ⅩⅤ. 𝙳𝚎𝚊𝚛 𝚌𝚘𝚞𝚜𝚒𝚗

Liebe Jana,

alles war gut gewesen. Alles war gut gewesen. Und plötzlich war die Illusion zerstört. Natürlich ist meine Familie nicht perfekt. Ich bin nicht perfekt. Meine Beziehung zu allen möglichen Familienmitgliedern ist keineswegs perfekt. Aber das liegt größtenteils an mir. Das liegt doch nur daran, dass ich nicht einfach so offen mit jedem reden kann, der nicht mit mir befreundet ist. Es hat immer nur mich betroffen. Aber ich bin zufrieden mit meiner Familie. Ich habe eine große Verwandtschaft, mit vielen liebenswerten und freundlichen Menschen, die ich liebe.

Und auf einmal weiß ich von dir. Auf einmal ist meine Familie nicht mehr perfekt, was aber nicht an mir liegt. Plötzlich ist da Misstrauen, Skepsis, das wenige Vertrauen verschwindet beinahe gänzlich. Warum wusste ich nichts von dir? Jetzt fühle ich mich dumm, unwissend, dabei hab ich nicht einmal etwas falsch gemacht. Was ist dir passiert? Da war immer ein leerer Platz in meiner Familie und ich habe es nicht gemerkt, nicht gesehen - nicht gewusst.

Ich habe nur zufällig erfahren, dass es dich gab. Ganz am Rande erwähnten meine Mutter und eine meiner Tanten dich während eines Telefonats. Schon damals hab ich mich gewundert. Meine eine andere Tante soll eine Tochter gehabt haben? Zu diesem Zeitpunkt habe ich noch gar nicht weiter gedacht. Ich habe noch nicht daran gedacht, dass ich dann ja eine weitere Cousine hatte. In diesem Moment konnte ich nur daran denken, welchen Schmerz meine Tante ertragen musste. Schließlich warst du nicht hier, also musstest du wohl tot sein. Und ein Kind zu verlieren, das stelle ich mir sehr schlimm vor.

Aber bald darauf hatte ich die ganze Sache wieder vergessen. Für eine Weile hatte ich mir Gedanken gemacht, doch letztendlich unternahm ich nichts. Mehr als ein halbes Jahr verging, viele Dinge passierten und alles war zumindest im Bezug auf diese Sache wieder gut, einfach weil ich es verdrängt und schließlich vergessen hatte. Ich hatte andere Probleme.

Doch so schnell wie ich dich vergessen hatte, so schnell tauchtest du wieder auf. Wieder wurdest du nur kurz erwähnt, aber dieses Mal bliebst du in meinem Gedächtnis. Es waren nur wenige Tage seit meinem Geburtstag vergangen. Meine Patentante und mein Patenonkel waren zu Besuch, wir hatten viel geredet und nun wollten sie sich verabschieden. Aber noch standen wir im Flur und meine Eltern redeten weiter mit ihnen, während meine Schwester und ich nur da standen und zuhörten. Schon das Thema anfangs war nicht das schönste. Meine Mutter erzählte von Gräbern, Beerdigungen und verstorbenen Verwandten in Indonesien. Du musst wissen, meine Oma, die Mutter meiner Mutter, ist im Sommer gestorben und durfte nicht normal begraben werden. Sie hatte Corona und ist nach ein paar Tagen daran gestorben und weil sie nun mal infiziert war, musste sie verbrannt werden. Meine Patentante erzählte daraufhin, wie sie das Grab meiner anderen Oma bepflanzt und hergerichtet hat. Nun, meine andere Oma, die Mutter meines Vaters, ist auch vor Kurzem gestorben. Sie war auch deine Oma. Jedenfalls kamen meine Paten und meine Eltern schließlich zu der Frage, wie lange die Ruhezeit eines Grabs sei, weil meine Patentante wohl knochenähnliche Dinge gesehen hatte.

