festgefroren. Ein lautes Surren, wie von einem riesigen Bienenschwarm, füllte den Raum. Es schien von den Funken zu kommen. Und dann, als hätte man ihnen ein unsichtbares Signal gegeben, das sonst niemand wahrnehmen konnte, sprangen alle Funken gleichzeitig auf einen Punkt direkt vor Markos Füßen.

Die bunten Lichtkleckse türmten sich immer höher auf, bis sie den jungen Mann überragten. Die duftende, surrende Säule aus Licht verharrte, leicht schwankend, vor demjenigen, der die Runen gezeichnet hatte, denen sie entsprungen war.

Marko zitterte am ganzen Leib. "Vater?", flüsterte er, darauf hoffend, dass der Vater ihn durch die Säule hören konnte, "Alges?"
Das Surren der Säule wurde immer lauter. Die Funken wurden immer heller und immer mehr Rauch füllte den Raum. Die leuchtende Säule schwankte bedrohlich von einer Seite zur anderen, neigte sich mal über ihren Schöpfer und dann wieder von ihm weg. Die bunten Funken schienen wild in der Säule im Kreis zu wirbeln, als hätte eine Windhose sie erfasst.
Marko wollte rückwärts vor ihnen zurückrutschen, doch fürchtete er in einer der, bestimmt immer noch höllisch heißen, Runen zu landen.
Dann sausten die Funken mit einem Zischen auseinander und explodierten knallend, wie hunderte kleine Feuerwerke, an der verrauchten Decke.
"Mio Dio!", hauchte Marko.

Die Runen auf dem Boden sahen wieder aus wie zuvor.
Einzig der bunte Rauch waberte noch die Decke entlang, als Beweis, dass die Geschehnisse, welche sich Sekunden zuvor ereignet hatten, real gewesen waren.
Ohne Vorwarnung bildete der Rauch einen Strudel, der sich nach unten zog, an dem Punkt, an dem die Lichtsäule gestanden hatte, Halt machte und eine Gestalt formte.
Langsam wurden die Details der Gestalt erkennbar.
Alges, der Frostdämon, stand über einen, nicht erkennbaren, Tisch gebeugt da und schien etwas Wichtiges zu lesen.

"H-hallo.", stammelte Marko. Überrascht hob der Vater den Kopf und sah den jungen Memon einen Moment lang verwirrt an. Dann breitete sich jenes fröhliche Lächeln auf seinem blassen Gesicht aus.
"Ich grüße dich, mein Sohn, schön mal wieder von dir zu hören! Wie geht es dir? Deiner Mutter?", frohlockte Alges.
Marko ließ den Kopf hängen.

"Wenn ich ehrlich sein soll, momentan ist unsere Situation nicht sonderlich erfreulich. Wir mussten Venedig verlassen und sind nach Bulgarien gezogen. Wegen dem Krieg, weißt du.
Und als der Krieg vorbei war, da konnten wir nicht nach Hause, weil da dieser Kerl war, dieser Mussolini, der hat uns Slawen gejagt.
Und die Leute hier, die dachten Mutter ist verrückt. Die haben sie weggesperrt, nur weil sie die Wahrheit gesagt hat. Und jetzt... jetzt sind Fida und ich in einem Waisenhaus.
Es ist schrecklich hier!
Bitte, Vater, bitte, ich will hier weg! Du hast mir gesagt, ich solle mich melden, wenn ich Hilfe brauche.
Ich brauche jetzt Hilfe!
Kann ich bei dir wohnen? Vielleicht nur eine Zeit, bis ich auf eigenen Beinen stehen kann?
Ich will nicht in einer Welt wohnen bleiben, die mir nur Argwohn und Hass entgegenbringt.
Wenn sie Mutter nicht glauben, wieso sollten sie mir glauben?
Ich weiß was ich bin! Ich werde es nicht verstecken! Ich meine, die haben meine spitzen Ohren gesehen, die haben gesehen, dass ich sogar bei klirrender Kälte arbeiten kann, sie haben meine spitzen Zähne und meine Krallen gesehen, aber sie glauben mir nicht. Was will ich in einer Welt, die die Wahrheit nicht akzeptiert wenn man sie vor ihre Nase hält?"

