Bring Me To Life
Wake me up inside
Call my name and save me from the dark
Bid my blood to run
Before I come undone
Save me from the nothing I've become
~Bring Me To Life~
by Evanescence
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Near hasste diesen Tag.
Eigentlich war es ein gewöhnlicher Tag wie jeder andere... und doch war er es nicht. Nicht für ihn jedenfalls. Denn an diesem Tag vor genau 10 Jahren hatte er etwas Bedeutsames verloren. Doch was genau das war, wurde ihm erst viele Jahre später bewusst. Weil von diesem Tag an etwas in seinem Leben fehlte.
Damals hatte er nur knapp gegen Kira gewonnen und dennoch... für ihn hatte es sich zu der Zeit nicht wie ein echter Triumph angefühlt. Denn, wenn man es genau betrachtete, war es vor allem durch Mellos Hilfe überhaupt erst möglich gewesen, Kira dingfest zu machen. Ohne ihn, würde Near längst nicht mehr unter den Lebenden weilen. Ohne ihn hätte Kira inzwischen die halbe Welt versklavt.
Trotz allem hatte er nie gewollt, dass es auf diese Art endete.
Ohne ihn - ohne Mello.
Sie hatten sich den Sieg zwar gerecht geteilt, aber dennoch hatte Mello dabei das Wichtigste verloren, was er hatte: sein eigenes Leben. Als Near damals davon erfuhr, hatte er zuerst spekuliert, ob Mello seinen Tod nicht womöglich nur vorgetäuscht hatte. Er hätte ihm eine Aktion wie diese durchaus zugetraut, doch als Mrs. Lidner in den Trümmern den Rosenkranz fand, wusste Near mit Gewissheit, dass Mello nie wieder zurückkommen würde, denn der Rosenkranz hatte ihm alles bedeutet. Near hatte den Blonden oft im Wammy's von seinem Zimmer aus beobachtet, wenn ein wichtiges Fußballturnier bevorstand. Er hatte den Anhänger jedes Mal geküsst und dann vor seiner Brust ein unsichtbares Kreuz in die Luft gezeichnet. Erst dann hatte er das Spielfeld betreten und seine Gegner allesamt zur Hölle geschickt. Near hatte keine Ahnung von Fußball, aber er wusste, dass Mello gut darin war. Er hätte so viel in seinem Leben erreichen können, auch ohne dabei Ls Platz einzunehmen. Doch einzig allein wegen seines dummen Fehlers, war Mello inzwischen nur noch Asche und Staub.
Wie jedes Jahr holte Near die kleine handgefertigte Holzschatulle hervor, die er schon seit seiner frühesten Kindheit sein Eigen nannte. Er konnte nicht einmal mehr sagen, wo er sie her hatte, aber er nutzte sie seit jeher um dort Dinge aufzubewahren, die ihm bedeutungsvoll erschienen. Er öffnete sie und nahm die kleine Fingerpuppe mit Mellos Abbild heraus, die er vor Ewigkeiten in mühevoller Kleinstarbeit angefertigt hatte. Near fuhr fast andächtig mit dem Daumen über das aufgemalte Gesicht aus Plastik. Die grimmige Miene darauf war inzwischen leicht verblasst, so oft hatte er dies schon getan. Der andere Gegenstand, den er aus der Schachtel nahm, war ein Kreuzanhänger, der an einer schwarzen Perlenkette befestigt war - Mellos Rosenkranz. Er glänzte immer noch, als wäre seitdem kein einziger Tag vergangen.
Near ließ die Perlen sanft durch die Finger gleiten und berührte das Kreuz mit seinen Lippen so wie Mello es früher getan hatte. Nur so konnte er diesen Tag irgendwie erträglicher machen.
Mellos Todestag.
Der Tag, an dem er etwas verloren hatte.
Doch für eine gerechtere Welt - eine Welt ohne Kira - war es nötig gewesen, diesen Preis zu zahlen.
"Ohne mich hättest du es doch niemals geschafft, Near. Das ist dir hoffentlich klar."
Near fuhr erschrocken herum. Panisch sah er sich in seinem Zimmer um, doch alles war so ruhig wie sonst auch.
Hatte er sich diese Stimme nur eingebildet? War es schon so weit mit ihm gekommen?
