♥8.♥
Jacqueline und ich klapperten mindestens fünfzig Geschäfte ab, nur, um vielleicht noch ein schöneres Kleid zu finden. Mir hatten die Kleider im ersten Laden schon sehr gut gefallen, aber nein, es gab ja noch neunundvierzig andere Geschäfte, durch die man sich durchquälen konnte.
"Jacqueline bitte! Wieso können wir nicht das schwarze Kleid nehmen? Das finde ich nämlich bis jetzt am schönsten!"
"Ach, Giny. Du hast echt keine Mädchenhobbys. Shoppen sollte dich normalerweise interessieren", erwiderte meine Freundin und verließ nun auch dieses Geschäft.
"Na ja, ich bin halt ein bisschen anders."
Jacqueline blieb stehen und sah mich an. Kurz zögerte sie, dann erwiderte sie: "Okay, es ist schließlich dein Kleid und dein Abend. Such du dir deine Klamotten aus, ich brauche sowieso auch was neues." Mit diesen Worten ließ sie mich stehen und spazierte richtung Unterwäschenabteilung. Seufzend setzte ich mich in Bewegung und verließ diesen Laden. So hatte ich das eigentlich nicht gemeint ...
In dem ersten Geschäft, in dem wir gewesen waren, kaufte ich mir das schwarze Kleid, das mir bis jetzt am besten gefallen hatte. Es kostete auch nicht gerade wenig. Wieder auf dem Campus in meinem Zimmer hängte ich das Kleid für morgen auf einen Kleiderbügel auf die Badezimmertür, die ich einen kleinen Spalt offen ließ.
Am nächsten Tag hatten alle Schüler frei - es war ja Samstag. Erst ab zwanzig Uhr würde der Ball anfangen. Als ich meine Haustüre öffnete, lag wieder einmal ein Zettel auf dem Boden. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlitzte ich das Kuvert auf und faltete das orange Papier auseinander.
Liebe Virginia!
Heute ist es so weit. Ich bin schon ganz wuschig, und frage mich, ob du kommen wirst. Bitte enttäusche mich nicht, denn das würde mein Herz zerbrechen. Als ich dich das erste Mal sah, wusste ich, dass du die richtige bist.
Du bist anders, als die anderen Mädels, die ich so kenne. Du kümmerst dich nicht wirklich darum, ob deine Haare heute gelockt oder geglättet sein sollen, du lässt es einfach und bist nur du!
Das liebe ich so sehr an dir.
Bitte komm! Ich werde heute Abend hinter der Bibliothek auf dich warten ...
Mein Herz schlug Saltos vor Freude. Unter dem Text war wieder eine Zeichnung.
"A-aber d-das kann doch n-nicht wahr sein!", stieß ich erschrocken aus. Diese Person machte es mir nicht gerade leicht. Ich bin gezeichnet worden, wie ich mit meiner Großmutter rede. Das war gestern gewesen! Und genau an diesen Moment konnte ich mich noch gut erinnern, der hier gemalt wurde. Ich hatte gesagt, dass ich verliebt wäre, und dass Mike so sexy aussieht. Dabei hatte ich ziemlich verträumt dreingeschaut und gelächelt. Schön langsam machte es mir ein bisschen Angst. Wurde ich etwa gestalkt? Woher wusste der Schreiber des Briefs, dass ich mit meiner Oma geredet hatte? Mir lief ein kalter Schauder den Rücken hinunter. In Gedanken versunken ging ich die Stufen runter und verließdas Wohnheim.
"Virginia! Hey, warte mal!", rief jemand. Ich blieb überrascht stehen und erblickte Mike.
"Wie geht's dir so?", wollte er wissen.
"Ein bisschen nervös wegen heute, aber ich weiß eh noch nicht, ob ich zum Ball gehen werde. Mit wem gehst du denn hin?" Genau das wollte ich eigentlich nicht wissen, doch mein Mund hatte wieder einmal zu schnell reagiert und mein Gehirn hatte ein Mittagsschläfchen gehalten.