Tränen flossen Markos bleiches Gesicht herab, als er an all die traurigen Ereignisse der letzten Jahre dachte. Wie hatte er nur so schnell so viel verlieren können?
Der Vater sah ihn mit einem mitleidigen Blick an und nickte.
"Natürlich darfst du bei mir wohnen bleiben. Du bist mein Sohn, du musst nicht irgendwann weggehen. Ich werde dich in 20 Minuten abholen kommen, damit du dich noch vorbereiten kannst. Vielleicht möchtest du dich ja von deiner kleinen Schwester verabschieden. Ich freue mich schon darauf, dich bei mir zu haben. Es ist sehr einsam in meinem Haus, ich habe mir immer eine Familie gewünscht. Ich habe einen kleinen Textilbetrieb, da kannst du arbeiten wenn du möchtest. Sofia hat mir immer erzählt, dass du unbedingt arbeiten möchtest. Du musst aber nicht, das ist lediglich ein Angebot.", schilderte der Vater und lehnte sich ein bisschen nach vorn.

Er berührte etwas, dass Marco von seiner Position aus nicht sehen konnte, das Bild flimmerte und der Rauch löste sich auf.
Immer noch völlig verdutzt blieb Marco einige Momente auf dem Boden sitzen, dann sprang er eilig auf die Füße.

Er durfte keine Zeit verlieren! Schnell griff er seine beiden, gepackten Köfferchen und überprüfte noch einmal, dass er auch ja alles eingepackt hatte, das er brauchen würde.
Dann lief er zum Fenster und sah sehnsüchtig hinaus. Draußen, auf der Wiese, spielte Fida im Abendlicht mit ein paar anderen Kindern Ball. Das Mädchen lachte, als sie das Schweinsleder in die Luft warf und ein anderes es, ebenso lachend, fing. Eine einsame Träne kullerte über Marko Biancos Gesicht und er lächelte traurig.

Ja, Fida wäre in dieser Welt viel besser aufgehoben. Mit ihrer dämonischen Seite wollte sie schließlich sowieso nichts zu tun haben.
Es wäre besser für sie, wenn sie hier bleiben würde, und das würde sie sicher nicht, wenn Marco ihr von seinem Plan aufzubrechen erzählen würde.
"Aufwiedersehen, Fida, ich werde dich vermissen.", flüsterte Marko und wandt sich vom Fenster ab.

Als Alges durch sein Portal schritt, strahlte er förmlich vor freudiger Erwartung. Mit einem breiten Lächeln schloss er seinem Sohn in die Arme.
"Bist du soweit?", fragte er und legte Marko behutsam eine Hand auf den Rücken. Dieser nickte nur, er fürchtete, würde er den Mund aufmachen, so würde er in Tränen ausbrechen. Und er wollte den Vater ja nicht glauben lassen, er wolle nicht nach Tendämlow reisen. Nein, selten hatte etwas mehr gewollt, und dennoch schmerzte es diese Welt, und vor allem seine Schwester, zurückzulassen.

Zusammen mit dem Vater lief Marko durch das Portal und drehte sich nur noch um, um den Schrank davor zu schieben, damit die Mönche es nicht finden würden.
Die Welt, in die die kleine Familie trat, war anders, als alles, das Marko je gesehen hatte. Es war stockdunkel, dicke Schneeflocken fielen gemächlich vom Himmel und bedeckten den Boden, wie tausende Federn.
"Wir werden noch ein bisschen laufen müssen, mein Sohn.", stellte Alges lächelnd klar, bevor er in die Dunkelheit davonschritt. Marko beeilte sich ihm zu folgen, wobei ihm auffiel, dass nur er Fußstapfen im Schnee hinterließ, während es keine Hinweise gab, dass der Vater je dagewesen war.

Alges' Haus war gigantisch.
Er erklärte Marko, dass er das Gebäude von seinem Großvater geerbt hatte, der den Textilbetrieb aufgebaut hatte.
Marko staunte nicht schlecht. "Hast du auch Bedienstete?", fragte er aufgeregt.
Doch der Vater schüttelte nur traurig den Kopf und sagte, dass der Betrieb schon lange nicht mehr so gut laufe wie zu Gründungszeiten, weil eine junge, aufstrebende Unternehmerin aus Est, eine gewisse Runa, ihm die Kunden abwarb. Trotzdem,versicherte Alges, konnte er es sich leisten das große Haus zu unterhalten. Marko hatte damit kein Problem.
Er hatte nie Bedienstete gehabt, wieso sollte er sie jetzt brauchen?

