Kapitel 6
Schlags erneuter Schrei dröhnte in Nachtigalls Kopf. Schmerzverzerrt zog sie die Nase kraus. Die Beschützerin bekam gerade ihre Jungen und lag nun schon seit Sonnenhoch in den Wehen.
"Wie viele Jungen bekommt sie denn noch?", maulte Dachs, der neben der beigen Kätzin saß.
Tatze rollte vielsagend mit den Augen. "Sei doch froh. Mehr Junge stärken den Stamm."
Nachtigall hielt sich aus der Diskussion raus. Ihre Wurfgefährten stritten in letzter Zeit ständig und sie musste sich alle Mühe geben, den beiden nicht das Fell über die Ohren zu ziehen. Ich kann ihr ständiges Gejammer nicht mehr hören. Während Dachs und Tatze ihren Streit fortsetzten, widmete Nachtigall ihre Aufmerksamkeit dem Eingang des Beschützerbaus.
Schlags Gefährte Stachel trat nervös von einer Pfote auf die andere. "Wann kann ich endlich zu ihr?" Mit flehenden Augen sah er zu Tod, die ihn streng musterte. Doch ehe die hellgraue Kätzin mit den schwarzen Sprenkeln etwas erwidern konnte, steckte Schlange ihren Kopf aus dem Beschützerbau.
"Eine weitere Kätzin.", schnurrte sie. "Jetzt kommt das Letzte."
"Noch eins?!" Stachel riss seine gelben Augen entsetzt auf. "Ich muss ihr helfen." Verzweifelt wollte er sich an Schlange vorbeidrängen, doch die Kätzin stellte sich ihm in den Weg.
"Du musst noch warten.", sagte sie energisch. Stachel miaute halb verärgert halb ängstlich und ging ein paar Schritte rückwerts. Nachtigall unterdrückte ein amüsiertes Schnurren. Der sonst so sture Kämpfer wirkte jetzt wie ein kleines Junges.
Ein Knurren riss die beige Kätzin aus ihren Gedanken. Überrascht drehte sie sich zu Dachs um, der mit funkelden Augen davontappte.
"Was ist passiert?", fragte sie Tatze.
Ihre Schwester schnippte unbekümmert mit der Schwanzspitze. "Was weiß ich", murmelte sie und lief ebenfalls davon.
Verwirrt sah Nachtigall ihr nach, aber ehe sie sich wieder über ihre Geschwister aufregen konnte, schallte Schlags Schrei durch das Lager. Kurz darauf folgten Stachels besorgtes Maunzen und Schlanges Schnurren. Aufgeregt ging Nachtigall auf den Beschützerbau zu, den Stachel unter Tods skeptischem Blick betrat. Sie hat es auch nicht einfach., erinnerte sie sich, bevor die Wut über die Kälte in den Augen der hellgrauen Kätzin mit den schwarzen Sprenkeln in ihr aufsteigen konnte. Immerhin hat ihr eigener Gefährte sie verraten und mit ihren gemeinsamen Jungen sitzen lassen.
Vorsichtig blieb Nachtigall vor dem Eingang stehen. "Darf ich sie sehen?"
Tod nickte knapp, was sie als Einverständiserklärung aufnahm. Langsam - um weder Schlag noch die Neugeborenen zu erschrecken - betrat Nachtigall den Bau.
Schlag befand sich mit geschlossenen Augen in ihrem Nest, an ihren Bauch lagen vier Junge. Während Stachel die Wange seiner Gefährtin liebkostete, leckte Schlange das Fell der Jungen sauber. "Sie sind wunderschön.", bemerkte Nachtigall.
Stachel sah auf und neigte zustimmend den Kopf. "Ja, das sind sie. Wir haben uns auch schon Namen ausgesucht."
So schnell? Nachtigall ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken und spitzte interessiert ihre Ohren.
"Das hier ist Glut.", sagte Stachel stolz, während er auf eine dunkle Kätzin mit roten Streifen deutete. Die Kätzin maunzte verärgert und drehte sich weg. "Und das hier sind Finster, Funke und Stich." Er zeigte nacheinander auf eine weiße Kätzin, einen dunklen Kater und einen roten Kater mit dunklen Streifen.
Zuerst durchströmte Nachtigall ein warmes Gefühl, als sie beobachtete, wie Schlag ihre Jungen sanft mit der Schnauze berührte. Doch dann hielt die Beschützerin plötzlich inne. "Stich?" Besorgt stupste sie ihren Sohn an. "Er bewegt sich nicht.", rief sie ängstlich aus.