Wenn er eingehender darüber nachdachte, ähnelte sie Mellos Stimme auf unheimliche Art und Weise. Aber wie konnte Near nach all den Jahren noch immer den genauen Klang seiner Stimme reproduzieren?
"Dieses rührselige Getue steht dir nicht. Und von deiner neuen Frisur will ich gar nicht erst anfangen...", zeterte die Stimme weiter.
Near wandte sich erneut mit klopfenden Herzen um, doch außer seinem Bett, war dort nichts Verdächtiges zu erkennen. Stimmen zu hören, die nicht da waren, war mit Sicherheit das erste Anzeichen von Verrücktheit. Mrs. Lidner hatte ihm letztens erst deutlich gemacht, dass er seine Zeit viel zu oft alleine verbrachte. Übermäßige Einsamkeit und Isolation führten gezwungenermaßen irgendwann dazu, dass man anfing Selbstgespräche zu führen.
"Und jetzt glaubst du natürlich, dass du dir das alles einbildest, weil es unlogisch wäre die Stimme eines Toten zu hören."
Diesmal erstarrte Near beim Klang der vertrauten Stimme und sah langsam zu dem großen Spiegel hinüber, der unweit an der Wand vor ihm angebracht war. Nears Herz hämmerte schallend in seiner Brust als er eine Person, nein, ein Wesen, dort stehen sah. Es war nichts Menschliches, vielmehr etwas Übermenschliches. Es besaß etwas, das Flügeln ähnelte, doch sie waren seltsam asymmetrisch und aus einer dünnen lederartigen Haut. Einer von ihnen sah aus, als wäre er mindestens einmal gebrochen und wieder unbeholfen zusammengeflickt worden, der andere wirkte vollkommen intakt. Die Gestalt war hoch gewachsen, aber nicht viel größer als ein normaler Mensch. Das war alles, was Near auf den ersten Blick ausmachen konnte.
Nears Beine zitterten unkontrolliert, als er sich vom Boden erhob und sich in Zeitlupe umdrehte. Die Gestalt stand direkt vor seinem Bett und starrte ihn an. Ein Drittel ihres Oberkörpers war überzogen von dunkelroten unansehnlichen Flicken, die aussahen als wäre sie wie eine Stoffpuppe aufgeschnitten und lieblos wieder zusammengenäht worden. Es war die gleich Seite seines Körpers, aus dem auch der seltsam gebrochene Flügel herausragte. Die restlichen zwei Drittel seines Körpers waren von einem aschfahlen ungesunden Grauton, aber wesentlich menschlicher als der Rest von ihr. Ihre schwarze Kleidung wirkte genauso zerfetzt wie der rechte Flügel, der jetzt schlaff neben dem Arm des merkwürdigen Wesens herunterhing.
Near war auf Anhieb klar, dass er einen Shinigami vor sich hatte. Seine letzte Begegnung mit einem Todesgott jedoch, war nun inzwischen fast 10 Jahre her. Angst verspürte er keine, vielmehr eine seltsame Art von Erleichterung. Near blickte souverän in die Augen der Kreatur. Das eisige Blau darin war ihm seltsam vertraut, genau wie die Stimme, die zu ihr gehörte. Die wirren blonden Haare ließen keinen Zweifel mehr an seiner Vermutung:
"Mello?", hauchte er leise in die Dunkelheit.
Ein zaghaftes Flüstern.
Der Angesprochene lächelte süffisant und ließ sich lässig auf die weiche Matratze von Nears Bett fallen.
"Ich bin ein wenig enttäuscht, Near, dass es doch so lange gedauert hat bis du drauf gekommen bist. Sind deine grauen Zellen etwa schon am Absterben?"
Near blinzelte, doch Mellos eigenartiger Klon verschwand nicht, sondern grinste ihn nur überheblich an. Das Antidepressiva löste offenbar inzwischen schon visuelle Halluzinationen aus. Anders konnte Near sich nicht erklären, wieso er sich Mello in der Form eines Shinigami imaginierte.
"Mello ist tot", erwiderte er mit fester Stimme, als wollte er sich vor allem selbst von dieser Tatsache überzeugen.
"Die alte Version von Mello ist tot. Diese wurde inzwischen generalüberholt."
"Was bist du?", fragte Near und trat zögerlich einen Schritt näher. "Ein... Todesgott?"