"Mit Sally. Hast du schon jemanden? Wieso willst du nicht hingehen?"
Ich schluckte. Ich hatte es gewusst, dass er nicht der Briefverfasser sein würde.
"Ich bin mir nicht sicher, ob ich einen Partner habe. Und warum sollte ich dann auch auf den Ball gehen? Ich würde mich sowieso nur langweilen", erwiderte ich.
"Ich würde mich freuen, dich in einem schönen Kleid zu sehen", sagte Mike und zwinkerte mir zu. In meinem Bauch flatterten Schmetterlinge herum.
"Mal sehen ..."
"Wir könnten auch gemeinsam tanzen. Nur für ein einziges Lied, dann müssen wir natürlich wieder zu unsere Partner zurück." Ich lächelte ihn gezwungen an.
"Ähm, ja. Dann vielleicht bis heute Abend. Ich muss jetzt los - treffe mich mit meinen Freunden." Wir schauten uns noch kurz in die Augen, danach kehrte ich ihm meinen Rücken zu und machte mich auf den Weg zum Ausgangstor des Schulgeländes.
"Bitte komm heute!", rief Mike mir nach. Schließlich konnte ich ihn nicht mehr hören, weil das Tor hinter mir zugefallen war. Jacqueline, Shery, Jill, Romy, Harry, Jack, Will und ich wollten uns in einem Café treffen um wieder einmal gemütlich abzuhängen.
"Bist du fertig?", rief Romy und rüttelte an der Badezimmertür. Zum Schminken und Schönmachen war sie zu mir in mein Zimmer gekommen und hatte mir ein paar Tipps gegeben. Jetzt hatte ich mein schwarzes Kleid, rote Pumps, eine kleine rote Handtasche, ein Paar moderne Ohrringe, eine Halskette, die ich schon lange in meiner Nachttischschublade aufbewahrte und nie tragen konnte, weil sie nur zu speziellen Anlässen gedacht war, Smokey-eyes und einen leichten rot-braunen Lipgloss, der ein bisschen glitzerte.
"Wow!", stieß Romy aus und staunte. Ihr violettes Kleid mit den schwarzen High-Heels stand ihr aber auch sehr gut. Zu zweit machten wir uns auf den Weg zur Sporthalle, doch ich musste ja zur Bücherei.
"Romy, soll ich wirklich zur Bibliothek gehen?"
"Ja, geh hin. Wenn es wer Fremder ist, hau sofort ab, okay? Na ja, außer er ist nicht gefährlich oder so." Ich nickte. Schnell umarmten wir uns, dann rannte ich los. Ich hatte keine besondere Lust, meine Schuhe gleich am Anfang dreckig zu machen, deshalb musste es ziemlich komisch aussehen, wie ich da so halb ging, halb rannte und das irgendwie auf den Zehenspitzen. Mein Gleichgewichtssinn war auch nicht gerade der beste ...
Doch dann kam ich bei der Bibliothek an und ich wurde immer aufgeregter.
"Hallo?", rief ich. Ich ging zur Nordseite und erspähte eine schwarze Gestalt. Mein Gebiss klapperte ein wenig und meine Hände waren nass. Sollte ich nicht doch lieber abhauen?
"Nein, geh nicht", sagte die Gestalt plötzlich, als hätte er meine Gedanken gelesen. Er kam näher, bis er schlussendlich vor mir stand. Leider war es schon so dunkel, dass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte.
"Es ist dreiviertel acht." Ja, ich wusste, dass ich zu spät war, aber heute hatte ich mich eben ein bisschen schöner gemacht als sonst.
"Du gefällst mir so wie du bist", meinte die schwarze Gestalt.
"Kannst du etwa Gedanken lesen?", fragte ich ironisch.
