Nach den Wolken

» Und was kommt nach den Wolken? «, fragte er, als sie beide weiterliefen.

» Darauf bin ich auch gespannt «, sagte seine Begleitung.

» Weißt du das etwa nicht? «

» Wie soll ich das wissen, das ist mein erster Tag hier. «

» Aber hast du nicht vorhin gesagt, dass dich viele anders nennen? «

» Ja, aber dann hast du gesagt, dass du dir das schon immer so gedacht hast. «

» Das verstehe ich jetzt nicht. «

» Gut; jedenfalls, das ist jetzt auch für mich das erste Mal. Das sieht hier vermutlich bei jedem anders aus. «

» Vielleicht «, sagte er dann und kam irgendwann zum Stehen. Er wusste nicht, wie weit er gelaufen war, aber irgendwann befand er sich in einer Art Raum, vielleicht einem Zimmer, wo ein Stuhl stand. Es sah aus wie der Foyer eines Hotels. Er setzte sich und blickte auf die Rezeption, wo dann die Gestalt sich platzierte und etwas in ein Buch schrieb, sich ein anderes nahm und anfing, zu lesen.

» Und jetzt? «, fragte er wieder, als würde er etwas erwarten; einen letzten Gnadenstoß, ein letztes Mal sterben. » Sterben, sterben für die Ewigkeit! «, säuselte er gedanklich.

» Jetzt warten wir «, entgegnete man ihm.

» Und worauf soll ich jetzt warten? « Er blickte auf den Fahrstuhl im Hintergrund und hoffte, dass es „Ping" machte. Denn würde sich hier irgendwas abseits von ihm und diesem anderen Ding bewegen, würde er wissen, dass er eben nicht alleine war und sich das vermutlich nicht einbildete. Aber der Fahrstuhl machte nichts. Seine Türen, die mal aus Aluminium, mal aus Holz gewesen waren, denn er konnte sich nicht entscheiden, was er passender fand, bewegten sich keinen Milimeter.

» Wir warten darauf, dass der Tod kommt. « Die Gestalt blickte ihn nicht an und las scheinbar gelangweilt in seinem Buch.

» Aber dann bin ich auch wirklich tot? «, versicherte er sich.

» Tot, Mausetot, finité, Ende. Dann ist alles zu Ende. Dann sind wir nicht mehr hier. «

» Wir? «

» Ich gehe mit dir «, entgegnete es unbeeindruckt. » Ich gehe mit dir und dann werde ich so gesehen wieder neu geboren. Dann bin ich der Engel für jemand anderen, bis auch der wieder stirbt. « Nun stand also ein Engel vor ihm. Erst wollte er fragen, aber er hatte sich mit der Überzeugung arrangiert, dass er wohl keine zufriedenstellende Antwort bekommen könnte. Es gab unendliche Möglichkeiten, wohin sich das hier entwickeln würde und er nahm sich vor, dass es einfach alles auf sich zukommen lassen wollte.

Dann fiel es ihm ein. Es sah sich um und erkannte die Hotel Lobby aus „The Grand Budapest Hotel", von „American Horror Story 5 - Hotel" und von Stephen Kings „Shining". Je nach dem, was er mehr wollte, woran er sich mehr erinnerte, erkannte er den jeweiligen Ort stärker oder schwächer.

» Vielleicht kommt nach den Wolken ja tatsächlich das nichts «, sagte die Stimme aus dem Off, nachdem sich der Raum nach allen fünf bis zehn Sekunden neu sortierte, aber die beiden Figuren beharrlich auf ihren Plätzen blieben.