Mello klatschte mehrmals in die Hände.
"Gut kombiniert, Near. Oder soll ich lieber sagen, L?", fügte er mit spöttischem Unterton hinzu.
Kein Zweifel. Es war Mello.
Nur er würde auf diese herablassende Art mit ihm reden.
"Was willst du hier?"
Near versuchte sich wieder zu fassen, konnte seine Stimme jedoch nicht davon abhalten misstrauisch zu klingen.
Der Angesprochene lehnte sich breit grinsend zurück und stemmte sich dabei auf seine Unterarme.
"Eine gute Frage. Was glaubst du denn, was ich hier will?", entgegenete er mit gespielt nachdenklicher Miene.
Nears skeptischer Blick fiel wieder auf die Fingerpuppe in seiner Hand.
"Vermutlich hast du vor mich zu töten. Das wäre nur verständlich", erwiderte er mit einem besonnenen Lächeln.
Mello ließ ein lautes abfälliges Schnauben vernehmen. Near starrte ihn an.
"Wäre ich gekommen, um dich zu töten, warum sollte ich es erst jetzt tun? Ich hätte schon unzählige Möglichkeiten gehabt dich zu töten. Und ja, ich habe es tatsächlich das ein oder andere Mal in Erwägung gezogen. Aber unser lächerlicher Zweikampf interessiert mich schon längst nicht mehr, Near. Und dein Tod hätte mir nichts gebracht, außer vielleicht ein klein wenig mehr Lebenszeit. Aber die könnte ich genauso gut von Anderen bekommen."
Er richtete sich wieder ein Stück von dem Bett auf.
"Was willst du dann? Hast du vor mir dein Death Note zu überlassen, um zu sehen, was ich damit anstellen werde?"
Mello schnaubte erneut auf und grinste dann unverschämt.
"Warum sollte ich so etwas Absurdes tun?" Near schwieg und wartete darauf, dass er fortfuhr. "Weißt du, ich habe dich all die letzten Jahre beobachtet, Near", setzte er unbeirrt fort.
Near legte die Stirn in Falten.
"Warum?"
"Es ist ziemlich langweilig als Todesgott, musst du wissen. Und ich wollte wissen, ob du es auch ohne mich schaffst. Ob du überhaupt würdig bist den Posten von L anzutreten."
"Und zu welcher Schlussfolgerung bist du gekommen?", fragte Near nun sichtlich desinteressiert und gabelte währenddessen eine lange Haarsträhne mit dem Finger auf. In Wirklichkeit wartete er gespannt auf die Antwort, doch das wollte er sich vor Mello nicht anmerken lassen.
"Dass du ein ziemlich bemitleidenswertes Leben führst. Sieh nur an, was aus dir geworden ist. Deine Augenringe sind dunkler als meine Seele und an deinem schmächtigen Körper ist nichts als Haut und Knochen. Früher, als ich noch gelebt habe, hattest du immerhin noch sowas wie Motivation. Doch jetzt bist du eine ziemliche Enttäuschung. Du magst zwar die Mehrzahl an Fällen lösen, aber der Ehrgeiz, den du damals hattest, um Kira zu überführen, ist längst erloschen. Das Glühen in deinen Augen ist nicht einmal mehr, als ein schwacher Funke. Du kannst dem alten L nicht annähernd das Wasser reichen."
Near wich seinem Blick gekonnt aus und wickelte bedächtig eine weiße Strähne dabei auf. Er konnte Mello nicht widersprechen.
"Vermutlich hast du Recht, Mello. Aber das erklärt immer noch nicht, warum du jetzt hier bist."
"Erinnerst du dich an die Person, die das Death Note versteigert hat?"
"Sicher erinnere ich mich daran."
"Ich habe Ryuk damals darum gebeten, das Death Note erneut in die Menschenwelt zu transportieren und es jemanden zu geben, der es mit dir aufnehmen könnte. Ich wollte, dass dein Feuer wieder entfacht wird. Leider warst du nicht gerade engagiert herauszufinden, wer dessen Besitzer war."
"Es war keine bedeutende Straftat, die mein Interesse weckte. Nur, weil es um ein Death Note geht, heißt das nicht automatisch, dass es mich interessiert. Wobei die Aktion an sich sehr clever war", musste er dennoch zugeben.
