ΙΙ. 𝙴𝚒𝚗𝚎 𝚑𝚒𝚖𝚖𝚕𝚒𝚜𝚌𝚑𝚎 Ü𝚋𝚎𝚛𝚛𝚊𝚜𝚌𝚑𝚞𝚗𝚐
Dicke, schwere Tropfen fielen vom wolkenverhangenen Himmel. Meine schwarzen, langen Haare klebten an meinem Kopf und in meinem Nacken. Meine Kleidung war komplett durchnässt und fühlte sich tonnenschwer an. Die Landschaft wirkte grau, trist und düster. Eine Welt so finster, dass es sich nicht mehr lohnte, in ihr zu leben. Die Grabsteine schienen auf einmal alle gräulich, keine glänzenden Inschriften und keine farbigen Elemente in den Steinen konnte ich erkennen. Salzige Tränen rannen meine Wangen hinab und mischten sich mit dem frischen Regen. Meine Sicht war tränenverschleiert, bunte Blumen als Grabschmuck erblickte ich auch nicht mehr. Es war als hätte sich ein Schwarzweiß-Filter über meine Augen gelegt. Mittlerweile waren alle Besucher der Beerdigung nach Hause gegangen und ich war alleine auf dem Friedhof. Alleine und einsam. Nicht nur hier auf dem Friedhof, auch in meinem Haus würde ich alleine und einsam sein. Erst daheim würde ich mich nicht mehr verlassen fühlen. Aber mein Zuhause war von dieser Welt gegangen. Mit leerem Blick starrte ich auf den eintönigen Grabstein. Die Pflanzen und Blüten, die davor gelegt worden waren, wirkten welk. Erschöpft bogen sich die Blütenköpfe nach unten. Die Regentropfen liefen wie Tränen an den Blütenblättern nach unten. Die Schrift auf dem Stein war schwarz und die gewählte Schriftart schlicht und einfach. Ohne die Inschrift wirklich bewusst zu lesen, schweiften meine Blicke darüber, schienen ins Nichts zu sehen und eher durch die Buchstaben hindurch. Sie waren leicht zur Seite geneigt, wie dünne Bäume im leichten Wind. Die Worte waren dennoch in mein Gedächtnis gebrannt.
Ein Engel ist in den Himmel aufgestiegen
Elijah McCarthy
* 3. Januar 1947
✞ 2. September 1973
Mein Engel
Ich schluckte. Trotzdem konnte ich eine neue Flut an Tränen nicht verhindern. Laut schluchzend fiel ich auf die Knie, mein ganzer Körper zitterte und bebte. Steinchen bohrten sich durch meine Hose in meine Haut. Ich gab auf und weinte nun hemmunglos. Tränen liefen erneut die gleichen Bahnen wie zuvor über mein Gesicht. Nach Luft schnappend barg ich mein Gesicht in meinen kühlen Händen. Schmerz war das Einzige, was ich fühlte.
Nach einer Weile wurde der Regen weniger. Nur noch feine Tröpfchen fielen sanft herab. Mit dem Ärmel meines nassen Mantels versuchte ich die letzten Tränen aus meinen Augenwinkeln zu wischen und meine Wangen zu trocknen. Langsam stand ich auf, ohne auf meine schmerzenden Knie zu achten. Der schwarze Stoff war schlammbedeckt. Mit verrschwommenem Blick starrte ich auf das leere, braune Beet vor dem Grabstein. Meine von der Kälte leicht blauen Finger fassten in meine große Manteltasche und zogen eine etwas traurig aussehende Blume heraus. Die sechs Blütenblätter der Lilie waren reinweiß. Vorsichtig richtete ich ein umgeknicktes Blatt wieder auf. Ich kniete mich erneut auf den Schotterweg und legte die Blume behutsam auf das Grab. Meine Finger ruhten noch für einige Sekunden auf der Blüte. Sobald ich sie nicht mehr berührte, richtete ich mich hastig auf, drehte mich um und ging. Ohne zurück zu blicken hastete ich über den Friedhof, weg von seinem Grab. Obwohl es aufgehört hatte zu regnen, setzte ich meine große Kapuze auf und zog sie tief in mein Gesicht. Die Trauer sprach zwar nicht mehr aus meinen Augen, eher würde man mich als emotionslos bezeichnen. Ich verbarg meinen Kummer unter Ausdruckslosigkeit. Meine Seele schien unter schweren Steinen begraben.
Mit gesenktem Blick lief ich durch die tristen, trostlosen Straßen. Was sollte ich denn jetzt machen? Wo sollte ich hingehen? Nach 'Hause'? Und was sollte ich dort anstellen? Ich konnte doch nicht einfach so wieder in mein altes Leben zurückkehren. Zumal er nicht mehr da war. Mein altes Leben gab es nicht mehr. Ein neues aber auch nicht. Ich spielte mit dem Gedanken einfach aufzugeben. Das erschien so viel einfacher als weiter zu kämpfen. Ich hatte doch sowieso schon verloren. Schließlich gab es hier niemanden mehr, der mich brauchte. Ich würde niemanden in Trauer versetzen. Hier war einfach niemand.
Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, spürte ich einen starken Luftzug, der mir beinahe die Kapuze vom Kopf riss und blieb stehen. Mit einer schnellen Bewegung griff ich nach dem Stoff und zog ihn wieder an die richtige Stelle. Als der Wind wieder nachließ steckte ich meine Hände wieder in die Taschen und blickte betrübt zu Boden.
Überrascht sog ich die Luft ein. Direkt vor meinen Stiefeln sah ich ein weiteres paar Schuhe. Langsam wanderte mein Blick höher. Ich stieß auf eine schwarze, elegant aussehende Jeans. Ich zitterte. Diese Jeans hatte ich schon so oft gesehen, waren mir so vertraut. Ich hatte sie eigentlich vernichten wollen, aus meinem Gedächtnis verbannen. Doch hier waren sie wieder. Er hatte sie immer getragen. Als meine Augen das graue T-Shirt trafen weiteten sie sich. Mir blieb die Spucke weg und stand wie versteinert da. Ich traute mich fast nicht noch höher zu sehen. Aber meine Blicke schienen ein Selbstleben zu führen. Ich musste einfach sein Gesicht sehen. Bevor ich es anblicken konnte, fühlte ich eine zarte Berührung an meiner Wange. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Er konnte es nicht sein. Er war doch.... tot. Wie konnte er jetzt vor mir stehen? "Sophia...", hauchte er und ich konnte meinen Ohren nicht trauen. Die Welt war auf einmal wieder voller Farben. Das Gras leuchtete sattgrün, Blumen in allen erdenkbaren Farben. Der Himmel schien nicht mehr ganz so grau. Er klang so... so wie er. Er musste es sein. Meine Vernunft sagte mir, dass das nicht sein konnte. Aber mein Herz protestierte und verdrängte jegliche Bedenken und ignorierte meinen Verstand. Aufgeregt pochte es, als wollte es jeden Moment aus meiner Brust springen... Und mit seinem vereint sein.
Endlich wagte ich es, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich keuchte auf, seine durchdringenden, aber warmen braunen Augen blickten mich direkt an. Wir sahen uns für eine gefühlte Ewigkeit an, die doch so kurz schien. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Als mein Blick auf etwas hinter ihm fiel, stockte mein Atem. Wunderschöne, weiße Flügel, durchzogen von pfirsichfarbenen Schlieren, ragten von seinem Rücken auf. "Elijah..." Es war nur ein schwaches Flüstern, dass meinem Mund entwischte. "Wow..." Ich war so glücklich und perplex, dass ich das alles einfach hinnahm und keine Fragen stellte. Behutsam berührte ich die Federn seiner Schwingen. Sie waren angenehm weich und flauschig. Sachte schmiegten sie sich an meine Haut. Sie fühlten so filigran und flaumig. Sanft strich ich mit den Fingerspitzen über sie. Mein Engel.
Plötzlich schossen mir die Tränen in die Augen. Leise begann ich zu weinen. Er war tot. Selbst dieser Moment war nicht für immer. Er war hier, aber irgendwie auch nicht. Ich war mir sicher, dass das hier nicht echt sein konnte oder er wieder verschwinden würde. Der Gedanke war so schwer zu ertragen, er schmerzte so sehr, aber ich musste ihn akzeptieren. Ich spürte, wie er seine Arme um mich legte und mich fest an sich zog. Sehnsüchtig lehnte ich mich an ihn. Ich wollte nie wieder weg von hier. Auch er weinte, lautlos und fast unmerklich, aber ich fühlte es. Liebevoll drückte er seine Lippen auf mein Haar. Mit tränennassenm Gesicht sah ich hoch zu ihm und lächelte ihn unsicher an. Zärtlich wischte er meine Tränen weg.
Leise seufzend lehnte ich meinen Kopf wieder an seine Brust. So blieben wir eine Weile stehen und genossen es einfach. Die Realität verdrängte ich vorerst.
"Lass uns die Zeit, die wir miteinander haben, auch genießen, Sophia", wisperte er mir zu. Lächelnd nickte ich und löste mich von ihm. Glücklich griff ich nach seiner Hand und umklammerte sie, genauso wie er meine. Nebeneinander liefen wir einfach los, ohne jegliches Ziel, ohne uns Gedanken darüber zu machen, wo wir hingingen.
[1255 Wörter - 12. Mai 2021
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
Suilad meine lieben Hobbitse 💙,
wie geht's euch allen so?
Auch dieser Oneshot ist bei der Wattpad Schule entstanden, nur mit dem Wort 'Überraschung' als Vorgabe. Ich hoffe, er hat euch gefallen :)
~LinaewenFinduilas
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top