Da haben sie länger diskutiert und auf einmal warst du wieder da. Plötzlich wurdest du erwähnt. Sie hatten doch tatsächlich deinen Namen vergessen... Wie hieß nochmal die Tochter von meiner einen Tante? Sofort hörte ich genauer zu, als sie diese Frage stellten. Und in diesem Moment fühlte ich mich auch ein bisschen verarscht. Da wussten die doch sicher alle, dass ich nichts davon weiß, und dann wird so etwas gefragt. Keiner nimmt Rücksicht...

Meinem Vater ist dein Name schließlich wieder eingefallen, den ich mir unmittelbar einprägte. Ich kenne niemanden, der deinen Namen ebenfalls trägt und somit wurdest du einzigartig für mich. Und als sie dann dein Grab erwähnt haben, war für mich klar, dass du tot bist. Ich konnte nur schlucken und habe nichts gesagt. Die anderen haben einfach weiter geredet, als ob nichts gewesen wäre. Aber ich hab mir selbst das Versprechen gegeben, dich nicht zu vergessen.

Jedoch ist das einzige, was ich von dir weiß, dein Name, wer deine Verwandten sind und dass du tot bist. Nie hat jemand zuvor über dich geredet und ich frage mich warum. Ja, warum hat niemand von dir erzählt? Warum hat man dich verschwiegen? Wer weiß denn alles von dir? Alle meine Cousins und Cousinen väterlicherseits sind älter als, sie könnten also alle davon wissen oder dich sogar noch gekannt haben. Ich weiß ja auch nicht, wann du gestorben bist. Und warum und wie...

Da gibt es ja auch tausende von Möglichkeiten. Vielleicht bist du schon gestorben, als du noch nicht geboren warst, vielleicht hattest du aber auch schon einige Jahre deines Lebens hinter dir. Womöglich hattest du eine Krankheit, womöglich war es aber auch ein Unfall. Ich weiß es nicht. Warst du älter als deine Brüder oder jünger? Älter oder jünger als unsere anderen Cousins und Cousinen? Wer warst du?

Warum redet niemand über dich? Warum wusste ich bisher nichts von dir? Es kommt mir so erbärmlich vor, dass ich erst vor weniger Zeit von dir erfahren habe. Ist es nicht traurig, dass ich schon so lange auf dieser Welt bin und nichts von meiner eigenen Cousine weiß? Warum sollte man dich geheim halten? Und wenn man das versucht hat, warum reden meine Eltern und Paten dann doch so unbedacht darüber? Passen sie nicht auf, wenn sie auf dieses Thema zu sprechen kommen? Machen sie sich keine Gedanken darüber, was ich gehört habe? Warum erzählen sie nicht einfach, was passiert ist? Warum?

Stattdessen mache ich mir ewig viele Gedanken darum. Stattdessen liege ich abends weinend im Bett, weil ich eine tote Cousine habe. Stattdessen stelle ich mir jeden Tag aufs Neue tausende Fragen. Verdammt, du bist meine Cousine und tot. Wenn ich daran denke, könnte ich jedes Mal weinen, dabei kannte ich dich noch nicht einmal.

Und ich wünschte einfach, du könnest das hier lesen und mir helfen, mir meine Fragen beantworten. Ich wünschte, du wärst sowas wie meine Freundin. Ich wünschte, du wärst einfach hier bei mir.

Mit wem soll ich darüber reden? Natürlich habe ich meinen besten Freundinnen davon erzählt, aber die können nun mal nicht viel mit mir unternehmen. Wer weiß noch von dir? Oder wer weiß auch nicht von dir? Ich bin auch unsicher, ob ich meine Schwester fragen soll, ob sie das mitbekommen hat. Sie lässt sich solche Dinge oft nicht anmerken und ich denke immer, dass sie sich nicht so viele Gedanken wie ich macht, aber andererseits zeige ich auch nicht, wie viel ich darüber nachdenke. Vielleicht beschäftigt sie die Sache auch, nur bekomme ich es nicht mit. Aber ich weiß nicht, wann und wie ich sie darauf ansprechen soll. Und wenn sie es nicht mitgekriegt hat, wie erzähle ich es ihr dann? Als ich es anderen erzählt habe, habe ich schon geweint, aber auch gelacht. Es kann so unterschiedlich kommen, aber vor meiner Schwester möchte ich nicht in Tränen ausbrechen.