Mello verschränkte trotzig die Arme und verzog den Mund.
"Du hast viel zu schnell aufgegeben. Das ist nicht der Near, den ich einmal kannte."
"Es war unmöglich, den Täter zu fassen und es rechtzeitig zu verhindern."
"Früher hättest du das nicht gesagt."
"Was willst du von mir, Mello?", wiederholte er eindringlich und wurde dabei zunehmend ungeduldiger.
Mello sprang galant von der Matratze des Bettes und ging ein paar langsame Schritte auf ihn zu.
"Ich will, dass du wieder derselbe bist, wie damals, als wir noch Rivalen waren. Es ist lächerlich dir dabei zuzusehen wie du mir jedes Jahr aufs Neue hinterherheulst und diese hässliche Puppe streichelst, die ich darstellen soll. Und von dem Rosenkranz will ich gar nicht erst anfangen. Ich bin tot und werde es auch weiterhin sein, während du lebst, aber innerlich langsam stirbst. Krieg endlich deinen Arsch hoch, Near. Ich mein's ernst."
Knurrend griff er nach dem Kragen von Nears Oberteil und zog ihn bedrohlich nah an sich heran.
"Zeig mir, dass du es wert bist, dass ich meine Zeit hierfür verschwendet habe."
"Du hast dich nicht verändert, Mello", sagte Near vollkommen ruhig. Der Angesprochene fletschte die Zähne, während Near unbeirrt weitersprach: "Ich habe mir oft gewünscht an deiner Stelle gestorben zu sein. Du hättest es mehr verdient Ls Platz einzunehmen."
"Du solltest wirklich dankbarer für dein scheißerbärmliches Leben sein."
Er ließ Near unsanft los, welcher dabei leicht ins Taumeln geriet.
"Ich kann deine ständigen Todessehnsüchte nicht mehr länger ertragen. Du machst mich krank", entgegnete er abschätzig.
Near sah zögerlich zu ihm auf und zum ersten Mal blickte er ihm dabei direkt in die Augen.
"Ich habe dich geliebt, Mello. Das weiß ich jetzt. Deshalb wollte ich lange Zeit lieber tot sein, als weiterzumachen."
Mello starrte ihn mehrere Sekunden sprachlos an. Sein linkes Auge zuckte dabei unkontrolliert und er knirschte wütend mit den Zähnen.
"Du elender..."
Doch der Rest seiner Worte erstarb, als Near einige Schritte an ihn herantrat und aus heiterem Himmel seine Arme um Mellos Gestalt legte. Nears Ohr legte sich auf seine Brust, genau an die Stelle, wo sein Herz hätte schlagen sollen.
"Es tut mir Leid, Mello."
"Verdammt...fick dich einfach, Near", grollte er leise, wehrte sich aber nicht gegen die Umarmung seines ehemaligen Rivalen.
"Ich war Schuld an deinem Tod. Der einzige Grund, warum ich noch am Leben bin, bist du. Du hast mich gerettet."
"Bild dir nichts darauf ein! Ich habe mich ganz bestimmt nicht für dich geopftert", zischte er wütend, klang dabei jedoch ein wenig verschnupft.
Weinte er etwa?
"Ich weiß. Du wolltest nur gewinnen."
"Und das habe ich auch."
"Das hast du", wisperte Near gegen Mellos kalte lederartige Haut. Auch wenn er sich anders als ein gewöhnlicher Mensch anfühlte, so verströmte er noch immer den gleichen vertrauten Geruch von damals. Er erkannte ihn wieder, weil er früher in der Sportumkleide heimlich an Mellos Kleidung gerochen hatte. Damals war ihm nicht klar gewesen, wieso. Doch inzwischen wusste er, was das nervöse Flattern in seinem Herzen verursachte. Und auch jetzt war es wieder so präsent, als wären nicht 10 Jahre vergangen, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte.
Er versuchte jedoch vergeblich eine ähnliche Reaktion in Mello hervorzurufen. Mellos Herz war stumm wie ein gefrorener Wintersee.
Als etwas jedoch über Nears Kopf fuhr, blickte er überrascht zu dem Größeren auf. Mellos Hand streichelte sanft durch sein langes silbriges Haar. Seine kühlen Finger legten sich fast zärtlich an seine Wange und strichen über die weiche Haut.