"Ja." Mir stockte der Atem. "Hast du dich denn nicht gewundert, woher ich die Szenem wusste, die ich gezeichnet habe? Das hab ich alles in deinem Kopf gesehen. Na gut, durch das Fenster habe ich auch einiges gesehen, aber deine Gedanken habe ich gehört." Gott sei Dank war es schon so dunkel, dass er nicht sehen konnte, wie rot sich mein Gesicht färbte.
Der Mann vor mir fing an zu lachen. "An deiner Stelle würde ich nicht so viel denken."
"Wer bist du?", fragte ich stattdessen, um meine Peinlichkeit zu überspielen.
"Kennst du mich nicht an meiner Stimme?"
"Nein." Ich dachte scharf nach, doch irgendwie passte die Tonlage zu keiner Stimme die ich kannte.
"Ich habe eine Frage an dich."
"Und die wäre?"
"Darf ich dich küssen?" Mir stockte der Atem. "Das will ich schon länger machen," fügte er noch hinzu.
"Ich weiß ja nicht einmal wer du bist. Wieso ..." Er unterbrach mich, indem er seine Lippen auf meine drückte. Sofort versteifte sich mein ganzer Körper als hätte ich einen Besenstiel gefressen. Mir wurde überall schlagartig heiß und ich vergaß zu atmen. Das war mein allererster Kuss in meinem Leben! Ich wollte aufhören, mich wehren, doch es war so schön. Von einer Sekunde auf die andere löste der Unbekannte sich von mir und legte beide Hände je an eine Wange von mir.
"Virginia, du kennst mich. Und dir gefällt, was du gerade erlebt hast." Er lachte leise. Mich machte es echt nervös, zu wissen, dass jemand meine Gedanken durchforsten konnte, egal wo, egal wann. Wie es ihm gerade in den Kram passte.
"Wenn wir ins Licht gehen würden, würde ich dein Gesicht sehen", sagte ich.
"Okay, dann gehen wir und amüsieren uns auf dem Ball. Aber ich denke, dass wir mehr als nur einen Tanz tanzen werden, oder? Und außerdem möchte ich liebend gerne dein Kleid sehen." In dem Moment realisierte ich, wen ich da vor mir hatte.
"Ja, du denkst richtig. Kluges Mädchen", lobte er mich. Nein, nicht er, sondern Mike. Ich musste grinsen. Die Schmetterlinge flatterten wieder herum und eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Dann küsste er mich noch einmal. Wow, schon mein zweiter Kuss! Ich war richtig stolz auf mich. Gemeinsam gingen wir zur Sporthalle. Als endlich Licht da war, sah ich auch sein Gesicht und seinen Körper. Er hatte einen schwarzen Anzug mit einem weißen Hemd darunter an. Die rote Krawatte passte sehr gut dazu. Auch er musterte mich neugierig. Schließlich grinste er mich an und meinte: "Auch so düster unterwegs wie ich? Wir scheinen ja perfekt zusammenzupassen." Ich nickte. Ich hakte mich bei ihm ein und dann betraten wir den großen Saal, der nun nicht mehr Matten und Waffen beinhaltete, sondern große, prunkvolle Kronleuchter, Gold- und Silberstatuen, Tische mit weißen und roten Rosen, Stühle mit Samt überzogen und natürlich eine Tanzfläche, auf der sich bereits einige Paare tummelten. Man konnte gar nicht glauben, dass dieser Saal eigentlich ein Turnsaal war. Beeindruckt betrachteten wir den Eröffnungstanz. Die Mädchen waren alle wunderschön. Ich glaube, jeder hatte sich für diesen Abend schön gemacht. Mike und ich suchten uns einen Platz. Ich hatte eigentlich vorgehabt, zu meinen Freunden zu gehen, um ihnen Mike vorzustellen (das hatte ich vorhin beschlossen, als ich erfahren hatte, wer mein heutiger Partner sein würde), doch Mike führte mich zu seinen Freunden. "Du wirst dich sicher gut mit ihnen verstehen", versicherte er mir. Ich war etwas unsicher. Nach nur ein paar Metern blieb er bei einem Tisch stehen und wurde von seinen Kumpels begrüßt."Ist deine Flamme also doch gekommen?", fragte einer mit blonden Haaren und blauen Augen. Ein anderer wollte wissen, ob er mich eh nicht zu arg erschreckt hätte. In solchen Situationen war ich schon immer sehr schüchtern und zurückhaltend gewesen. Mike zog mir gentlemanmäßig einen Stuhl heraus und ließ sich dann auf einem neben mir nieder. Rechts neben mir saß ein Mädchen mit braunen Haaren, die sie kunstvoll hinaufgesteckt hatte. Beigefarbene Blumen zierten zusätzlich ihre Frisur. Sie war eine echte Augenweide, und sie schien sogar nett zu sein, denn als ich sie ansah,lächelte sie mir zu und fragte nach meinem Namen.
