Kapitel 3 - Piraten

Fußgetrappel weckte mich.
Ich konnte nicht allzu lange geschlafen haben, denn es war –bis auf einen schmalen roten Streifen am Horizont- noch dunkel.
Ich stand auf.

Mehrere Männer kamen an mir vorbei und gingen auf ein dunkles Schiff, das am Ende des Anlegers lag.

Zunächst interessierten sie mich nicht großartig, doch dann sah ich Caept'n Ruthless, der die Männer anhielt, sich zu beeilen.
Wenig später ging auch James an mir vorbei.
Hastig sprang ich auf. Das war meine Chance.
Ich blieb ein paar Meter hinter James und hoffte, dass es nicht sofort auffallen würde, wenn ein Mann mehr an Bord war.
Über eine Strickleiter kletterte ich an Bord. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich zog mich über die Reling auf das Schiff.
Neugierig sah ich mich um. Jeder schien irgendetwas zu tun. Ein Mann rollte ein Fass über das Deck und ein anderer stapelte Kisten. Ein weiterer knotete ein Tau neu und vier weitere schrubbten das Deck.
Der Kapitän stand mit Kompass und Fernrohr am Heck, das über eine Treppe zu betreten war, und sah auf den Ozean vor ihm. James kletterte am Mast hoch und zog sich in den Korb der oben hing.

„He, Junge!"

Ich sah mich um, denn schließlich konnte ja nur ich gemeint sein. Die anderen Piraten gingen alle auf die 40 zu. Ein Mann mit trüben Augen sah mich an.
„Hilf mal, das Segel zu hissen." Sofort hatte ich panische Angst. Noch war ich auf einem Schiff mitgefahren. Woher sollte ich wissen, wie man ein Segel hisste?
„Ich hab keine Ahnung, wie das geht", gab ich zu, sprach dabei aber in einer tieferen Stimmlage als sonst.
„Zieh einfach an einem der Seile", sagte der Mann und zeigte auf vier Taue, die vom Segel zum unteren Teil des Masts liefen. Na gut, dass sollte ich schaffen können.
Ich ging hinüber zum Mast und packte entschlossen eines der Taue. Der Mann nahm ein anderes und zwei weitere Crewmitglieder packten die anderen.

„Auf drei", sagte einer von ihnen, „Eins... Zwei... Drei!"

Ich hängte mich mit meinem gesamten Gewicht an das Seil. Oben bewegte sich etwas und dann rauschte das Segel nach unten. Ging doch.
„Ich bin übrigens Albert", stellte sich der Mann mit den trüben Augen vor.
„Henry", sagte ich, einfach weil es der erste Name war, der mir einfiel. Und vielleicht auch, um mir vor Augen zu halten, warum ich das hier alles machte.
Die anderen beiden stellten sich als Big Foot und Earl vor. Earl war ziemlich groß, während Big Foot kleiner als ich war. Aber er hatte riesige Füße.

„Ah, das mag ich", seufzte Earl und sah auf den Horizont. Dort ging gerade die Sonne auf und tauchte alles in rosa Licht.

Das Schiff setzte sich in Bewegung. Vorher hatte ich mich geirrt: jetzt gab es kein Zurück mehr.
Ich ging zur Reling und sah, wie wir den Hafen verließen.
Sanft glitten wir über das Wasser und ich begann mich zu fragen, warum ich noch nie mit einem Schiff gefahren war, obwohl wir in einer Hafenstadt lebten. Gut, ich war ein Mädchen und wir waren nie verreist. Das reichte wohl als Grund.
Nach einiger Zeit wandte ich den Blick von der See ab und sah mich stattdessen auf dem Schiff um. Die meisten Piraten hingen jetzt nur dumm rum, einige schliefen auch, nur die vier, die den Boden putzten waren noch immer bei der Arbeit.
In nüchternem Zustand wirkten sie doch ein wenig kompetenter. Ich sah nach oben; James hing lässig am Mast und sah sich um.
„Wer bist du und was machst du am Bord meines Schiffes?"
Ich fuhr herum und sah in die Augen von Johnny Ruthless. Schnell trat ich einen Schritt zur Seite und wandte den Blick ab und blickte einfach nur starr nach vorne.
Hoffentlich hatte er mich noch nicht erkannt.