Nachdem Alges seinen Sohn durch die unzähligen Räume des Hauses geführt hatte, brachte er ihn zu einem Zimmer im Westflügel des Anwesens, der beheizt war und kälteempfindliche Geschäftspartner beherbergen sollte. Der Flügel war leer, aber die Heizung summte gelassen in den Wänden. Laut dem Vater bestand sie aus mit Feuer beheizten Lüftungsschächten.

Marko Bianco, den Mangel der letzten Jahre gewöhnt, staunte nicht schlecht, als er sein riesiges Zimmer betrat.
Der Boden war mit einem flauschigen Teppich bedeckt, in einer Ecke stand ein prächtiges Himmelbett und vor einer riesigen Fensterfront stand ein massiver Holzschreibtisch.
An der Wand, dem Bett gegenüber, prasselte ein Feuer in einem Kamin. Ein Sessel mit Samtbezug stand vor einem kleinen Tischchen, vor dem Kamin, auf dem ein Teller mit Keksen plaziert worden war. Daneben fand sich eine Tür.

"Wow.", hauchte Marko.
Alges lächelte.
"Gefällt dir dein neues Zimmer?", fragte der Vater vorsichtig.
Sofort nickte Marko.
"Auf jeden Fall!", rief er.
Der Vater kicherte und zeigte auf die Tür. "Dahinter ist dein Badezimmer, hinter den Glastüren ist ein Balkon. Ich lasse dich jetzt alleine, damit du erst einmal in Ruhe auspacken kannst. Schlafe morgen doch aus, ich werde sehen, wie ich dich im Betrieb unterbringe.

Marko nickte nur stumm, mit herunter gefallener Kinnlade. Ein Badezimmer und ein Balkon? Nur für ihn allein? Das war ja unfassbar!
Als der Vater das Zimmer verlassen hatte, hängte Marko seine Hosen und Hämden in einen Schrank neben dem Bett und stellte Mutters Buch und seine Holzsoldaten auf den Kaminsims.
Kurz hilt er den angekokelten, preußischen Soldaten in der Hand, den seine Schwester vor langer Zeit an Weihnachten aus den Flammen gerettet hatte und Tränen stiegen in seine Augen.
Er vermisste seine kleine Fida jetzt schon.

Er stellte den Soldaten an seinen Platz neben der Kreideschatulle und lief zu der Türe, hinter der laut dem Vater das Badezimmer lag.
Auch dieses war gigantisch.
Eine große Badewanne mit einem riesigen Duschkopf stand an der hinteren Wand.
Flauschige Handtücher waren auf einem glänzenden Waschtisch gefaltet.

Überglücklich zog Marko sich aus, warf seine Kleider in den Wäschekorb, hängte seine Hosenträger an den Kleiderständer und sprang unter den Duschkopf.
Die Dusche hatte sogar warmes Wasser und Marko benutzte es, nur weil es so ein Luxus war, auch wenn er eigentlich kaltes bevorzugte.
Nach dem Duschen rieb er sich mit einem der Handtücher ab, streifte sein Nachtgewand über und schlüpfte ins Bett. Die Matratzen waren weich und bequem. Schon lange hatte Marko sich nicht mehr so wohl gefühlt. Schnell war er eingeschlafen.

Als Marko am nächsten Morgen erwachte, war es vor dem großen Glastüren immer noch dunkel, aber er glaubte sich zu erinnern, dass die Mutter einmal gesagt hatte, dass in Nordeis fast nie die Sonne aufging.
Der junge Mann stand auf und streckte sich genüsslich, dann machte er sich frisch für den Tag. Aus reinem Luxus duschte er erneut.

Auf dem Tischchen, neben den Keksen, fand er eine Notiz des Vaters vor, die ihm mitteilte, dass sich dieser in seinem Büro aufhielt und Marko sich doch einen schönen Tag machen sollte. Beschwert wurde das Blatt von einer Tasse gefüllt mit einer dampfenden Flüssigkeit. Marko lächelte glücklich, nahm die Tasse und die Kekse und beschloss sich damit auf den Balkon zu setzen.

