Kapitel 5
"Warte!" So gut wie sie konnte, eilte Nachtigall Kralle hinterher, die Geist aus dem Lager geführt hatte und nun in Richtung zu den Felsen der sterbenden Sonne geleitete.
Die hellgraue Kätzin hielt zu Nachtigalls Erleichterung an. Verwirrt drehte sie sich um und musterte die Kämpferin. "Bist du uns gefolgt?", fragte sie misstrauisch.
Wärme schoss in Nachtigalls Wangen und sie erstarrte. "Nein!...Na ja, eigentlich schon."
"Was denn jetzt?", wollte Kralle mit erhobener Stimme wissen.
Jetzt sag nichts Falsches. Sie wird nicht auf dich hören, wenn du sie verärgerst! Unsicher erwiderte Nachtigall den steinernen Blick der neuen Ausbilderin. "Hör zu: Das ist nicht der richtige Weg. Du solltest Kratzer sagen, dass du Geist nicht trainieren kannst."
Kralle kniff argwöhnisch ihre dunkelbraunen Augen zusammen, dann wandte sie sich an Geist, die mit aufgestelltem Fell das Gespräch verfolgte. Mit einer raschen Schweifbewegung deutete sie auf eine Gabelung des Weges und murmelte ein kurzes "Geh schon mal vor", ehe sie wieder Nachtigall ansah. Die beige Kätzin mit den weißen Pfoten täuschte ein Lächeln vor, um die Situation aufzulockern, doch innerlich pochte ihr Herz immer schneller. Sie hatte mit Kralle bisher noch nicht viel zu tun gehabt. Sie kannte nur die Geschichte ihrer Familie und wusste, dass sie eine hervorragende Jägerin war.
Als Geist verschwunden war, erhob Kralle das Wort. "Warum sollte ich das tun? Damit du Ausbilderin wirst?"
Verständlich, dass sie das denkt. Immerhin ist es eine große Ehre, einen höheren Rang zu erreichen. "Keine Angst, das möchte ich nicht."
"Warum sollte ich Angst haben?", fragte Kralle mit kalter Stimme und stellte ihren Schweif auf, was Nachtigall als schlechtes Zeichen aufnahm.
Mäusedreck! Sie fühlt sich bedroht. "Natürlich nicht. Du drehst mir die Worte im Mund herum.", miaute sie unsicher.
Verärgert schüttelte die hellgraue Kätzin ihren Kopf und knurrte. "Jetzt ist es also meine Schuld?"
Nachtigall schluckte hart. Was soll ich darauf antworten? Verzweifelt suchte sie nach der richtigen Reaktion, als Kralle plötzlich näher kam und ihre Schnauze knapp vor ihrer stoppte.
"Hör mir gut zu", sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. "Das ist meine Chance zu beweisen, dass ich keine elende Verräterin bin wie mein Vater. Wenn ich Geist beibringe, ihre Kraft zu kontrollieren, wird Kratzer mich endlich akzeptieren und der restliche Stamm auch."
Nachtigall schloss ihre Augen. Sie verstand Kralle und wollte ihr diese Möglichkeit auch nicht wegnehmen, aber das Leben vieler Katzen könnte in Gefahr sein. Also beschloss sie, die hellgraue Kätzin davon zu überzeugen, dass dieses Trainig eine schlechte - sogar ein gefährliche - Idee war. "Das verstehe ich, aber-"
"Du verstehst nichts!", unterbrach Kralle sie aufgebracht. "Deine Eltern haben dich geliebt, doch ich war meinem Vater vollkommen egal, denn sonst hätte er den Stamm nicht verraten. Ich tue das hier nicht für ihn, sondern nur für mich, meinen Bruder und meine Mutter. Wenn sich mir also eine Chance bietet, dann werde ich sie nicht ablehnen! Gefahren hin oder her. Und jetzt entschuldige mich."
Ohne die beige Kätzin nur eines weiteren Blickes zu würdigen, wirbelte Kralle herum und lief den Weg entlang, den Geist zuvor eingeschlagen hatte.
Nachtigall sah ihr verblüfft nach. Hat sie recht? Soll ich sie einfach in Ruhe lassen? Ihre Familie hat es ohnehin schon so schwer. Rasch schüttelte sie diesen Gedanken ab. Ich darf mich jetzt nicht verunsichern lassen, sondern das Wohl des Stammes im Auge behalten. Doch obwohl sie wusste, dass sie das Richtige tat, rumorte noch immer ein seltsames Gefühl in ihrem Bauch. Hatte sie das Recht, sich Kralles besseren Leben in den Weg zu stellen?
_____
Fahles Mondlicht erhellte die vorgetrampelten Wege des Düsterwalds. Dadurch, dass die Blätter der Bäume nun den Boden anstatt den Himmel bedeckten, gab es nichts, was das Mondlicht abfing. Nachtigall hob ihre Schnauze und sog die kalte Luft ein. Obwohl die Sonne den ganzen Tag geschienen hatte, war es jetzt kalt. Fröstelnd stellte die beige Kätzin ihr Fell gegen die Kälte auf und lief weiter.