„Mein Name ist Henry und ich bin auf der Flucht. Hab was gestohlen. Das Schiff war gerade günstig gelegen", erklärte ich kühl und möglichst arrogant.

„Kenne ich dich nicht irgendwoher... Henry?", fragte Ruthless langsam.
„Nein", widersprach ich und hoffte, dass die Lüge nicht auffiel, „Das ist wohl kaum möglich." „Ich irre mich selten..."
Bitte, bitte, bitte...
„Aber vielleicht ja dieses Mal. Auf den Mast!"
Ich zuckte zurück und stolperte dabei über meine eigenen Füße, sodass ich beinahe hinfiel. Ruthless lachte und wandte sich dann ab.

„He, du! Runter da!", rief er den Mast empor. James kletterte hinunter. Als er an mir vorbei kam senkte ich den Kopf und sah zur Seite. Er sollte jetzt besser noch nicht wissen, dass ich auch da war.

Ich ging zu den seitlich gespannten Netzen, die zum Mastkorb hinaufführten, sah hoch und mir wurde schlagartig übel.
Höhe war noch nie so mein Fall gewesen.
Mit wackeligen Knien kletterte ich das Netz empor und machte den Fehler nach unten zu sehen. Alles drehte sich und ich musste mich krampfhaft am Netz festhalten.
„Was ist los da oben? Ist es dir zu hoch?", rief jemand von unten hoch.
Weiter machen, einfach weiter machen.
Von jetzt an sah ich nur noch nach oben zu meinem Ziel. Erleichtert und erschöpft zog ich mich in den Korb und sah über das Meer. Von hier oben konnte man wirklich viel mehr sehen. So lange ich nicht nach unten sah, würde ich das schon überleben.

Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war die Langeweile, die ab einer gewissen Zeit wirklich quälend wurde.
Ich stand am Anfang interessiert im Korb, aber bald darauf gähnte ich dauernd und rieb mir die Augen.
Von da an saß ich dann nur noch desinteressiert im Korb und fragte mich, warum zur Hölle ich überhaupt auf dieses Schiff gegangen war. Ich war ein Mädchen. Wo blieb meine gute Erziehung?
Diesen Gedanken schaffte ich nur teilweise zu verdrängen, indem ich mir immer wieder sagte, dass ich das für Henry tat, obwohl es eigentlich Arthur hätte sein müssen, der aufbrach um unseren Bruder zu suchen. Er war Soldat, ausgebildet mit Waffen. Und ich? Ich war einfach nur ein Mädchen, das aus einer Schmiede kam.
Als die Sonne unterging verzweifelte ich fast bei dem Gedanken jetzt noch eine halbe Ewigkeit auf diesem Kahn zu sein.
Immerhin war ich hier oben für mich allein, was bedeutete, dass niemand mich als Mädchen erkannte, aber irgendwann müsste ich runter. Und nach unten sehen... Mir wurde wieder schwindelig bei dem Gedanken.
Wie hatte ich nur auf dieses Schiff gehen können? Ich war ein angesehenes Mädchen, von der Tatsache abgesehen, dass ich noch nicht verheiratet war, und nun war ich auf einem Piratenschiff und verkleidete mich als Junge.
Man könnte fast sagen, ich hatte mich von einem Piraten dazu verführen lassen.
„He, Junge! Komm runter! Es gibt was zwischen die Kiemen!", rief jemand nach oben hoch, als bereits der Mond aufging. Unten auf dem Schiff hatten sie Fackeln entzündet.
Als ich runter sah kippte ich fast aus dem Korb. Also kniete ich mich hin und schob rückwärts die Beine über die Kante und in das Netz.

„Gut... Gut... ich schaffe das... nur noch ein Stück...", sagte ich mir und kletterte zitternd nach unten.