"Virginia. Und du?"
"Sally. Dein Name gefällt mir. Er klingt so geheimnisvoll ..."
"Danke." Ich lächelte sie an. Dann war unser Gespräch auch schon wieder beendet, denn Mike legte mir eine Speisekarte in die Hände. Lief das auf einem normalen Ball auch so ab? Aber wir befanden uns ja auf der Mythos Academy, und da war nichts normal. Die Gerichte, die man bestellen konnte, waren auch nicht normal, aber das war ich inzwischen gewöhnt.
Froschschenkel mit Knoblauchsauce extra von Vampiren gekocht
Traditionelle Liebesspeise für 2 Personen mit extra Marzipanherzchen
Süßer Apfelstrudel mit Kichererbsen
Salatteller mit lebenden Regenwürmern frisch aus dem Wald
Hähnchenpfanne bitter und scharf mit frischen Augen vom Schwein
Ja, okay, ich kann es verstehen, wenn ihr jetzt denkt, dass das hier eine Halloween-Veranstaltung ist, aber sowas gibt es hier immer zu essen. Es hört sich alles sehr hexenhaft an ... und unappetitlich, aber es ist köstlich!
"Wollen wir die Traditionelle Liebesspeise für 2 Personen nehmen?", raunte mir Mike zu. Ich spürte seinen Atem an meinem Ohr. Eine Gänsehaut überkam mich.
"Ja, okay." Dieses Gericht bestand aus ein paar verschiedenen Sorten Fleisch, Marzipanherzen, Kartoffelbrei und Gemüse. Davon natürlich die doppelte Menge. Die Liebesspeise gab es nur auf Bällen und anderen Veranstaltungen. Das hier war mein erster Ball auf Mythos. Letztes Jahr war ich an dem Tag krank gewesen, sodass ich ins Krankenhaus musste.
Als wir das Essen serviert bekamen, bemerkte ich, dass ich schon einen ziemlichen Hunger hatte. Wir unterhielten uns sehr gut und sofort hatte ich Mikes Freunde ins Herz geschlossen. Ich hätte nicht gedacht, dass solche Leute, die wie die größten Machos aussehen, auch nett sein können. Romy warf mir einen verwunderten Blick zu, warum ich nicht bei ihnen saß, doch als sie meinen Briefverfasser entdeckte, grinste sie mich an und zwinkerte mir zu. Wahrscheinlich hatte sie gedacht, dass ich bei ihnen sitzen würde, weil mein Verehrer so ein Arsch wäre. Keiner von uns hätte erwartet, dass es wirklich Mike wäre.
Nach dem Essen wurde die Musik etwas lauter. Tanzmusik setzte ein. Das war nun das Signal für alle Schüler, dass das Tanzen anfangen konnte! Mike und ich bewegten uns auf die Tanzfläche zu wie alle anderen. Wir stellten uns auf; Mike legte eine Hand auf meinen Rücken und ich meine auf seinen Oberarm. Er nahm meine linke Hand und hielt sie fest. Dann fingen wir an zu tanzen wie alle anderen Paare auch. Die Schmetterlinge in meinem nun vollen Magen stoben jedes Mal auf, wenn ich Mike irgendwie sehr nahe kam. Na ja, ich war ihm eigentlich jetzt schon nahe, aber ich war um einen Kopf kleiner als er, deswegen schaute ich, wenn ich geradeaus blickte, auf seinen Hals.