Auch Stachels Augen weiteten sich jetzt alamiert. "Was ist mit ihm?" Panisch sah er von Stich zu Schlange, die schnell ihr Ohr an die winzige Brust des Kraters drückte. Entsetzten breitete sich auf ihrem Gesicht aus. In Nachtigalls Bauch dehnte sich ein grauenhaftes Gefühl aus. Er darf nicht tot sein! Doch Schlange schüttelte traurig den Kopf. "Er hat die Geburt nicht überlebt.", flüsterte sie an Stachel und Schlag gewandt.
Die rotbraune Kätzin mit den dunklen Tupfen heulte verzweifelt auf. "Nein! Wir müssen etwas tun! Es gibt bestimmt ein Kraut, um ihm zu helfen. Es muss-" Ihre Stimme brach und sie starrte auf ihren reglosen Sohn hinab.
Es brach Nachtigall das Herz, zu sehen, wie die frisch gewordenen Eltern voller Trauer Stichs Duft einsogen. Sie fühlte sich vollkommen fehl am Platz. Das ist nicht fair. Er war kaum geboren, da...Sie wagte es nicht einmal, daran zu denken. "Wir sollten ihn begraben.", hob sie
vorsichtig an, doch plötzlich betrat Kratzer den Bau. Seine Bernsteinaugen funkelten argwöhnisch.
"Wer soll hier begraben werden?"
Beim Klang seiner kalten Stimme zuckte Stachel zusammen und senkte den Kopf. "Stich, unser Sohn, hat die Geburt nicht überlebt. Wir würden gerne-"
"Er war zu schwach, um die Geburt zu überleben?", schnaubte der Anführer vom Stamm der Nacht. "Nur Kämpfer verdienen die letzte Ehre, aber keine Schwächlinge."
Entsetzt starrte Nachtigall ihn an. Das kann er nicht ernst meinen! Aber ehe sie etwas sagen konnte, kam Schlag ihr zuvor: "Das ist mein Sohn, über den du da sprichst.", knurrte sie. "Er ist kein Schwächling."
Nachtigall entging nicht, dass die rotbraune Kätzin mit den dunklen Tupfen ist und nicht war gesagt hatte, aber das regte nur noch mehr Mitgefühl in ihr. Sie bewunderte Schlags Mut, auch wenn sie in ihrem Blick sie Angst lesen konnte. Jeder kannte Kratzer. Selbst zu seinen Zeiten als Stellvertreter - sogar als Kämpfer - hatte er sich gegen die schwächeren Katzen des Stammes aufgelehnt.
"Warum ist er dann tot?", erwiderte Kratzer und seine Augen formten sich zu Schlitzen. Schlag öffnete ihren Mund, um Stich erneut zu verteidigen, doch Stachel warf ihr einen warnenden Blick zu. Kratzer nickte dem rotweißen Kater knapp zu.
Da schoss Nachtigall ein Gedanke durch den Kopf. "Ich könnte ihn in den Wald bringen." Sie versuchte, die Nevosität in ihrer Stimme zu verbergen.
Misstrauisch drehte Kratzer den Kopf zu der Kämpferin und für ein paar Herzschläge schien er zu überlegen. "Nun gut, aber beeil dich. Ich habe noch etwas zu verkünden." Ohne ein weiteres Wort verließ er den Bau.
Schlange, die die ganze Zeit stumm in der Ecke des Bau verharrt hatte, machte einen Schritt auf Nachtigall zu. "Wo ist denn dein Mitgefühl geblieben?", zischte sie die beige Kätizn mit den weißen Pfoten an. Diese blinzelte zuversichtlich.
"Keine Sorge." Sie wandte sich an Schlag und Stachel. "Ich werde Stich im Wald begraben und ihm die letzte Ehre erweisen. Kratzer wird nichts merken." Für einen kurzen Moment sahen die Gefährten sich zweifelnd an, doch dann neigte Schlag dankbar den Kopf. Sie wollte etwas sagen, ihre Worte wurden jedoch von einem Schluchzen erstickt.
Stachel sprang für sie ein. "Danke, Nachtigall. Das werde wir dir nicht vergessen.", miaute er und lächelte so gezwungen, dass Nachtigall sich wünschte, er hätte es bleiben lassen.