Ich würde gerne sagen, dass mich das Essen besänftigt hat, da ein voller Magen immer gut tut, allerdings sah es mit „Essen" nicht wirklich gut aus. Die Hälfte des Fisches, den man mir auf den Teller geklatscht hatte war bereits abgeknabbert, die Hälfte, die noch da war, war noch roh. Ich bis einmal hinein und musste mich beinahe übergeben. Der Fisch war in Salz eingelegt worden, um ihn haltbar zu machen.
„Das erste Mal auf See, was?", fragte Earl und grinste mich an. Ich sagte nichts, stellte aber den Teller beiseite.

„Trink wenigstens was." Earl drückte mir eine Flasche in die Hand.

Es roch nach Alkohol. Ich trank einen Schluck. Ein Brennen breitete sich in meinem Mund aus. Auf jeden Fall war das Zeug besser als der Fisch.
Aber ich durfte nicht zu viel trinken, sonst würden die anderen wissen, dass ich nicht Henry war.
James saß mir gegenüber. Eine Fackel erhellte sein Gesicht. Sie ließ seine Augen leuchten und seine Züge hart wirken. Er sah kurz zu mir hinüber, beachtete mich aber ansonsten nicht. Natürlich war das gut, denn es bedeutete Sicherheit, aber irgendwie fand ich es auch ein bisschen schade.
Vielleicht war es der Alkohol, der da aus mir sprach, aber auf einmal fiel mir auf, dass James doch auf seine eigene Weise gut aussah. Sein markantes Kinn, die strahlenden Augen, die breiten Schultern.

„Nun, denn, Männer lasst uns etwas singen", nuschelte Big Foot auf einmal und holte von irgendwoher eine Laute hervor. Sie hätte dringend mal gestimmt werden müssen. Dann begann er zu singen und alle stiegen nach und nach mit ein. Auch James.

Nur ich nicht.

„So ein Piratenleben ist schön,
Ya Hou! Yo Hey!
Denn wir kriegen viel zu seh'n.
Dinge stehlen gehört sich schon
Und Frauenherzen sind unser Lohn!"

Ich ließ meinen Blick schweifen und sah am Horizont ein Licht.
„Was ist das?", fragte ich. Earl sah in die Richtung in die ich zeigte.
„Das ist... ein Schiff." Earl sprang auf.
„Alle auf eure Posten!" Mein Posten war oben auf dem Mast, aber da würde ich jetzt definitiv nicht nochmal hochklettern.
Das mit den Posten schienen die anderen auch nicht ganz so ernst zu nehmen, denn sie liefen alle zu der Seite des Schiffes, von der aus man das andere Schiff sehen konnte. Neben mir erschien der Kapitän und hielt sich ein Fernrohr vor das Auge.
Als er es wieder wegnahm, war seine Miene wie versteinert. Und das machte mir Angst. Wenn jemand der Johnny Ruthless hieß schon versteinerte, wenn er ein anderes Schiff sah, dann musste das, was sich darauf befand wahrlich schrecklich sein. Alles war still geworden. Nur noch das Knistern der Fackeln und das Platschen des Wassers gegen unser Schiff waren zu hören. Jeder sah Ruthless an.
„Hart Backbord", flüsterte er beinahe.
Niemand rührte sich.

„Na, wird's bald?", brüllte Ruthless.

Jetzt sah jeder zu, dass er in Bewegung und zu seinem Posten kam.
Nur ich stand wie der letzte Depp rum.
„Warum kehren wir um?", rief ich Ruthless zu. In der Panik rutschte meine Stimme nach oben. Hoffentlich fiel es ihm nicht auf.
„Das ist das Schiff von Caept'n Blackbeard", erwiderte er.
„Blackbeard lebt? Ich dachte er sei bloß ein Mythos", hörte ich James verblüfft hinter mir sagen.
„Du bist nicht lange genug zur See gefahren um Blackbeard zu kennen, White", sagte Ruthless verächtlich.

„Wer ist Blackbeard denn?", fragte ich und kam mir wieder dämlich vor, weil ich die einzige war, die nicht wusste, wer Blackbeard war.

„Der gefährlichste Pirat, den man sich vorstellen kann", war alles, was ich als Antwort bekam. Hinter mir sauste das Segel nach unten. Es war schwarz.
„Löscht die Fackeln!"
Mit einem Mal sahen wir nur noch die Sterne und den leichten Lichtschimmer, der von Blackbeards Schiff ausging. Der Wind stand günstig und wir nahmen Fahrt auf.
Zum Glück wurde Blackbeards Schiff kleiner, wie ich mit Erleichterung feststellte. Als sie hinter dem Horizont verschwanden machte sich allgemein Entspannung breit.