Aber sie ist die einzige, die es auch interessieren könnte, wer du bist. Sollte ich sie fragen?

Und wer kann mir letztendlich mehr darüber erzählen? Anscheinend weiß ja jeder aus meiner Familie davon, sogar meine Mutter, die nicht viele Jahre länger als ich lebe hier in Deutschland ist. Einerseits möchte ich unbedingt alles über dich wissen, andererseits habe ich auch Angst davor. Wer weiß schon, wie schrecklich und schmerzhaft deine Geschichte wirklich ist? Auch vor meinen Eltern will ich nicht weinen. Auf keinen Fall.

Mit meinen Verwandten habe ich wie schon geschrieben nicht die perfekte Beziehung... da würde ich viele nicht in Betracht ziehen. Am nächsten stehe ich wohl unserer einen Cousine und meiner Patentante. Ich kann aber einfach nicht sicher sein, dass unsere Cousine von dir weiß. Es wäre zwar sehr komisch wenn nicht, schließlich ist sie um einiges älter als ich. Mit meiner Patentante würde ich darüber reden, ich bezweifle aber, dass ich mich trauen werde zu fragen... Ich würde vor ihr weinen und hätte kein Problem damit. Letztlich habe ich ja schon vor ihr geweint. Ihre Umarmung und Präsenz haben es zwar erst schlimmer gemacht, aber ich habe mich trotzdem so wohl gefühlt. Jedoch sehe ich sie so selten, dass ich sie oft vermisse.

Manchmal wünsche ich mir, ich hätte eine Cousine in meinem Alter, mit der ich mich so richtig gut verstehen würde. Wir wären gute Freunde und gleichzeitig verwandt... Manchmal stelle ich mir vor, dass du das bist, obwohl du sehr viel älter wärst, wenn du noch leben würdest.

Gerade fühle ich mich so einsam und alleine, dass ich weinen könnte. Diese Vorstellungen und Träume von etwas, was es nie gab und nie geben wird, tuen weh, so schön sie auch sind. sie schmerzen so sehr und sind unerfüllbar.

Ich wünschte wirklich, du könntest mir helfen. Mir einfach sagen, wen ich einweihen soll und wen ich fragen kann. Wie ich dich kennenlernen kann.

Vermutlich wird es mir erstmal schlechter gehen, wenn ich mehr über dich weiß. Es kann keine schöne Geschichte sein, wenn sie mit dem Tod endet. Aber wenn ich den Hintergrund nicht herausfinde, wird es mich für immer weiter beschäftigen und nie loslassen. Und ich will nicht weiter diese Ungewissheit fühlen. Ich will endlich Fakten und Antworten.

Ich wünschte, du würdest das hier lesen können. Ich will, dass du weißt, dass du nicht vergessen wirst, dass ich mich für dich interessiere. Obwohl ich nichts über dich weiß, wünschte ich, du wärst hier. Ich vermisse dich trotzdem. Deine Eltern und deine Brüder denken sicher jeden Tag an dich. Auch wenn du nicht mehr hier bist, bist du meine Cousine. Obwohl du nicht mehr hier bist, denken wir an dich. Wir werden dich nie vergessen. Niemals.

Deine Katharina

[1595 Wörter - 25. März 2022]

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Hey meine lieben Hobbitse 💙
irgendwie gefällt es mir, in Briefform zu schreiben. Vor allem wenn man nur Gedanken runterschreiben möchte, fällt es mir als Brief am leichtesten. Die Namen sind wieder Pseudonyme. Ich hoffe, euch gefällt es, auch wenn es keine normale Kurzgeschichte ist.
~LinaewenFinduilas

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