ⅩΙ. 𝚁𝚞𝚑𝚎 𝚒𝚗 𝙵𝚛𝚒𝚎𝚍𝚎𝚗
Mit gleichmäßigen Schritten lief er über das satte, dunkelgrüne Gras. Leichtfüßig bewegte er sich in Richtung eines Hauses. Es stand einsam inmitten von Feldern, Wiesen und Wald. Aber dennoch sah es nicht heruntergekommen oder verlassen aus. Blumen zierten den Vorgarten, die Wände waren in einem kräftigem Gelb gestrichen, das geradezu zum Hereinkommen einlud. In der Sommersonne schien das ganze kleine Gebäude förmlich mit den Sonnenblumen im Garten um die Wette zu strahlen. Das rote Dach glänzte, die Fenster wirkten frisch geputzt und trotz der Hitze am heutigen Tage. ließen die Blumen ihre Köpfe nicht hängen, sondern reckten sich dem Licht entgegen.
Der junge Mann näherte sich dem Haus, seine Füße schienen den Boden kaum zu berühren, als schwebte er darüber. Tatsächlich blieb das Gras unberührt zurück, kein Halm war umgeknickt und lag platt auf der Erde. Schließlich erreichte er eine kleine Baumgruppe vor dem Häuschen. Die drei großen Eichen hatten ausladende Äste und die grünen Blätter leuchteten. Als er unter den Bäumen stand und nach oben sah, erblickte er nur noch an einzelnen Stellen den wolkenlosen Himmel durch das dichte Blätterdach. Der Stamm hatte außergewöhnliche, dicke Falten. Von diesem Platz aus, konnte der Mann das Haus bestens betrachten und beobachten, was dort vor sich ging.
Eine sanfte Brise wehte durch sein kastanienbraunes Haar und machte die Wärme des Sommers für einen kurzen Augenblick ein wenig erträglicher. Ein sanftes wehmütiges Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Sein Blick richtete sich nun zu einem der Fenster, durch das man das Esszimmer erkennen konnte. Es war leer, niemand war dort.
Im Fenster daneben sah er die Küche des Hauses. Sie war klein, aber gut ausgestattet. Eine junge, rothaarige Frau stand am Herd, eine Schürze umgebunden, und kochte Nudeln. Außerdem wuselten zwei kleine Kinder durch den Raum. Das Mädchen, die ältere der beiden, mochte drei Jahre alt sein und lief aufgeregt umher. Wie groß sie schon geworden war, dachte der Mann. Der kleine Junge, der höchstens eineinhalb Jahre alt sein konnte, stand aber schon sicher auf seinen kurzen Beinen und sah glücklich grinsend seiner Schwester zu. Nun glitzerten Tränen in den Augen des Mannes und liefen ihm die Wangen herab. Dann lief der Kleine leicht schwankend zu seiner Mutter und klammerte sich an ihr Bein. Ein herzliches Lachen entfloh ihr und sie hob ihren Sohn hoch, wuschelte ihm durch seine kurzen braunen Haare und setzte ihn auf der Arbeitsfläche ab. Ihre Tochter knabberte währenddessen an rohen Spaghetti, die sie aus der angefangenen Packung geschmuggelt hatte. Dabei lutschte sie auch unabsichtlich an einer Strähne ihrer Haare, die genauso rot waren wie die ihrer Mutter.
Schnell holte die Frau einen hohen Kinderstuhl aus dem Zimmer nebenan und setzte ihre Tochter darauf. Sie drückte ihr einen Kochlöffel in die Hand und kippte schonmal die Zutaten für die Tomatensoße in einen Topf. Fröhlich matschte die kleine Rothaarige in der roten Masse rum. Schon bald waren ihre Finger und ihre Kleidung sowie ihr Gesicht vollgekleckert. Ihr jüngerer Bruder lachte währenddessen und fuchtelte mit seinen kleinen Händen in der Luft rum. So kochten die drei ausgelassen und glücklich ihr Mittagessen.
Lächelnd beobachtete der Mann genau, was die rothaarige Frau tat. Ihre Haare waren zu einem unordentlichen Knoten zusammengefasst, aus dem einige Strähnen rausgerutscht waren. Ein paar Strähnchen klebten ihr an der Stirn und im Gesicht, andere steckte sie immer wieder hinters Ohr. Es war schön zu sehen, dass sie ihre früheren Angewohnheiten behalten hatte. Liebevoll küsste sie ihre Tochter und danach ihren Sohn auf die Stirn. Eine glückliche kleine Familie.
Der Mann fragte sich, ob sie tatsächlich glücklich waren. Es sah wirklich so aus. Cassia schien aufrichtig glücklich zu sein. Mit ihren beiden Kindern konnte sie doch gar nicht anders. Einerseits wollte er sich darüber freuen, er wünschte ihr nur Glückseligkeit, und das tat er auch, aber gleichzeitig wäre er auch etwas enttäuscht darüber. Vielleicht war das ganze auch nur eine Maske. War sie ohne ihn glücklich?