„Henry! Geh wieder auf deinen Posten."

Also musste ich heute doch wieder hoch auf den Mast.
Wieder das gleiche Spiel wie vorhin.
So lange ich nicht nach unten sah, war alles gut.
Das Meer, das eben noch so wunderschön in der Sonne geglitzert hatte, war jetzt schwarz und kalt. Und im Mast zog es ganz fürchterlich.
Jetzt durfte ich wieder warten.
Da ich nun keine Angst mehr hatte, kam mein Hunger wieder durch. Ein Gefühl, dass ich in nächster Zeit wahrscheinlich häufiger verspüren würde.
Ich kauerte mich auf der kleinen Plattform zusammen und hoffte so den Wind etwas abzumildern.
Es war wirklich bitterkalt. Ich hätte daheim in der warmen Schmiede sitzen können, mit Henry gemeinsam, und über die kommenden Tage nachgedacht. Es könnte so schön sein. Stattdessen saß ich hier in der Kälte.
Aber mit der Zeit kam die Müdigkeit. Langsam fielen mir die Augen zu.

„Victoria, was machst du denn hier oben? Komm sofort mit runter. Ein Piratenschiff ist kein Ort für ein Mädchen."

Ich sah in Henrys vertrautes liebenswürdiges Gesicht und ich setzte mich auf.
„Henry, was machst du hier?"
Es kam nicht mehr als ein Flüstern heraus.
„Was machst du hier?", fragte Henry zurück. „Ich bin hier um dich zu retten."
„Aber wovor denn retten?", fragte Henry und sah mich mit diesem Blick an, den ich sonst bei bisher niemandem gesehen hatte: eine Mischung aus Sorge und Amüsieren.
„Vor den Piraten."
„Victoria, du bist hier diejenige, die auf einem Piratenschiff ist. Komm mit mir. Susanna macht sich schon Sorgen um dich", sagte Henry mit beruhigender Stimme.
Ich neigte mich zum Rand des Mastkorbs und verlor das Gleichgewicht.
Ich konnte den Boden nicht mehr sehen.
Ich fiel und fiel, alles drehte sich.
Das ist mein Ende, dachte ich, als es plötzlich „platsch" machte.

Ich riss die Augen auf.

Alles um mich herum war... Meer. Ich war vom Mast gefallen im Schlaf. Henry war nie dagewesen.

„He, Junge!"

Ich drehte mich um. Oben an der Reling stand Earl. Er warf mir ein Tau zu. Ich griff es fest mit beiden Händen, während Earl oben rief: „Hey, Männer, packt mal mit an. Der Mastjunge hängt da unten."
Es ist nicht wirklich angenehm an einem Tau auf ein Schiff gezogen zu werden.
Erstens tut es in den Armen weh und zweitens knallt man immer wieder gegen Holz.
Nicht zu vergessen, dass man irgendwann über die Reling gezerrt wird und dann noch gut von Brusthöhe aus, mit dem Kopf voran, auf den Holzboden knallt.
Zum Glück hatte ich rechtzeitig das Tau losgelassen und konnte mich abfangen.
Die Sonne ging gerade auf, was hieß, dass es noch sehr kalt war. Besonders für mich, die ich mit nasser Kleidung an Deck lag.
Nasse Kleidung, die sich nun an meinen Körper schmiegte, der zwar nicht gerade mit üppigen Hüften versehen, aber dennoch nicht mit dem eines Mannes zu verwechseln war. Ich hustete und spuckte etwas Wasser aus.

„Was ist denn das da vorne? Sieht aus wie eine Truhe."