"Near...", hauchte Mello leise.
Noch nie hatte jemand seinen Namen so zärtlich in den Mund genommen wie Mello in diesem Augenblick. Sein Daumen fuhr über seine blassen Lippen, die sich voller Erstaunen öffneten.
Near schloss entspannt die Augenlider und genoss die lang ersehnten Berührungen in vollen Zügen. Sein Kinn wurde angehoben und er spürte, wie sich etwas Kaltes auf seine Lippen legte.
Der Kuss eines Todesgottes.
Bedeutete das, dass Mello ihn nun doch zu sich holte?
Nears Eingeweide zogen sich zusammen, jedoch auf angenehm schöne Weise. Es war sein erster Kuss. Und vermutlich würde es auch sein letzter sein.
Wehmütig gab er seinen letzten Rest Selbstbeherrschung auf, um sich dem innigen Kuss vollkommen hinzugeben. Wärme erfasste ihn und breitete sich in allen Zellen seines Körpers aus. Die feinen Härchen auf seinem Arm stellten sich auf als er ihn näher an sich heran zog.
Mellos Zunge glitt besitzergreifend in seine Mundhöhle. Near zuckte etwas erstaunt zusammen, stoppte ihn jedoch nicht bei seinem Vorhaben. Zögerlich gab er sich seinem Kuss hin und erwiderte ihn mit der gleichen Inbrunst, die Mello ebenfalls an den Tag legte. Eine feste Hand legte sich bestimmt in seinen Nacken. Der Todesgott schien nach mehr zu verlangen, was Near milde überraschte. Lust war schließlich etwas überaus Menschliches. Genau dem wurde er sich selbst gerade schmerzlich bewusst, als Mello den jungen Detektiv unerwartet gegen die Wand hinter ihm drückte und der untere Teil seines Körpers sofort auf die Nähe des Anderen reagierte.
Jahrelang hatte Near sich nicht seinen sexuellen Bedürfnissen hingegeben aus Angst, was es aus ihm machen könnte. Dass er die Kontrolle dabei an seinen Körper abgab und er seine sonstige Beherrschung verlieren könnte. Doch nun schien all diese Angst plötzlich verpufft zu sein. Die sanften Berührungen des Gegenübers brannten sich gnadenlos auf seiner empfindsamen Haut ein und in seiner Hose wurde es zunehmend enger. Mellos Körper drängte ihn weiter gegen die Wand. Nears Hände wanderten neugierig über die eiskalte und befremdliche Haut.
Mit einem Ruck hob der Shinigami seinen zarten Körper hoch und trug ihn hinüber zu seinem Bett. Ganz sachte legte er ihn auf der Matratze ab, während Near ihn ungläubig anstarrte. Mellos Gestalt beugte sich über ihn und hauchte ein paar heiße Küsse auf seinen Hals. Dann hielt er für einen Augenblick inne und senkte den Kopf.
"Mello?", fragte Near tonlos.
"Ich kann das nicht, Near. Wir sind jetzt...zu verschieden. Ich würde dir nur wehtun."
Near wusste nicht, ob er sich dabei auf den körperlichen oder den seelischen Schmerz bezog.
"Das ist mir egal", gab er mit einem stummen Flehen in den Augen zurück.
"Mir nicht. Ich hab dir schon oft genug wehgetan. Und in meiner Welt wäre das hier beinahe...ein Verbechen."
"Beinahe?"
Mello sah auf und lächelte schmerzvoll.
"Es endet nie gut, wenn ein Todesgott und ein Mensch sich verbünden, egal auf welche Weise."
"Ist das schon vorgekommen? Dass ein Todesgott und ein Mensch..."
Nears Stimme erstarb. Er konnte dieses Wort nicht laut aussprechen. Diese Sache, die er mit Mello tun wollte.
"Es gab ein paar wenige Todesgötter, die sich in Menschen verliebten und danach zu Staub zerfielen, weil sie ihnen das Leben gerettet haben, indem sie ein anderes im Gegenzug auslöschten. Aber ich weiß nicht, ob es welche gab, die Sex miteinander hatten. Ob es überhaupt möglich ist..."
Blut schoss in Nears Wangen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so verlegen war. Er griff nach einer Strähne und ließ sie durch die Finger gleiten.
