ⅩΙⅤ. 𝚅𝚎𝚛𝚎𝚒𝚗𝚝 𝚒𝚖 𝚃𝚘𝚍

Orientierungslos stolpert er durch den undurchdringlichen Wald. Äste streifen sein Gesicht, hinterlassen rote Spuren auf seinen Wangen, und immer wieder bleibt der Stoff seiner Kleidung an spitzen Dornen hängen. Ohne groß nachzudenken reißt er sich von den stechenden Pflanzen los. Kopflos läuft er weiter. Es stört ihn nicht, dass sein Pullover und seine Hose mittlerweile von Löchern geziert werden, durch die der Wind bläst. Seine Haut ist eiskalt und nass, die Überreste seiner Klamotten nützen da nicht mehr viel, auch weil es noch immer wie aus Kübeln regnet. Er spürt auch die Schnitte und Kratzer der Dornen nicht mehr. Wenige Tropfen Bluten laufen über sein Gesicht und mischen sich mit dem säuberndem Regen. In der Ferne flackert ein greller Blitz über den dunklen zugezogenen Himmel und erhellt die stockfinstere Nacht für einen winzig kurzen Moment. Keine Sekunde später ist ohrenbetäubender Donner zu hören und er zuckt unwillkürlich zusammen. Das alles passiert so schnell, dass er nicht weiß, ob er vor dem Donner oder danach zusammengefahren ist, aber darüber macht er sich auch keine Gedanken.

Er hat nur einen einzigen Wunsch im Kopf und tief in seinem Herzen und dieser erlaubt ihm nicht, über anderes nachzudenken. Seine Füße folgen keinem Weg, überall ist Gestrüpp. Nie ist hier jemals jemand zuvor hindurchgelaufen, alles ist zugewachsen. Für Angst oder ähnliches hat er keine Zeit, er muss einfach nur weiter. Er hat sich fest in den Kopf gesetzt, nicht aufzugeben, nicht aufzuhören zu laufen, bis er ihn gefunden hat. Fynn. Und davor wird keine Pause machen und sich nicht ausruhen. Sonst ist es womöglich schon zu spät für Fynn. Ian hat keine Ahnung, wo Fynn gerade genau ist, wie es ihm geht oder was mit ihm gemacht wird. Aber solange er ihn findet, ist das egal. Und dafür muss er durch diesen Wald. Er muss den Weg finden, der ihn zu der Brücke führt. Vor noch nicht mal einer Stunde hat er den Brief erhalten, in dem geschrieben steht, wo er hinzukommen hat, um Fynn wieder zu bekommen. Kein Absender und keinerlei anderer Hinweise darauf, von wem die Nachricht stammen könnte. Und ob die dahinterstehende Person seriös ist oder nicht, kann Ian auch nicht sagen. Aber er ist ohne zu zögern bei diesem Unwetter rausgegangen und hat sich auf den Weg gemacht. Nur hat ihn die beigelegte Wegbeschreibung hier her geführt und nun weiß er gar nicht mehr, ob er überhaupt noch auf dem richtigen Weg ist. Obwohl er sich schon seit einer gefühlten Ewigkeit in die gleiche Richtung durch den Wald kämpft, ist ihm nicht ein einziges Mal zumindest ein Trampelpfad begegnet und der Waldrand ist auch nie in Sicht gekommen. Aber es ist so dunkel, dass Ian sowieso nichts sehen kann. Trotzdem müsste die Brücke langsam mal auftauchen, die Wegbeschreibung ist nämlich so einfach gewesen und hat ihn nur geradeaus durch den Wald geschickt.

Jetzt kann er die Bäume wieder nur schemenhaft erkennen und muss höllisch aufpassen, nicht gegen einen Stamm zu rennen. Seine Lider flattern wegen der Regentropfen. Angestrengt kneift er die Augen zusammen, um genug zu erkennen. Dennoch übersieht er einen tief hängenden Ast, der ihn nun zu Boden reißt. Hart schlägt er auf, sodass es ihm die Luft aus der Lunge drückt. Stöhnend bleibt er einige Sekunden liegen. Wieder blitzt es und ganz kurz sieht er die Regentropfen auf ihn niederprasseln, die Baumkronen sich im Winde wiegen und ihre angsteinflößenden und bedrohlichen Schatten. Er gibt sich selbst keine Zeit, um sich von diesem Sturz zu erholen, stattdessen rappelt er sich wieder auf, reibt sich kurz den Kopf und hastet weiter. Keine Zeit für Schmerz. Weiterlaufen. Sein Atem geht schwer, seine Beine spürt er immer weniger und es grenzt an ein Wunder, dass sie ihm noch gehorchen. Erbarmungslos treibt er sich weiter an, gibt keine Acht auf das Klagen seines Körpers.

Plötzlich lichtet sich der Wald. Ian sieht noch immer nichts, zu dunkel ist es dafür und die Regentropfen zwingen ihn zu blinzeln. Aber weniger Äste und Zweige streifen ihn, hängen sich an ihn fest und er stolpert nicht mehr ständig. Statt nun langsamer zu gehen, rennt er schneller weiter. Ungehindert fliegen seine Füße nun über den Waldboden. Er ist noch nicht am Ziel. Er ist noch nicht bei Fynn. Wenige Schritte später läuft er nicht mehr auf der weichen Erde, die von heruntergefallenen Blättern bedeckt ist, sondern auf einem gepflastertem Pfad. Er bemerkt nur am Rande, dass er endlich einen Weg gefunden hat. Nur kurz durchflutet ihn Erleichterung, dann ist er mit den Gedanken wieder bei Fynn, sagt sich innerlich die ganze Zeit, er müsse weiter laufen und betet, dass es Fynn gut geht.