Auf diesen spontanen Aufruf hin drehten sich alle Männer um mich herum zur Reling und die, die zu weit wegstanden, gingen hinüber. Ich nutzte die Zeit um aufzuspringen und mich unter Deck zu schleichen.
Es war dunkel und stickig, was hätte ich auch sonst von Piraten erwarten sollen. Einige Hängematten hingen herum und die Wände waren von innen geflickt. Leise schlich ich durch den großen Raum.
Hinten an der Wand sah ich ein trockenes Hemd hängen. Ich beschleunigte meine Schritte und tauschte mein Hemd gegen das trockene.
Das war schon viel besser. Auch wenn ich wahrscheinlich gar nicht wissen wollte wessen Hemd ich da trug.
Irgendwo polterte es. Leider viel zu nah. Ich machte einen Hechtsprung hinter ein Fass und linste vorsichtig daran vorbei. Ein breiter, nackter Rücken kam in mein Blickfeld.

„Was zum... Wo ist mein Hemd?"

Großer Gott, das war James. Er nahm mein nasses Hemd von der Leine und wandte sich zum Gehen. Dabei wandte er mir für einen Augenblick seinen Oberkörper zu und ich hielt die Luft an. Er sah so aus wie die Männer von denen die anderen Frauen immer schwärmten und nun wurde mir auch klar, dass die letzte Zeile des Liedes von gestern richtig sein musste. Wenn alle Piraten so aussahen, flogen ihnen die Frauenherzen wahrscheinlich nur so zu. Jetzt waren wir alleine. Es war meine Chance Jim zu sagen, dass ich hier war.
Ich holte Luft und... in dem Moment flog die Tür die zum Unterdeck führte auf und irgendjemand kam herein.
„White, was machst du hier? Wir haben dich gesucht", rief eine raue, mir unbekannte Stimme.
„Ja, und ich suche mein Hemd. Ich hatte es zum Trocknen aufgehängt und jetzt hing dieses kleine, nasse da", erwiderte James.
„Vielleicht ist es von dem Jungen. Henry. Er hat eben 'nen Abgang gemacht", sagte die Stimme. James lachte. „Er ist vom Mast gefallen? Das hätte ich gerne gesehen."

„Tja, man kann nicht alles haben, White." Sie gingen die Treppe hoch. Niemand hatte mich gesehen.

Ich wartete noch etwas, dann schlich auch ich die Treppe hoch. Keiner hatte mein Fehlen bemerkt. Gerade als ich wieder auf den Mast klettern wollte, polterte Ruthless hinter mir meinen Namen.

„Henry!"

Wieder einmal wurden alle still. Ganz langsam drehte ich mich um. Langsam kam er auf mich zu.
„Du wirst nicht mehr auf den Mast gehen. Du bist bei deiner letzten Schicht eingeschlafen. Weißt du welche Strafe darauf steht?", fragte er mit bedrohlich ruhiger Stimme. Sofort kamen mir die schlimmsten Gedanken in den Kopf, beim Auspeitschen angefangen bis hin zu der Aufgabe, das Schiff ziehen zu müssen. Ich schüttelte den Kopf.
„Deck schrubben."

Im ersten Moment klang das deutlich schöner als ausgepeitscht zu werden, mittags war ich da schon anderer Meinung. Es war eine ermüdende Arbeit und hin und wieder verschmutzten die anderen das Deck noch absichtlich. Irgendwann begann ich wieder das Lied zu singen:

„So ein Piratenleben ist schön,
Ya Hou! Yo Hey!
Denn wir kriegen viel zu seh'n.
Dinge stehlen gehört sich schon
Und Frauenherzen sind unser Lohn!"

Manche der anderen sangen mit, doch die meisten saßen nur herum. Die Hitze wurde irgendwann unerträglich. Jetzt wäre ich gerne im Wasser gewesen. Einen Vorteil hatte die Sache immerhin: ich war, als es Essen gab, so hungrig, dass mir der widerliche Geschmack gleich war. Leider änderte das nichts an der Konsistenz des Brotes, an dem ich mir fast die Zähne ausbiss.
„Earl?", fragte ich, „darf ich dich was fragen?"
„Klar, was immer du willst, Junge."
„Warum bist du ein Pirat geworden?"
„Ach", erwiderte er müde, so als würde ihm diese Frage alle Zeit wieder gestellt, „Ich hatte nie die Wahl, Henry. Als Sohn eines Piraten und einem leichten Mädchen hat man nie wirklich eine Wahl. Ich bin auf dem Meer aufgewachsen und jetzt sieh, was aus mir geworden ist: ich bin ein alter Mann, der nirgendwo hinkann ohne Gefahr zu laufen, dass dies sein letzter Schritt war. Wenn du mich fragst, hättest du nie auf dieses Schiff kommen dürfen. Du hättest ein ehrbarer Mann werden können."