"Verstehe...Ich möchte nicht, dass du zu Staub wirst", murmelte er mit geröteten Wangen.
Mello leckte sich fast gierig über die Lippen und Near musste zugeben, dass er dabei unwiderstehlich aussah.
"Vielleicht gehe ich das Risiko ein."
"Empfinden Shinigamis denn so etwas wie...Lust?", fragte Near mit gesenkter Stimme.
"Anders als ihr Menschen, aber ja, auch wir können so etwas empfinden, aber ich glaube es ist vielmehr ein Überbleibsel aus unserem früheren Leben als echte Lust."
Near nickte nur knapp und sah an ihm vorbei. Er empfand noch immer Scham angesichts des Themas.
"Verstehe..."
Mello starrte ihn geraumte Zeit an. Dann sagte er:
"Ich glaube du brauchst dringend jemanden, der dich mal richtig durchvögelt, Near. Nicht böse gemeint."
Mello grinste überheblich, als er sah wie Nears Wangen aufglühten.
"Dann werde ich dich nicht davon abhalten", antwortete er so nüchtern wie möglich.
"Gott, Near, du liegst hier und hast keinen Schimmer, was du gerade mit mir machst, wenn du solche Dinge sagst. Was glaubst du, wieviel Überwindung es mich gekostet hat, hier zu dir zu kommen? All die Jahre wollte ich das schon tun, doch ich konnte es nicht, weil ich wusste, ich würde nicht an mich halten können, sobald du mich mit diesen Welpenaugen ansiehst."
Mello sah ihn durchdringend an und ließ seine schlanken Finger von Nears Wange bis zu seinem Brustansatz wandern. Er beugte sich über Nears Körper und zog ihn in einen weiteren leidenschaftlichen Kuss. Near konnte noch immer nicht fassen, was hier gerade geschah. Als wäre es nicht schon verrückt genug, dass Mello überhaupt hier war, küsste dieser ihn bereits zum zweiten Mal, fast so, als wären sie in der Vergangenheit nie verbitterte Rivalen gewesen. Es war unlogisch und dennoch ließ Near sich dahintreiben von Mellos sanft drängenden Lippen.
Nears Hände strichen sehnsüchtig durch seine blonde Mähne und legten sich dann in seinen Nacken. Mellos Lippen entfernten sich allmählich von Nears Mund und wanderten weiter hinab zu seinem Hals und pressten sich fest gegen seine Haut, beinahe als würde er den Jüngeren mit Haut und Haar inhalieren wollen. Mellos Finger nestelten bereits an den Knöpfen seines Pyjamaoberteils und öffneten sie ungeduldig.
"Mel..loh...", presste Near leise hervor. Der Angesprochene hielt kurz inne und sah zu ihm auf. "Ich...hatte noch nie...ich meine...ich bin noch Jungfrau", sagte er mit belegter Stimme.
Mello lächelte süffisant.
"Nicht mehr lange, Near. Dafür sorge ich. Dann wird das einzig Jungfräuliche an dir dein Sternzeichen sein", raunte er dicht an sein Ohr.
Near knubbelte nervös den Stoff der Bettdecke zusammen, auf der er lag, während Mellos lüsterne Augen all seine Gedanken aus seinem Kopf heraus saugten. Noch nie hatte in Nears Hirn so eine vollkommene Leere geherrscht wie in diesem Augenblick. Er wartete darauf, dass Mello etwas tat. Irgendwas, aber er sah ihn für eine geraume Zeit einfach nur an. Near zählte still bis 49. Erst dann setzte Mello sich wieder in Bewegung. Seine Hand streichelte über Nears Wange und schob eine verirrte Haarsträhne hinter sein Ohr.
"Ich werde vorsichtig sein, versprochen! Aber es wird schwer sein meine Kraft einzuschätzen. Gib mir bitte rechtzeitig Bescheid, falls ich dir Schmerzen zufüge."
Near konnte nicht anders, als stumm zu nicken. Seine Kehle war staubtrocken. Er spürte, wie Mellos Lippen jeden Teil seines Körpers erkundeten. Auch die, die bisher noch unberührt gewesen waren.