Es tat ihm so leid, erst jetzt hier her gekommen zu sein. Es erst jetzt geschafft zu haben. Er hätte mehr dafür kämpfen müssen, für seine Freiheit und sein Leben. Niemals hatte er sich ausmalen können, so früh zu sterben. Aber es war doch passiert. Und jetzt hatte er es doch geschafft, wenigstens ein letztes Mal hier zu sein, bevor er für immer in sein neues Zuhause, in den Himmel zurück kehrte. Er wünschte, er hätte mehr für sie gekämpft. Für seine Liebe. Für Cassia. Für seine Tochter Linnea. Und für seinen damals ungeborenen Sohn. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er hatte noch nicht mal von dem Kleinen gewusst. Das kleine Kind sah ihm einfach so ähnlich. Wie er wohl hieß? Die Reue des Mannes könnte nicht größer sein. Niemand und nichts konnte ihm in diesem Moment mehr Vorwürfe machen als er es selbst gerade tat. Sein Herz schmerzte. Es schien zu zerreißen. Zur gleichen Zeit aber war er in den letzten Monaten nie so froh und erleichtert gewesen wie jetzt. Er hatte sie schließlich gefunden. Unversehrt. Seine beiden Kinder lebten. Die drei fehlten ihm und er fehlte ihnen. Aber er konnte nichts tun. Schon bald würde er wieder gehen müssen, er konnte nicht bleiben, es war ihm nicht gestattet. Er gehörte nicht mehr zu den Lebenden und deshalb durfte er auch nicht bei ihnen verweilen. Verzweiflung brach in ihm aus und erschütterte sein rissiges Herz.
Wie liebend gerne würde er Cassia ein letztes Mal von Kopf bis Fuß betrachten. Jedes Detail an ihrem Körper würde er sich einprägen. Er würde sie umarmen und küssen und am liebsten nie wieder loslassen. Seine Kinder würde er an sich drücken, so fest, als wollte er sie in seinem Herzen einpacken und mitnehmen, wo immer er auch hinging. Und er würde ihnen sagen, dass er sie liebt. Sie immer lieben würde.
Noch immer schimmerten die Tränen in seinen Augen, als sein Blick wieder zum Küchenfenster schweifte. Aber seine Familie war nicht mehr dort. Ein wenig erschrocken und hilflos sah er in das andere Fenster, doch da waren sie auch nicht. Sein Atem beschleunigte sich, hektisch sah er sich nach ihnen um. Er wusste nicht, warum er so in Panik versetzt war, aber er hatte Angst um sie.
Erleichterung durchflutete ihn, sobald er Cassias helle, beruhigende Stimme hörte. Er erblickte sie nun wieder, wie sie die beiden Kinder an den Tisch im Garten setzte. Ihre süßen Laute und unverständlichen Worte schallten zu ihm herüber. Die Sonne schien direkt auf sie, weshalb Cassia einen großen Sonnenschirm aufspannte. Nachdem sie den Tisch gedeckt und das Essen geholt hatte, setzte sie sich ebenfalls. Linnea bekam eine Gabel und eine kleine Portion Spaghetti mit Tomatensoße. Bald würde ihr ganzes Gesicht erneut vollgespritzt sein. Der Kleine wurde von Cassia gefüttert, trotzdem war er auch schnell rot um den Mund.
Stundenlang könnte der Mann seiner Familie zusehen. Aber er wusste, dass er nicht mehr lange hier bleiben durfte. Sonst würde man ihn womöglich gewaltsam holen. Die Tränen, die schon die ganze Zeit in seinen Augen schwammen, schwappten nun über und liefen ihm unaufhaltsam die Wangen herab. Sie tropften auf den Boden und lösten sich auf.
Schweren Herzens blickte er ein letztes Mal zu Cassia, Linnea und seinem Sohn und wollte sich abwenden. Er musste zu den Baumstämmen gehen und durch eine der Falten verschwinden. Dahinter würde der Himmel auf ihn warten. Für viele ein wundervolles und verlockendes Zuhause, doch er würde lieber für immer hier verweilen.
Doch etwas ließ ihn nun inne halten und er drehte sich wieder zu seiner Familie. Der Kleine schien ihn anzuschauen, direkt in seine Augen. Und er lächelte. Er lächelte, als gäbe es nichts Böses auf der Welt, als würde sich jeder lieben. Als wäre alles gut. Als könnte er ihn sehen. Der Mann hatte gedacht, niemand könne ihn sehen. In den letzten Monaten hatte niemand ihn gesehen. Und das war so schrecklich, man wurde von allen ignoriert und war ganz einsam. Alleine und so klein in der großen Welt. Und jetzt wurde er von seinem Sohn angesehen. Sein Kind, das ihn noch nicht einmal kannte, vielleicht gar nicht wusste, dass er sein Vater war. Sein Sohn zeigte ihm Liebe und Zuneigung.