Jeder Schritt scheint immer schwerer zu werden und seinen ganzen erschöpften Körper zu erschüttern. Ian spürt jeden Knochen, jeden Muskel und jeden Schmerz und doch spürt er gleichzeitig gar nichts davon. Nur noch selten flackert ein Blitz am Himmel und etliche Sekunden später donnert es leise in der Ferne. Das Gewitter ist weiter gezogen, leichter Nieselregen ist geblieben. Die Wolkendecke reißt auf und der Mond kommt blass zum Vorschein. Schwaches Licht sendet er auf die Erde und Ian sieht endlich wieder, wo er hinläuft und muss sich nicht mehr nur auf seine anderen Sinne verlassen. Und seine Augen erblicken nun die gesuchte Brücke. Er kann die andere Seite nicht erkennen, die Brücke scheint geradezu endlos. Sie spannt sich über eine tiefe Schlucht, deren Boden genauso unabsehbar wie das Ende der schmalen Brücke ist. Nur ein niedriges, steinernes Geländer bewahrt einen vom Hinabfallen.

Schwer atmend macht Ian die ersten Schritte auf der Brücke. Ohne es zu bemerken war er langsamer geworden, seine Hände greifen nach dem Geländer und klammern sich an dem kalten, nassen Stein fest. Zitternd wirft er einen Blick in den Abgrund. Dünne, verwitterte und von Rissen durchzogene Pfeiler stützen die Brücke. Er schluckt und packt noch ein wenig fester zu. Diese Brücke ist ihm nicht geheuer. Er fühlt sich so unsicher und bildet sich schon ein, dass die stützenden Säulen sich unter ihm im Wind wiegen. Dennoch wagt er es, weiter zu gehen. Er muss einfach zu Fynn und dafür nimmt er alles in Kauf, auch über diese gefährlich erscheinende Brücke zu gehen. Konzentriert sieht er auf seine Füße, die einen Schritt nach dem anderen machen.

Ohne den Schutz der Bäume reißt der Wind gnadenlos an Ian, rauscht aufdringlich in seinen Ohren. Jedoch dringt ein leiser, verletzlicher Laut durch das Rauschen. Ein Rufen seines Namens. Fynns Stimme. Sobald Ian meint, die Richtung, aus der der Klang kommt, festgemacht zu haben, verwehen sich die scheinbaren Worte im Wind wieder. Verzweifelt sieht er in alle Richtungen, nach hinten, nach vorne, sogar in die Schlucht schaut er und versucht Fynn zu finden. Er muss hier irgendwo sein. Vorsichtig geht er weiter, obwohl die Brücke immer mehr zu wackeln scheint. Es müssen ungeheure Kräfte am Werk sein, die ein solches Konstrukt zum Schwanken bringen können.

Ian reißt die Augen auf, als er Fynn endlich am anderen Ende der Brücke sieht. Plötzlich scheint sein Weg nicht mehr angsteinflößend und Ian rennt los. Fynn schaut nur erschrocken und blankes Entsetzen ist auf sein Gesicht geschrieben. Während Ian nichts merkt, beobachtet Fynn voller Angst, wie die Brücke sich wirklich zur Seite neigt. Aber auch er läuft los, er muss zu Ian. Und so laufen sie sich entgegen. Beiden laufen die Tränen das Gesicht herab - vor Glück, weil sie wieder beisammen sind, vor Erschöpfung und vor Angst umeinander. Die Distanz zwischen ihnen verkürzt sich stetig, nur noch wenige Meter scheinen sie zu trennen, als die Brücke beginnt, unter ihren Füßen wegzubrechen. Die Steine, die den Weg dargestellt haben, fallen in die Schlucht und klaffende Löcher tun sich auf. Voller Schrecken können sie nur dabei zusehen, wie der Spalt zwischen ihnen größer wird. Klagende Rufe übertönen den Wind, sie versuchen sich gegenseitig zu beruhigen und reden sich ein, dass alles gut wird, doch wissen sie beide, dass es das nicht wird. Dann auf einmal wird die Angst auf Fynns Gesicht von Entschlossenheit verdrängt. Er geht einige Schritte nach hinten und nimmt Anlauf. Ein gellender Schrei erfüllt die Luft, als Ian begreift, was Fynn vorhat. Sein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Fynn kann das nicht schaffen, es ist einfach zu weit, er wird fallen, er wird in die tiefe Schlucht fallen und fallen und fallen und fallen und dann wird er aufschlagen und tot sein. Ian will das nicht zulassen, aber was kann er jetzt noch dagegen tun? Er überlegt nicht lange, nimmt ebenfalls Anlauf und springt. Mit geschlossenen Augen fällt er, aber seine Finger finden die von Fynn, der auch fällt. Ihre Finger verschränken sich und endlich spüren sie wieder Wärme. Einen kurzen Moment, der Ian wie eine zu kurze Ewigkeit vorkommt, genießt er ihren Sturz. Sie sind zusammen und fliegen. Es ist ein außergewöhnliches Gefühl, Schmetterlinge in seinem Bauch, der Wind in seinen Haaren, der scheinbar endlose Fall und die Berührung von Fynn.

Aber der Sturz ist nicht endlos. Ihre Körper schlagen auf und sie sind sofort tot.

[1487 Wörter - 14. Feb 2022]

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Hey meine lieben Hobbitse 💙
entschuldigt dieses dramatische, tragische Kapitel 🙈 Die Idee kam mir einfach so auf der Busfahrt als ich das Lied oben angehört habe. Ich hoffe, das Ende war nicht zu schlimm und die Geschichte hat euch trotzdem gefallen.
Einen wunderschönen Tag euch noch <3
~LinaewenFinduilas

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