Nears Blick richtete sich zur Decke und er schloss die Augen, um sich den ungewohnten Empfindungen, die ihn währenddessen überkamen, vollends hingeben zu können. Er ließ zu, dass der Andere ihn Stück für Stück entblößte, bis er völlig unverhüllt vor seinem ehemaligen Rivalen lag. Früher hatten sie es kaum geschafft, im selben Raum zu sein, ohne dass Mello austickte und in seiner wilden Raserei etwas von seinen Spielsachen zerstörte. Und nun lagen sie gemeinsam auf einer Matratze und tauschten sanfte Küsse und Berührungen aus.
Near fühlte sich sicher und geborgen in Mellos Nähe und zum ersten Mal schaffte er es sich ohne weitere Bedenken fallen zu lassen. Er ließ zu, dass Mellos Lippen zwischen seine Beine wanderten. Er bescherte ihm ein Hochgefühl, das mit nichts, das er bisher in seinem Leben empfinden hatte, vergleichbar war. Es dauerte nicht lange bis der Orgasmus ihn heftig erzittern ließ. Erst als er sich wieder gefangen hatte, setzte Mello ihr Liebesspiel fort.
Zu Nears Verwunderung hatte dieser nicht gelogen. Er war überaus rücksichtsvoll, als er in Nears filigranen Körper eindrang, zumindest so rücksichtsvoll, wie man es von jemandem wie Mello erwarten konnte. Er hatte ihn zuvor mit seinen Fingern intensiv darauf vorbereitet, sodass Near dabei kaum Schmerzen verspürte. Er klammerte sich währenddessen verzweifelt an dem Todesgott fest. Mello umhüllte Near sanft mit seinen fledermausartigen Flügeln. Brennende Hitze durchströmte Nears gesamten Körper, während Mellos Haut im Kontrast dazu frostig kalt war. Während sich auf seiner Stirn ein dünner Schweißfilm bildete, war dem Shinigami keinerlei Anstrengung anzumerken, obwohl er derjenige war, der sich eng gegen Nears Unterleib presste. Das heftige Vibrieren seiner Flügel, die sich schützend um Nears Körper gelegt hatten, signalisierte ihm, dass Mello seinen Höhepunkt erreicht hatte.
Seine Bewegungen klangen langsam ab, bis seine Gestalt schließlich kraftlos auf seinen Körper sackte. Seine Flügel schrumpften schrittweise zusammen und verschwanden kurz darauf in Mellos Rücken. Near berührte die Stelle vorsichtig und konnte nur zwei winzige Einkerbungen ertasten, welche wie die Kiemen eines Fisches anmuteten.
"Nicht anfassen...", raunte er ihm sanft zu. "Sie sind sehr empfindlich."
"Wieso ist der Linke gebrochen?"
Mello zuckte die Achseln.
"Das war von Anfang an so."
"Aber du kannst damit...fliegen?"
Der Todesgott lächelte amüsiert.
"Sicher."
Er kraulte zärtlich Nears Haaransatz und ließ seine Fingerspitzen dann über seine Wange bis zu seinem Kinn gleiten. Near senkte entspannt die Augenlider. Dann fühlte er wie sich Mellos vertraute Lippen auf seine legten und ihn vollständig in seinen Bann nahmen. Ein unerwartetes Glücksgefühl durchströmte ihn, als das Blut durch seine Adern rauschte. Er fühlte sich endlich wieder lebendig.
Mello bettete seinen Kopf auf Nears Brust und lauschte aufmerksam.
"Ich habe inzwischen vergessen, wie es sich anfühlt, wenn man einen Puls hat", seufzte er beinahe wehmütig und presste sein Ohr noch fester gegen Nears Brustkorb. "Deiner scheint gerade außergewöhnlich hoch zu sein."
"Das ist deine Schuld."
Nears Finger glitten zögerlich durch die glatten blonden Haare, etwas, wonach er sich im Stillen schon lange gesehnt hatte. Mello drückte Nears nackten Körper fest an sich, zog ihn in eine innige Umarmung. In dieser Position verharrten sie, bis es dämmerte und die Sonne sich allmählich dem Horizont näherte.
Als Mello sich nach Ewigkeiten wieder rührte, war es bereits dunkel. Er richtete sich ein wenig auf, um Near in die Augen zu sehen. Ein leichtes Lächeln umspielte Nears Lippen, was Mello überaus zufrieden stellte, denn damit hatte er erreicht, was er sich vorgenommen hatte.