Auf der anderen Seite der Glastüren war es kalt und windig, doch Marko, der ja zur Hälfte Frostdämon war, machte das nichts aus.
Der Balkon war überdacht, so dass sich die Schneeflocken nicht auf den luxuriösen Polstermöbeln niederlassen konnten.

Marko wählte einen Sessel und begann genüsslich sein Frühstück zu vertilgen. Die Kekse schmeckten köstlich und auch das Getränk war vorzüglich, auch wenn Marko noch nie so etwas gekostet hatte.
Die Flüssigkeit erinnerte ihn ein bisschen an mit Honig gesüßten Entenbraten, oder doch irgendwie an Salbei.
Er konnte es nicht richtig beschreiben, es musste etwas aus dieser Welt sein. Verträumt starrte Marko Bianco in die Dunkelheit, die den eisigen Kontinent umhüllte. Während er geschlafen hatte, hatte es wohl aufgehört zu schneien.

Als er sein Frühstück beendet hatte, stand er auf und lief nach vorn, zur Brüstung des Balkons. Auf dem verschnörkelten Metallgeländer hatte sich Schnee gesammelt. Mit einem breiten Grinsen konzentrierte sich Marko auf die weißen Flocken, sammelte seine Magie und ließ sie zu fetten Schneebällen werden. Diese ließ er in die Luft schweben und schoss sie, mit der Kraft seiner Gedanken, in die Dunkelheit davon. Er lachte. Dieser Ort war wie für ihn gemacht, oder eher, er war wie für diesen Ort gemacht.

Plötzlich sah Marko ein kleines Licht, das irgendwo auf der Eiswüste aufflackerte.
Kurz danach war es wieder verschwunden. Marko beugte sich nach vorn und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können was dort geschah.
Erneut war Nordeis in Dunkelheit gehüllt.

Dann flackerte das Licht wieder auf, es war größer als zuvor und es wurde immer größer. Wie eine fliegende Flamme schoss es durch die Luft und erhellte das Eis, ließ es blau erstrahlen.
In der Mitte der Flammen glaubte Marko eine kleine Gestalt zu erkennen.
Wie konnte das sein? Wer war da draußen auf dem Eis? Die Flamme wurde immer größer.
Plötzlich ertönte ein Schrei, gellend und schrill hallte er über die stille der Eiswüste, schickte eine Welle des Entsetzens geradewegs in Markos Herz und das Licht verschwand.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.
Fida!
Seine kleine Schwester musste ihm gefolgt sein!
Fida konnte Feuer kontrollieren!

Panisch eilte Marko zurück ins Haus. Wo war noch gleich das Büro des Vaters gewesen?
Im Ostflügel.
Marko rannte schneller. Er nutzte seine Eiskräfte und verwandelte Treppen in Rutschen. Er schlitterte durch Gänge. Er glitt an unzähligen Türen vorbei, dann stand er vor dem Raum, in dem Alges seine Arbeit verrichtete.
Für Formalitäten hatte Marko jetzt keine Zeit. Er klopfte nicht an, sondern riss die Türe auf und stolperte in das Zimmer.

Alges' Büro war riesig.
Schränke, die bis an die Decke ragten, bedeckten die Wände und waren teilweise mit Leitern versehen, so dass man die oberen Regale überhaupt erreichen konnte. Ein samtiger, blauer Teppich bedeckte den Boden. Vor einer gigantischen Fensterfront stand ein Schreibtisch, wie ihn wohl ein König haben musste. Er bestand aus dunklem, massivem Holz und war mit kunstvollen Schnizereien verziert.

Verwirrt hob Alges den Kopf und legte einen Stapel Dokumente beiseite, den er wohl gelesen hatte.
"Was ist los, mein Sohn?", fragte er, stand auf und nahm Marco in seiner Arme, sobald er sein tränenverschmiertes Gesicht gesehen hatte.
"Sie ist uns gefolgt, sie ist hier.", schluchzte Marko, "Fida ist hierher gekommen. Ich habe sie gesehen, draußen, auf dem Eis. Sie hat ein Feuer erschaffen, vermutlich um sich warm zu halten, aber dann ist sie eingebrochen. Sie ist eingebrochen! Wir müssen Sie suchen! Tendämlow ist nicht der richtige Ort für Fida. Sie ist auf der Erde viel besser aufgehoben!"