Dämmerung hatte sie mit Moos sammeln beauftragt. Zuerst war sie gekränkt gewesen, dass sie trotz der vielen Lehrlinge eine solche Arbeit verrichten musste, doch schließlich hatte sie eingesehen, wie wichtig die Kampfausbildung der schwer beschäftigten jungen Katzen war.
Plötzlich ertönte ein dumpfes Geräusch. Eindeutig der Aufprall einer Katze. Auf ihn folgte ein verärgertetes Maunzen und ein schmerzhaftes Stöhnen. Neugierig drehte Nachtigall ihre Ohren in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Ich muss in der Nähe der Felsen der sterbenden Sonne sein., realisierte sie und änderte die Richtung. Ihre Pfoten trugen sie rasch zu dem Trainingsort der Lehrlinge, der im Mondlicht ungewöhnlich glitzerte. In der flachen Kuhle saßen zwei Katzen. Kralle und Geist.
Kratzer hatte den beiden Ausbildern Tatze und Stachel befohlen, von nun an ihre Lehrlinge auf der Lichtung bei der Zweibeinerflamme zu trainieren, damit Geist hier üben konnte.
Nachtigall sah zu, wie Kralle der weißen Kätzin mit den grauen Sprenkeln im Gesicht etwas erklärte, woraufhin diese ernst nickte. Sie scheint verstanden zu haben, wie hoch Kratzers Erwartungen sind.
Auf ein Schwanzschnippen von Kralle hin stellte Geist sich mit zuckenden Ohren vor sie. Ihre Ohren zuckten nervös und in ihrem Blick schimmerte Unsicherheit. Nachtigall vermutete, dass sie selbst kein Vertrauen in sich hatte. Verständlich, immerhin ist sie erst seit Kurzem Lehrling., erinnerte sie sich.
Kralle hatte inzwischen die Zähne geflescht und sich vor Geist aufgebaut. Die junge Kätzin zögerte noch kurz, doch dann richtete sie ihren Blick auf Kralle. Ein merkwürdiges Gefühl braute sich in Nachtigall zusammen, als ein Ruck durch die hellgraue Kätzin ging. Ihre Augen formten zu Schlitzen und ihr Rückenfell sträubte sich. Auf einmal, ohne jene Vorwarnung, schoss sie fauchend vor. Geist schrie überrascht auf. Schnell rollte sie sich zur Seite, wodurch sie den scharfen Krallen der älteren Kätzin nur knapp entging.
Erschrocken machte Nachtigall einen Schritt nach vorn, hielt sich aber noch zurück. Das ist nicht deine Angelegenheit.
Kralle rappelte sich auf. Für einen kurzen Moment schien sie verwirrt, doch dann wandte sie sich seufzend an Geist. "Das hatten wir doch schon. So machst du deine Gegner nur noch aggressiver. Konzentriere dich auf ein anderes Gefühl, mit dem du ihn in die Enge treiben kannst. Nochmal."
Meint sie körperlich oder mental? Nachtigall wusste es nicht. Interessiert beobachtete sie, wie Geist sich erneut vor ihrer Ausbilderin positionierte. Ein Funkeln blitzte in ihren hellblauen Augen auf. Die beige Kätzin hielt gebannt den Atem an, aber es geschah nichts. Noch nicht. Denn nur wenige Herzschläge später wich Kralle plötzlich zurück. Sie hustete und rang angestrengt nach Luft. Entsetzt starrte Nachtigall Geist an, die keine Anstalten machte, irgendwas zu unterbrechen. Komm schon. Sie erstickt!
Jetzt warf Kralle ihren Kopf in den Nacken und krächzte heiser. Ihre dunkelbraunen waren glasig geworden. Angst pochte in Nachtigalls Pfoten. Ich muss sie aufhalten!
"Geist! Hör auf!", jaulte sie und preschte den Abhang hinab, doch die weiße Kätzin rührte sich nicht. Was soll ich machen? Ohne viel weiter zu überlegen, setzte Nachtigall zum Sprung an. Sie konnte Kralle nicht sterben lassen.
Mit einem geschickten - aber nicht zu harten - Schlag traf sie Geist an der Schulter und stieß sie zur Seite. Der Augenkontakt zwischen Ausbilderin und Lehrling wurde unterbrochen. Sofort sog Kralle die Luft ein und brach hustend zu Boden.
Schockiert sah Nachtigall zu Geist, die sich mit vor Entsetzen geweiteten Augen aufgerichtet hatte.
"Es- es tut mir leid.", stotterte diese und wich ein paar Schritte vor den älteren Kätzinnen zurück. "Das wollte ich nicht."
Nachtigall gab ihr keine Antwort. Der Schreck saß ihr tief in den Knochen. Hätte sie nicht eingegriffen, wäre Kralle vermutlich gestorben. Warum konnte ich Kratzer nur nicht überreden? Oder Kralle? Am Ende wird noch jemand ums Leben kommen, und das nur, weil wir zu blind vor der Gefahr waren.
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