» Das nichts? «, fragte er dann. » Aber, was ist das nichts? Ist das die große Leere? «

» Das ist der Tod. «

» Ich hatte immer die Hoffnung, dass man nach dem Tod das Universum wechselt. «

» Das musst du mir jetzt aber nochmal genauer erklären. «

» Ich weiß nicht. Ich hatte immer gedacht, dass man gar nicht sterben kann und immer, wenn man es doch täte, man das Universum wechselt und einfach weiterlebt. «

» Also, wenn du einen Autounfall hast, dabei stirbst, wechselst du das Universum, wo du noch ausgewichen bist? «

» Genau, so erhoffe ich mir das. Im Endeffekt würden wir niemals wirklich sterben, tausend Jahre alt werden; aber das alles in einem anderen Universum. «

» Ist das wirklich zufriedenstellend; tausend Jahre alt zu werden? «

» Wer weiß das schon. Aber das ist ja anscheinend alles anders geworden. « Danach war eine Stille, die unangenehm war. Es wirkte, als stünde etwas im Raum, das beide kannten, aber über das nicht gesprochen werden wollte.

» Vielleicht musst du erstmal klären, was die Wolken sind, bevor du klärst, was danach kommt? «, lenkte dann die weißliche Gestalt an der Rezeption ein, während der, der ehemals ein Mensch gewesen war, sich wie ein unabgeholter Gast fühlte.

» Hm «, er murmelte etwas. » Immer, wenn ich über Wolken geschrieben habe, dann hatte der inszenierte Raum mit Leichtigkeit zu tun, mit etwas, was vielleicht nicht real ist; ein Raum, wo Träume und Wünsche einen Platz bekamen, wo das Leben, alles, eben nicht mehr als Dunstschleier war. Auf und hinter Wolken sind wir immer dann, wenn man sich nach etwas sehnt, was man nicht hat, was man sich auf Wolken eben erträumt. Kommt man hinter die Wolken, ja, dann ist es schon zu spät; dann lebt man in einer Welt, die nicht existiert. Befindet man sich aber noch auf Wolken, dann hat man vielleicht einen Tagtraum, man träumt, man versucht, die Zukunft und die Welt vielleicht noch im Möglichen umzugestalten. «

» Also kommt nach Wolken? «, hakte man nach.

» Nach den Wolken kommt immer die Erkenntnis. Entweder steigt man freiwillig von der Wolke hinab, oder sie lösen sich auf, wenn man dahinter ist. Dann durchdringt das Licht alles, was man erschaffen hat, und brennt alles nieder; wie Caesar in Gallien. «

» Also ist das hier...? «, versuchte die Gestalt, zu beginnen.

» Das, was nach den Wolken kommt, ist das, was wohl übrig bleibt. Anscheinend ist es das nichts; dass man anscheinend tatsächlich nur ein Sandkorn am Strand gewesen war. Alles, was ich wollte, war glücklich zu sein. « Er kramte in seiner Hosentasche und fand eine kleine schwarze, metallene Schachtel. Sie sah billig aus. Im unteren Teil war ein Bild von Marilyn Monroe, es war herzförmig, und dadrüber stand: „Celebrity Pills". » Das Leben hat eine gewisse Komik, nicht? «, schmunzelte er dann. » Die, von denen wir denken, dass sie am glücklichsten sind, weil sie berühmt und reich sind, in Filmen spielen und Aufmerksamkeit von der Welt bekommen, sie schlucken diese „Celebrity Pills". « Er hatte das Fluoxetin, dass er als Jugendlicher einnahm, aus seiner Erzählung gelöscht und stattdessen „Celebrity Pills" daraus gemacht. Immer, wenn ihn jemand zu seiner Vergangenheit fragte, erzählte er schmunzelt etwas von Tabletten, die alle nahmen, um berühmt zu werden. Es waren die Depressionen, die Einnahme von Antidepressiva, die sie alle, oder zumindest fast alle, einten. Er zählte sich als Teil von einer erfolgreichen Gruppe, nur, wenn er mehr darüber nachdachte, festzustellen, dass er auch in dieser Konstellation einer der unerfolgreichsten gewesen war. Er hatte gefühlt vieles falsch gemacht und doch wünschte er sich nicht, sein Leben anders zu betrachten. » Ich stehe zu meinen Entscheidungen «, hatte er sich ganz verbissen immer und immer wieder gesagt, wenn er einsam gewesen war. » Ich werde mich nicht plötzlich verändern, nur weil Glück angeblich bedeute, nicht alleine zu sein. « Und dann war es so. Mehr hatte er sich nichts zu sagen. Seine Trauer wurde zur Wut und seine Wut wurde zur Trauer und irgendwann bekam er einen Hirntumor. » Vom vielen Nachdenken «, sagte er dann, als er auf seinen Kopf klopfte, an die Stelle wo der Tumor immer noch oder früher mal gewesen war, als würde er wissen, dass die Gestalt seinen Gedankengang mitgehört hätte.