Alges nickte und warf Marko seinen Pelzmantel zu.
"Wir gehen sie suchen, komm mit.", befahl er und stürmte aus dem Büro. Marko folgte ihm eilig.
Beim Laufen drehte der Vater sich zu ihm um, und sagte: "Wir sagen aber nicht mehr Tendämlow, schon seit über 1000 Jahren nicht mehr, es heißt jetzt Welt hinter der Welt. Merke dir das, man könnte dich für einen Extremisten halten."
Marko nickte nur, als Zeichen, dass er den Vater verstanden hatte.

Als Marko und Alges das Haus verlassen hatten, blieb der Vater plötzlich stehen.
"Es ist zu dunkel, so finden wir sie nicht rechtzeitig.", meinte er.
Dann hob der Frostdämon die Hand und schloss die Augen, in tiefer Konzentration. Er hob einen Zeigefinger aus der Faust, als wolle er dem Himmel drohen, und dann brachen die Wolken über ihnen auf. Die gigantischen Wolkenmassen schoben sich beiseite und gaben den Blick auf den hellen, rötlich leuchtenden Mond frei. Pinke Nordlichter tanzten über den Himmel. Marko Bianco fiel vor Staunen die Kinnlade herunter.

Der Vater hingegen schien nicht im geringsten fasziniert zu sein. Angestrengt starte er in die eisige Landschaft, wohl auf der Suche nach irgendetwas, dass auf Fidas Verbleib Aufschluss geben könnte. Dann, endlich, zeigt er in eine Richtung.
"Dort, siehst du das Loch? Da muss sie sein."
Marko starrte ebenfalls in diese Richtung, doch er konnte nichts erkennen. Trotzdem nickte er und rannte dem Vater hinterher über Eis und Schnee. Irgendwann wurde der Schnee zu seinen Füßen matschiger, als hätte er schon begonnen zu tauen.
Sie kamen Fida näher! Marko rannte schneller.

Plötzlich hielt der Vater ihn mit einem Arm zurück. "Das Eis wird hier instabil, sei vorsichtig.", ordnete der Dämon an, dann nutzte er seine Kräfte und das Eis wurde unter seinen und Markos Füßen wieder glatt und dick. Vor dem Rand des Loches blieb der Vater stehen und spähter vorsichtig hinein. "Es ist nicht so tief, wir springen.", beschloss er, nahm Markos Arm und sprang über die Kante. Dabei ließ er seine Magie in die Tiefe sausen. Sogleich schlugen Marko und Alges auf einem großen Schneehaufen auf.

In einer Ecke des Loches saß Fida und weinte.
Eine einzige, winzige Flamme tanzte um ihre kalten Hände.
"Mio Dio, Fids, was machst du hier?", fragte Marko völlig außer sich.
Das Mädchen hob den Kopf und sah ihren Bruder ungläubig an. "Marko! Oh, Marko! ", rief sie und wollte aufstehen und zu ihm laufen, doch ihr Fuß gab unter ihr nach und sie fiel.
Im letzten Moment schaffte Alges es sie aufzufangen und sanft auf den Boden zurück zu setzen.
"Ich wollte dich zurückholen.", meinte Fida traurig, "Aber als ich dann hier war, da ist mir aufgefallen, dass ich nicht leugnen kann was ich bin. Vielleicht bin ich dann ja hierher gekommen, weil ich mit dir hier sein möchte."

"Nun, wenn das so ist.", verkündete Alges freudestrahlend, "Dann kannst du gerne hier bleiben. In meinem Haus ist genug Platz. Ich könnte eine Sekretärin gut gebrauchen, wenn du möchtest."
Fida nickte glücklich.
"Und jetzt.", sagte Alges, wieder ganz ernst, "Sollten wir dich erstmal ins Warme bringen, dir eine warme Dusche verpassen und uns um deinen Knöchel kümmern. Den Rest sehen wir später. Ruh dich erst einmal aus und schlaf ein bisschen, die Nächte in Nordeis sind lang."

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