"Du bist wunderschön", murmelte Mike. Ich lächelte und hob meinen Kopf, damit ich in seine Augen sehen konnte.
"Ich weiß, was du für mich empfindest", setzte er fort.
"Vielleicht solltest du dich ab jetzt daran gewöhnen, keine Privatsphäre mehr zu haben." Mike grinste mich belustigt an. Ich gab ihm einen leichten Klaps in die Seite.
"Warum hast du gesagt, dass du mit Sally hierhergehst?", fragte ich leise.
"Damit du keinen Verdacht hast. Ich wollte, dass es eine Überraschung wird. Als ich erfahren hab, dass du nicht wirklich vorhast zu kommen, hab ich was tun müssen. Wäre ja blöd gewesen, wenn ich auf einmal ohne Partner dastehen würde." Mike schien nachzudenken.
"Ich war mir unsicher. Es hätte ja auch eine Falle sein können", sagte ich.
"Ja, das verstehe ich, aber jetzt weißt du ja, dass es keine gewesen ist." Ich nickte und lächelte ihn an.
"Du hast so schöne violette Augen", flüsterte Mike. Ich fühlte mich geschmeichelt. "Deine Augen passen zwar nicht mit deinen Schuhen und deiner Handtasche zusammen ..." Ich zog eine Augenbraue hoch. " ... aber das ist mir egal. Ich weiß schon längere Zeit, dass du dich nicht sehr für Mode interessierst, aber genau deswegen finde ich dich so toll."
"Das stand in einem Brief. In dem Heutigen, um genau zu sein", erwiderte ich. Mike nickte zufrieden. In dem Moment hörte das Lied auf. Doch keiner hörte auf. Jedes Paar genoss auch noch den zweiten Tanz, dann entfernten sich aber einige zur Cocktailbar. Ich hatte meinen Kopf auf Mikes Brustkorb gebettet und so drehten wir uns ganz langsam im Kreis. Ich konnte spüren, wie er mir einen Kuss auf den Scheitel drückte. Als das dritte Lied zu Ende war, löste ich mich von ihm. Wir sahen uns einige Sekunden an, bis Mike grinsend sagte: "Ich könnte dich stundenlang anstarren, ohne dass mir langweilig wird."
"Mir geht's genau so", antwortete ich überglücklich. Wir verließen beide strahlend die Tanzfläche um uns auch einen Cocktail zu gönnen.
Hawaiicocktail mit Ananas-, Mango- und Pfirsichsirup und Alkohol. Mhhh, lecker! Neben mir tauchte Shery mit Will im Schlepptau auf.
"Ich bin so stolz auf dich!", rief sie und fiel mir um den Hals. "Habt ihr euch schon geküsst?" Ich musste daran denken, dass er meine Gedanken lesen konnte.
"Ja. Zweimal." Shery quietschte aufgeregt. So hatte ich sie noch nie erlebt.
"Geht's dir gut?", wollte ich zur Sicherheit wissen.
"Ja! Ich bin nur so glücklich. Ich freue mich so für dich, Giny!" Ich grinste. Will zog sie mit einem Kopfschütteln aber auch mit einem Lächeln auf den Lippen davon.
"War das eine Freundin von dir?", fragte Mike. Ich nickte. "Wenn du meine Gedanken gelesen hast, weißt du auch, wie sie heißt."
"Shery." Ich verdrehte meine Augen und nahm den Strohhalm meines Cocktails in den Mund. Inzwischen war es dreiviertel elf geworden.
"Bist du schon müde?", fragte er mich nach einer Weile.