Nachtigall nickte den beiden zu. "Stich wird durch seine Geschwister weiterleben. " Behutsam packte sie Stich am Nackenfell und schlüpfte aus dem Bau. Der Körper des kleinen Katers war bereits ganz kalt und schlaff und die Kätzin schauderte.
Als sie durch das Lager tappte, spürte sie die fragenden Blicke ihrer Stammesgefährten auf ihrem Pelz brennen. Ich kann ihnen später alles erkären. Oder sie fragen jemanden, wenn es sie interessieren sollte...Ein seltsames Gefühl der Abneigung durchströmte die Kätzin. Wann ist der Stamm der Nacht so fuchsherzig geworden, dass sie sich sogar weigern, Junge zu begraben? Schwarz hätte um jeden von uns getrauert.
Gedankenversunken lief Nachtigall in den Düsterwald hinein. Nach einer Weile erreichte sie den Nachtfall; den kleinen Wasserfall in der Nähe des Flusses, der die Territorien der Stämme trennte.
Sie betrachtete das schäumende Wasser, dass im Sonnenlicht silbern schimmerte. Hier ist ein schöner Ort. Vorsichtig legte sie Stich ab und begann, ein kleines Loch zu graben, in das sie den roten Kater mit den dunklen Streifen legte. Nach und nach schob sie die Erde zurück in die Kuhle. Zum Schluss hockte sie sich vor das improvisierte Grab.
"Du hättest ein besseres Grab verdient, Stich. Sowie du ein längeres Leben verdient hättest", hob Nachtigall leise an, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
"Du wärst ein starker Kämpfer geworden und hättest deinem Stamm alle Ehre gemacht. Nun wandelst du da oben und eines Tages wirst du mit deiner Familie vereint sein."
Sie schloss ihre gelben Augen. Leb wohl.
All dies erinnerte sie die letzte Ehre ihrer Eltern, die im Kampf gegen einen Fuchs ums Leben gekommen waren. In einem unnötigen Kampf., korriegierte sie sich mit bitterem Unterton. Mühevoll schluckte sie ihren Ärger herunter und wollte gerade zurück zum Lager laufen, als sie plötzlich weißes Fell zwischen den Bäumen aufblitzen sah. Neugierig näherte sie sich der Katze, die, scheinbar aufgewühlt, hin und her tappte.
"Ich kann das nicht."
Nachtigall kannte diese Stimme. "Geist?", rief sie und tappte auf die junge Kätzin zu. Der Lehrling wirbelte erschrocken zu ihr herum.
"Was machst du denn hier?", fragte sie mit vor Überraschung aufgestelltem Fell.
Nachtigall kniff ihre Augen zusammen. "Die bessere Frage lautet: Warum bist du hier?"
Geist schluckte und sah zu Boden. "Ich trainiere...", murmelte sie.
Verwirrt zuckte die beige Kätzin mit den Ohren. "Du trainierst doch schon seit den letzten Sonnenstrahlen. Brauchst du keine Pause?" Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihr aus. Hatte Geist einen Fehler gemacht? Musste sie zur Strafe noch härter als sonst trainieren?
Geist seufzte und schüttelte den Kopf. "Nein. Na ja, schon...Ich muss einfach besser werden, weißt du? Morgen ist doch der Kampf gegen den Stamm des Lichts und ich-"
"Ein Kampf?", unterbrach Nachtigall sie irritiert. Wovon spricht sie? Dann fiel es ihr ein. Wollte Kratzer nicht etwas verkünden? Will er etwa den Stamm des Lichts angreifen?
Zur Bestätigung miaute Geist: "Ja, morgen Nacht, und ich muss mitkämpfen. Dabei wird das mein sicherer Tod sein!" Ihre Stimme wurde immer panischer und in ihren hellblauen Augen stand die blanke Angst geschrieben. Nachtigall empfand tiefes Mitleid für die Kätzin. Trotzdem brodelte zeitgleich Wut in ihr hoch. Wie konnten Kratzer und Kralle es wagen, sie jetzt schon in den Kampf zu schicken? Sie hatte erst einen Mond an ihren Kräften gearbeitet.
"Ich werde versuchen, mit Kralle zu reden. Aber ich kann dir nichts versprechen." Sie nickte Geist aufmunternd zu, dann drehte sie sich um und tappte davon. Sie wollte der weißen Kätzin mit den hellgrauen Sprenkeln im Gesicht helfen, doch in diesem Moment schien das Schicksal sich hoffnungslos gegen sie gewandt zu haben.
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