„Aber wenn ich nun mal keine Wahl habe?", fragte ich und konnte die aufkeimende Verzweiflung nicht vollends unterdrücken, „Ich habe nicht wirklich etwas gestohlen, wie ich es dem Caept'n erzählt habe. Ich muss meinen Bruder finden. Er wurde von Piraten verschleppt."

„Blackbeard, was?", fragte Earl zurück und seine Miene verfinsterte sich.
Dieser Blackbeard musste wirklich grausam sein. Von den einen wurde er gefürchtet, von den anderen wurde er für einen Mythos gehalten. Earl bestätigte meine Vermutung: ich hätte nie auf dieses Schiff kommen dürfen.
Ein ehrbarer Mann wäre ich zwar nie geworden, aber dennoch eine ehrbare Frau, wenn ich nur bald einen Ehemann gefunden hätte. Mit diesem Gedanken machte ich mich wieder ans Schrubben.

Leider bekam mir das Essen, nun da es in meinem Magen war, auch nicht sonderlich gut. Besonders nicht bei dem Seegang, der herrschte.

Irgendwann zogen Wolken am Himmel auf und es begann zu regnen. Die anderen verzogen sich nach drinnen und als ich Ihnen folgen wollte, da Putzen bei Regen wenig Sinn hatte, wurde ich angeherrscht, ich solle draußen bleiben.
Außer mir war noch Big Foot am Steuer abgestellt worden und ein Mann mittleren Alters mit Augenklappe, der sich Bill nannte, war in den Mastkorb gesetzt worden, wobei ich mich fragte, ob das wirklich die beste Lösung war, da sein Sichtfeld immerhin merklich eingeschränkt war.
Weshalb hatte ich noch gleich das Hemd gewechselt? Bei dem Regen machte es keinen großen Unterschied. Meine Hände wurden kalt und verloren mit der Zeit jedes Gefühl, der Rücken tat mir weh und meine Knie wurden wund. Noch dazu bekam ich ständig Wasser in die Augen.
Ähnlich wie bei Earl beschloss ich schließlich Big Foot zu seinem Werdegang als Pirat zu befragen. Ich kletterte die paar Stufen zum Heck empor und stellte mich vor Big Foot.
„Was gibt's?", fragte er gelangweilt.
„Wie bist du zum Piraten geworden?", fragte ich. Er reagierte deutlich erfreuter als Earl über diese Frage.

„Weißt du, als ich noch ein kleiner Junge war habe ich Piraten immer bewundert. Diese furchtlosen Männer, die sich nicht um Gesetze scheren mussten. Frei. Unter Gleichgesinnten. Ich war ähnlich wie du, Henry. Ich habe angefangen zu stehlen. Dabei wäre das absolut nicht nötig gewesen. Meine Eltern waren reich, versuchten mich gut zu erziehen, so wie sie es bei meinen Brüdern getan hatten. Aber ich war nie wie sie. Nie so brillant im Kopf und nie gut im Fechten. Und dann lernte ich Micheal kennen. Fünf Jahre älter als ich und gerade von einem Schiff gekommen. Er zeigte mir die Faszination, die einem beim Stehlen packt, wenn der Bestohlene nicht merkt wie ihm geschieht. Natürlich ist das nicht richtig, aber dieses Gefühl kann dir keiner nehmen. Zunächst mussten meine Eltern eine Geldstrafe zahlen, aber das Stehlen ließ mich nicht mehr los. Man warf mich ins Gefängnis. Da war ich gerade mal zwölf. Drei Wochen später kam ich wieder raus mit der Bedingung, dass ich im Haus blieb. Nur das meine Eltern nicht mit einem Dieb das Haus teilen wollten. Sie warfen mich auf die Straße. Sollten die Wachen mich doch wieder ins Kittchen stecken. Doch bevor sie das tun konnten ging ich mit Micheal. Und zum ersten Mal im Leben war ich wirklich frei."