"Mhh ..." Um ehrlich zu sein wäre ich gespannt, ob wir in sein oder mein Zimmer gehen würden. Scheiße, er konnte ja meine Gedanken lesen! Mike lachte leise in sich hinein. "Ich hab dir ja gesagt, dass du dich daran gewöhnen solltest."
"Ja, ich bin müde." Mein Partner grinste mich an. Eng umschlungen machten wir uns auf den Weg in sein Zimmer.
Ich staunte. Es waren die gleichen Möbel, die jeder in seinem Zimmer hatte, aber nicht das beeindruckte mich, sondern die ganzen Gemälde, die an den Wänden hingen. Die meisten zeigten mich. Schon in der ersten Klasse hatte er mich gezeichnet. Mein Blick fiel auf ein Bild, das schon etwa älter zu sein schien. Ich stand mit meinen Freunden zusammen in einem etwas unförmigen Kreis und lachte gerade über irgendwas. Man sah mein Gesicht nur von der Seite, aber man konnte haarscharf erkennen, dass ich das auf dem Gemälde war.
"Wann war das?", fragte ich Mike, der dicht hinter mir stand und seine Arme um meinen Bauch geschlungen hatte. Wir benahmen uns ja schon wie ein Liebespaar, das bereits eine Weile zusammen verbrachte Zeit hinter sich hatte, doch heute hatten wir gerade einmal unseren ersten Kuss gehabt!
"Da hab ich dich das allererste Mal gesehen. Dieses Bild ist mein Favorit, denn in diesem Augenblick habe ich mich in dich verliebt."
"Hast du das alles in deinem Kopf gespeichert? Wie weißt du später, wie ich ausgesehen habe, wenn du anfängst zu malen?"
"Weißt du, Virginia, es gibt heutzutage so neumoderne Dinger, die sich Fotoapparat nennen." Ich schaute ihn mit sarkastischem Blick an. "Ach, echt? Noch nie davon gehört." Unsere Wortzankereien hatte ich schon schrecklich vermisst.
"Auf jeden Fall war das ein guter Zeitpunkt, denn genau da hatte ich vorgehabt, etwas zu fotografieren und zu malen. Du warst perfekt." Es schien, als würde sich dieser Moment gerade vor Mikes Augen abspielen. Ich lächelte und konnte mein Glück noch immer kaum fassen. Wir schauten uns noch seine restlichen Bilder an. "Mike, das sind alle tolle Kunstwerke! Wieso verkaufst du sie nicht oder zeigst sie Mrs. Lorence?", schlug ich vor.
"Virginia, das sind doch einfache Gemälde und keine, nun ja ... Kunstwerke. Mrs. Lorence verlangt schon professionellere Sachen, die mit Magie gemacht wurden. Ich zeichne diese Bilder aber nur mit einem gewöhnlichen Pinsel und einer gewöhnlichen Farbe."
"Aber sieh dir doch mal die Details von meinem Gesicht an. Das sieht ja schon fast wie eine Fotokopie aus, weil es so genau gezeichnet ist", widersprach ich ihm. Mike seufzte. "Ich weiß es nicht. Außerdem will ich die Bilder von dir nicht hergeben; dafür sind sie mir nämlich viel zu wertvoll." Wir schauten uns wieder in die Augen. Ich in seine Braunen, er in meine Violetten. Er legte seine Stirn an die meine. Jetzt konnte ich seine Augen noch größer sehen. Am äußeren Rand seiner Iris waren sie sogar ein bisschen golden. Er legte seine Hande in meinen Nacken und zog mich näher an sich ran, sodass sich unsere Nasenspitzem beinahe berührten.
"Ich liebe dich, meine Kampfprinzessin", flüsterte er plötzlich. Ein kalter Schauder lief mir den Rücken hinauf und hinunter. "Und ich dich erst!", antwortete ich und schloss meine Augen. Dann wurde die Lücke zwischen uns immer kleiner, bis unsere Lippen miteinander verschmolzen.
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