» Kann ich nicht irgendwas tun? «, fragte er, als wieder eine Weile vergang und sich eine Unruhe in ihm verteilte. Zu wissen, dass er gleich aufhören würde zu existieren, machte ihn von Minute zu Minute ängstlicher.

» Du kannst alles tun, worauf du Lust hast! «, freute sich die Gestalt, als hätte sie darauf gewartet.

» Dann möchte ich auf jeden Fall meine Liebsten besuchen. «

» Willst du ein Engel werden? «

» Engel? «

» Naja, ein Schutzengel «

» Geht denn sowas? «

» Wie gesagt, du kannst alles machen, was du willst. «

» Dann will ich ein Engel sein. Dann will ich bei meinen Liebsten sein und sie vor allem bewahren, was möglich ist, wozu ich imstande bin. Ich will das Böse aufhalten. « Jahrelang hatte er versucht, ein guter Mensch zu sein, nur um dann festzustellen, alleine und ganz für sich, dass er wohl nicht das Seelenfunkeln besaß, weshalb sich niemand in ihn verlieben konnte und er schließlich einsam wurde. Aber jetzt hatte er die Hoffnung gehabt, doch noch eine Chance zu bekommen. » Können sie mich sehen? «, fragte er, nachdem er nochmal darüber nachdachte.

» Nicht wirklich «, antwortete man ihm.

» Ich dachte, vielleicht war es auch wieder nur ein Hirngespinst, vielleicht laufen tatsächlich Engel unter uns und wir kennen sie nicht. «

» Nein, nein, so ist das nicht. Also zumindest ist mir das nicht bekannt. «

» Okay, Schade ist es trotzdem. «

» Schon, aber manchmal sieht man sich im Traum. «

» Im Traum? «

» Ja, wenn du stark genug bist, dann erscheinst du in den Träumen deiner Liebsten und sie denken sie würden dich sehen und hören. Das hast du doch sicher auch schon mal erlebt, als jemand gestorben ist, oder? «

Da musste er lächeln: » Ja «, sagte er. » Ich muss noch so viele Menschen besuchen, die ich so unglaublich lieb habe. Ich muss sie jetzt beschützen, wenn sie erfahren, dass ich gestorben bin. Vielleicht kann ich ihr Leid lindern, ihren Schmerz. Ich will für sie da sein. «

» Na dann! «, sagte die Gestalt. » Auf gehts! «

» Einen Moment noch. « Er stoppte, als er wieder überlegte. » Wann sehe ich die wieder, von denen ich mich verabschieden musste? «

» Die, die tot sind? «

» Ja «, sagte er. » Sind die tatsächlich weg? «

» Ich bin mir ganz sicher «, verriet dann die Gestalt, » dass sie wie du Schutzengel von ihren Liebsten sind. Ihr werdet euch sehen, wenn ihr aufeinandertrefft. Die Leute, die du liebst, verschwinden nicht einfach mit ihrem Tod. Sie werden immer irgendwo anzutreffen sein; an Orten, bei Gegebenheiten, in Situationen, an denen du denkst: „Was hätte der oder die jetzt wohl getan". Sie sind immer bei dir und warten nur darauf, dass du als Engel zu ihnen stößt. «

Dann machten die Engel einen kleinen Sprung und segelten mit ihren Flügeln, als ob sie auf Wolken wären, zur Erde hinunter und alle, die er so sehr vermisste, die er wiedersehen wollte und die auf ihn warteten, sie bestaunten seine Ankunft.

» Wenn es nur einen Menschen gibt, der so auf mich wartet; der mich so sehr liebt, dass er immer wieder den Weg zu mir findet «, sprach er entschlossen und weinte schon fast, » dann habe ich alles richtig gemacht. «

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