Während er seine Geschichte erzählt hatte, hatte sein Gesicht einen glücklichen Ausdruck angenommen. Er war der geborene Geschichtenerzähler und an der Art wie er sprach erkannte ich sofort, dass er wirklich aus gutem Hause kam. Dabei hatte ich fast vergessen, dass es in Strömen regnete. Hinter uns ging die Tür der Kajüte des Caept'ns auf.

„Henry, es hat wenig Sinn bei dem Wetter zu Putzen. Geh zu den anderen", sagte Ruthless fast schon nett.

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich rannte zur Tür, die unters Deck führte, rutschte dabei auf den nassen Planken aus, rappelte mich wieder auf und huschte ins Trockene.
Das tat gut.
Ich wrang mein Hemd aus und zupfte etwas daran herum, sodass es lockerer fiel. Wieder einmal konnte ich von Glück reden, dass weder Big Foot noch Ruthless hinter mein Geheimnis gekommen waren.
Die anderen lagen in den Hängematten oder saßen auf dem Boden neben kleinen Laternen. Sie erzählten Geschichten und lachten laut. Ich ging in eine der dunkleren Ecken um dort nach einem Platz zum Ausruhen zu suchen. Aber da sollte ich nie ankommen.

„Hey, Henry! Was machst du hier, solltest du nicht das Deck schrubben?"

Ein glatzköpfiger Mann mit zahlreichen Brandverletzungen stellte sich mir in den Weg. „Der Caept'n hat mich hergeschickt. Bringt nix bei dem Wetter", erwiderte ich knapp und wollte weitergehen, aber der Mann streckte den Arm aus und stoppte mich so.
„Lass es mich anders formulieren: du bist hier nicht erwünscht. Entweder du gehst auf den Mast oder du schrubbst das Deck", erklärte er.

„Aber der Caept'n...", begann ich.

„Was der Caept'n sagt gilt auf Deck. Nicht unter Deck."
Ich sah zu Boden.
„Bitte, ich will mich einfach nur ausruhen", flehte ich fast. Von wegen „so ein Piratenleben ist schön". Ich sah den Schlag nicht kommen.
Er traf mich in der Mitte der Brust, sodass ich keine Luft mehr bekam.
Ich keuchte und stolperte rückwärts. Das ließ ich mir aber nicht gefallen.
Mehr als einen Schlag gegen den Arm meines Angreifers schaffte ich nicht.
Stattdessen ging der nächste Schlag gegen meine Magengrube. Ich brach auf dem Boden zusammen und Tränen schossen mir in die Augen. Sobald wir das nächste Mal Land erreichten würde ich dieses Schiff für immer verlassen. Dann würde ich Henry wohl auf eine andere Weise finden müssen.

„Lass ihn in Ruhe."

Es gab ein hässliches Knacken, gefolgt von einem Schmerzensschrei. Schritte näherten sich mir.
„Komm mit."
James legte mir einen Arm um die Schulter und zog mich hoch. Und schon wieder musste ich raus in den Regen. James zog mich zum Bug. Ich musste ihm sagen, dass ich nicht Henry war, sondern Victoria.

„Ich will mein Hemd zurück", forderte er.

„Das geht nicht", gab ich zurück. Ich würde mich mit Sicherheit nicht vor ihm ausziehen.
„Und warum nicht?"
In der nächsten Sekunde hatte ich einen mir allzu vertrauten Degengriff vor der Nase, dahinter ein verschmitzt grinsender James.

„Ich hätte ihn dir schon längst wiedergeben sollen, Victoria", sagte er so leise, dass ich es gerade so hören konnte.

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So, Leute,
endlich mal ein neuer Teil. Leider hat die Geschichte erst 18 Reads, aber ich hoffe, dass sich das mit dem nächsten Teil ändert, denn dann ist die Vorerzählung abgeschlossen und es wird spannender. Generell dürfte euch das Ende besser gefallen als der Anfang.
Bitte votet und kommentiert.

~BookEntertainment

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