Nun konnte der Mann nicht mehr widerstehen. Er musste seiner Familie wenigstens persönlich Lebewohl sagen. Hastig lief er zwischen den Bäumen hervor, auf das Gartentor hinzu. Er begann zu rennen, seine Familie schien schon in Reichweite. Doch da riss etwas an ihm. Er wurde zurück gerissen. Er trat um sich, wollte dieses Etwas abschütteln, doch da war nichts. Aber noch immer schien an ihm gezerrt zu werden. Er spürte doch die Hände an ihm, die sich um seinen Körper schlossen und sich an ihn dranhingen. Während er mit den nicht sichtbaren Händen kämpfte, versuchte er weiterzulaufen, um seine Geliebten zu erreichen. Er strengte sich so sehr an, und doch schien er nicht vom Fleck zu kommen. Pure Verzweiflung durchflutete ihn und Tränen der Trauer, Wut und Hilflosigkeit strömten an seinem Gesicht herab. Er schreite, rief so laut er konnte. Nach seiner Familie, nach Hilfe. Doch niemand kam ihm zur Hilfe, Cassia bemerkte nichts. Nur sein Sohn sah jetzt mit offenem Mund zu ihm.
Er hörte seine eigenen verzweifelten Schreie, die kein anderer wahrzunehmen schien. Er fühlte, wie kalte, unsichtbare Hände jetzt überall nach ihm griffen. Sie klammerten sich an seine Beine und Füße, sodass er stolperte und hinfiel. Er richtete sich wieder auf die Knie auf, konnte aber nicht aufstehen. Mühsam versuchte er, in Richtung Garten zu kriechen. Er sah seinen Sohn, dessen Augen Entsetzen und Kummer zeigten. Wusste er, wer er war? Cassia, die nun selbst aß, und Linnea saßen mit dem Rücken zu dem Mann und bemerkten nichts. Hände legten sich nun an seinen Hals, drückten langsam zu. Keuchend fiel er erneut auf die Wiese. Die Grashalme streichelten sanft über seine Haut, aber das nahm er in diesem Augenblick gar nicht mehr wahr. Er fühlte nichts mehr, nur diesen grellen Schmerz in seinem Herzen. In diesem Moment war es wirklich so, als würde er auseinander gerissen werden. Sein Körper war schon tot, aber das, was nun sein Körper war, wurde zum Himmel geholt. Doch seine Seele, sein Herz wollte hier bleiben. Was sollte er im Himmel? Was sollte er dort tun, dort war niemand, der ihm wichtig war. Seine Existenz im Himmel wäre sinnlos. Wenn er schon nicht bei seinen Geliebten bleiben durfte, dann wollte er lieber nirgends sein.
Aber er war nicht derjenige, der darüber bestimmte. Er bemühte sich so sehr, nicht nachzugeben und in den Himmel geholt zu werden. Er kämpfte, so, wie er es vor seinem Tod hätte tun sollen. Doch seine Kraft, von der er gedacht hatte, sie von seinem Sohn gewonnen zu haben, ließ nach. Vielleicht war er einfach zu schwach. Aber er merkte, wie es ihn wegzog. Weg von seiner Familie. Weg von Cassia, von Linnea und von seinem Sohn. Es störte ihn nicht mehr, dass er nicht wusste, wie sein kleiner Junge hieß. Nur noch wichtig war, dass der Kleine sein Sohn war. Sein Fleisch und Blut. Aus seiner Liebe zu Cassia entstanden. Ein Zeichen ihrer Liebe. Er wollte immer noch nicht aufgeben, trotz seiner schwindenden Energie. Er rief ein letztes Mal, so laut wie es ihm die um seinen Hals geschlossenen Hände erlaubten. Wieder keine Reaktion von Cassia oder Linnea. Nur die Augen seines Sohns füllten sich nun mit Tränen. Gleich würde er anfangen zu weinen. Es brach das Herz des Manns, seinen Sohn so zu sehen. Nur noch ein Flüstern entfloh seinem Mund: "Ich liebe euch".
Und plötzlich drehte Cassia sich um. Als hätte sie dieses lautlose Wispern gehört. Mit geweiteten Augen sah sie, wie er aufgelöst und verzweifelt am Boden lag. Sie wollte ihm zur Hilfe kommen. Der Mann aber war nun erleichtert und lächelte sie schwach an. Er begriff nun, dass sein Kämpfen nichts mehr brachte. Er hatte erreicht, was er tun wollte. Sie wusste nun sicher, dass er sie liebte. Während er nun ruhig wurde und sich des Lebens und Todes Willen überließ, brach sie in Tränen aus, brach auf halbem Weg zu ihm zusammen, stürzte zu Boden. Durch tränenverschleierte Augen beobachtete sie, wie er sich in Luft aufzulösen schien. Er wollte sie nicht verlassen, sie nicht in diesem Zustand zurücklassen, aber er war sicher, dass sie wieder glücklich werden konnte ohne ihn, was ihm Beruhigung verschaffte. Während er in den Himmel geholt wurde, hielt er fest an diesem Gedanken. Ein letztes Mal sah er zurück, erblickte Cassia mit seinen Kindern zusammengekauert, aber sie war nicht alleine.
[2067 Wörter - 23. Jan 2022]
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Hey meine lieben Hobbitse 💙
mal wieder eher traurig... Ich weiß gar nicht, was das über mich aussagt, dass ich ständig solched Zeug schreibe...
schönen Tag noch
~LinaewenFinduilas
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