"Versprich mir eins, Near." Er machte eine theatralische Pause, in der er seine Hand hob und über die Wange des anderen strich. "Lass die Vergangenheit ruhen und versuche, wieder nach vorn zu blicken. Werde wieder du selbst."
Near blinzelte erstaunt.
"Bist du gekommen, um mir das zu sagen?"
"Nicht nur", entgegnete er mit einem leicht gequältem Lächeln.
"Ich liebe dich, Mello. Ich habe nie aufgehört."
Nears Stimme war beinahe lautlos und es fiel ihm schwer Mellos Blick noch eine Sekunde länger Stand zu halten.
"Du solltest damit aufhören. Falls du es vergessen hast. Ich bin tot."
"Dann möchte ich auch tot sein."
Mello schnaubte abfällig und tätschelte dann kopfschüttelnd seine Stirn.
"Wenn du solche dummen Sachen sagst, zweifel ich wirklich noch an deinem Verstand, Near."
"Du warst schon immer der Klügere von uns beiden", sagte Near beflissen.
"Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Und jetzt hör auf mit diesem sentimentalen Gelaber. Das steht dir nicht", knurrte er.
Near jedoch entging das verräterische Glitzern in Mellos Augen nicht. Er breitete seine Arme aus und legte sie um Mellos Gestalt, um ihn wieder an sich heranzudrücken. Erst jetzt wurde Near bewusst, wie leblos er sich anfühlte. Sein eisiger Körper besaß weder einen Herzschlag, noch spürte er das Heben und Senken seines Brustkorbs. Near hätte genauso gut mit einer Leiche kuscheln können. Und dennoch fühlte Near sich in seinen starken Armen menschlicher denn je. Seine Lippen formten ein zufriedenes Lächeln, als er sich eng an seine kalte Schulter schmiegte. Seine bleiernden Augenlider fielen langsam zu und eine angenehme Schwerelosigkeit legte sich über ihn.
"Schlaf gut, Nate", wisperte eine Stimme dicht an seinem Ohr. "Lebe dein Leben, denn du hast nur dieses Eine."
Near spürte, wie eine Hand sachte über seinen Kopf streichelte und daraufhin etwas Kühles seine Stirn berührte.
Als er die Augen wieder öffnete, blinzelte er in das gleißende Sonnenlicht, das direkt neben ihm auf die weiße Bettdecke fiel. Die Decke sah ungewohnt zerwühlt aus und das Laken war verrutscht. Der Platz neben ihm jedoch wirkte verwaist. Als er verwundert den Kopf hob, und sich aufzurichten versuchte, spürte er, wie ihn etwas in seiner Hand kitzelte. Erschrocken zog er seine Hand zurück.
Sein Blick richtete sich ungläubig auf seine Handfläche, wo ihm feiner heller Sand durch die Fingern rann. Seine Augen folgten der Sandspur, die ungehindert auf die Matratze hinabrieselte. Wie paralysiert starrte er auf das Laken, auf dem, wie er feststellte, noch mehr Überreste von dem hellen Staub verteilt waren. Doch dann fixierten seine Augen etwas anderes - einen dunklen Gegenstand, der wie ein unheilvolles Omen auf seiner Decke drapiert war. Panisch richtete er sich auf. Near war unfähig sich von der Stelle zu rühren. Er beäugte das schwarze Notizheft, als könnte es ihn jeden Moment, wie ein wildes Tier anfallen und ihn niedermetzeln.
"Mello?"
Seine Stimme war nur noch ein schwaches Krächzen, während seine Augen unbehaglich durch sein Zimmer wanderten. Von dem Shinigami jedoch keine Spur.
Als Near sich irgendwann aus seiner Schockstarre gelöst hatte, streckte er seine Hand zögerlich nach dem Notizheft aus. Mit zitternden Fingern strich er über den rauen Einband, in dem die Worte Death Note eingraviert waren. Sein Puls steigerte sich ins Unermessliche, als er es schaffte das Buch vor sich endlich aufzuschlagen.
Fassungslos starrte er auf die wenigen Zeilen, die ihm auf der ersten Seite des Buches förmlich entgegensprangen.
Shinigami Mello - zerfällt zu Staub und überträgt Nate River seine restliche Lebenszeit.
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