Kapitel 20 - Eine alte Bekannte

Victoria

Jim wollte zum Schiff rennen, aber ich hielt ihn auf.
„Da sucht Ben doch nach uns", warf ich ein.
„Aber am Ende zündet er noch das Schiff an und dann hab ich ein Problem", erwiderte Jim. „Warum sollte er das Schiff anzünden, wenn du nicht da bist? Er weiß doch gar nicht welches dein Schiff ist!"
Jim hielt inne.

„Du hast Recht."

Wir rannten Richtung Stadtende und blieben erst stehen, als wir Bens Haus auf der anderen Seite der Stadt sahen. Keuchend sanken wir gegen eine Häuserwand.
„Was machen wir jetzt?", keuchte ich.
„Abwarten und Teetrinken", japste Jim zurück.
Eine Weile standen wir noch schwer atmend auf der Straße, ehe wir losgingen uns eine Unterkunft zu besorgen.
Zwei Straßen weiter hatten wir eine Herberge gefunden und den dazugehörigen mürrischen Herbergsvater, der genervt war, weil wir ihn geweckt hatten.

„Ein Bett oder zwei?", grummelte er.

„Zwei", sagte ich schnell, bevor Jim etwas anderes sagen konnte. Der Herbergsvater nuschelte den Weg zum Zimmer und verschwand nach der Bezahlung.
Immerhin hatte das Zimmer ein Fenster. Und zwei Betten. Mehr Platz war auch nicht.

Jim hakte die Tür zu.

Ich gähnte und ließ mich ins Bett fallen.
„Gute Nacht", murmelte ich und drehte mich zur Wand.
„Gute Nacht", flüsterte Jim.
Aber einschlafen konnte ich nicht, dafür war zu viel in meinem Kopf.
Ich konnte mich erinnern. Da war dieses aufregende Pochen gewesen und dann der Schmerz.
Diesen drängte ich aber in den Hintergrund. Tatsache war, dass ich mich zum ersten Mal gefühlt hatte, als könnte ich es mit Jim aufnehmen.
Es war meine Entscheidung, ob ich ihn zu mir ließ und ihn damit glücklich machte oder nicht. Somit hatte ich ihn gewissermaßen in der Hand.

Später war ich wohl doch noch eingeschlafen. Das erste was ich sah, als ich die Augen aufschlug, war Jim, der mich einfach nur ansah.
Ich setzte mich auf und rutschte von ihm weg, obwohl er auf dem anderen Bett saß.

„Guten Morgen", sagte er, ein leises Lächeln auf den Lippen. Ich erwiderte es nicht. Stattdessen kämmte ich mir mit den Fingern grob die Haare und zog mich an.

„Was machen wir jetzt?", fragte ich, als ich damit fertig war.
„Warten", sagte Jim.
„Wie lange?"
„Ich weiß es nicht. Tage, vielleicht Wochen. Bis Ben mich aus den Augen verliert. Wir können nicht ins Zentrum der Stadt, dort würde er nach mir suchen. Es hat gestern kein Schiff mehr abgelegt, er wird also denken, dass ich noch hier bin", erklärte er. Ich schüttelte den Kopf. „Aber ich kann nicht hier bleiben und nichts tun", warf ich ein und wurde schon allein bei dem Gedanken, dieses Zimmer nicht verlassen zu können, unruhig.

„Du kannst gehen. Auf dich hat Ben es nicht abgesehen. Es wäre gut, wenn du irgendwen aus der Crew finden würdest, damit sie Bescheid wissen, dass ich erstmal nicht hier wegkann. Dann können sie entscheiden, ob sie warten oder einen neuen Caept'n bestimmen. Ich fühle mich wie ein Versager", die letzten Sätze hatte er leise gesagt und damit mal wieder dieses dämliche Mitgefühl in mir geweckt.

Ein Caept'n, der von seiner Crew verlassen wurde. Für einen Moment hätte er alles gehabt und dann wäre alles wieder weg.
Ich stand auf, um ihn in den Arm zu nehmen, eine Geste, die ich mir für ihn nicht einmal hatte vorstellen können. Aber dann stand er auf und nahm seinen Mantel in die Hand.

„Was wird denn das?", fragte ich verwirrt.

„Die Insel ist groß", sagte Jim mit einem Grinsen, von dem verzweifelten Mann war nichts mehr übrig, „Kommst du?"

Wir verließen die Stadt und liefen den Berg hinauf oder wenigstens ein Stück.

Manchmal war es steil und wir hatten Mühe Halt zu finden und unsere Waffen behinderten uns.
Meine Beine taten bald weh und ich musste mich ausruhen. Jim ließ sich neben mir nieder.

„Das ist anstrengend", sagte ich.

„Geht mir auch so", stimmte Jim zu, „Ich bin nicht für das Land gemacht."
Eine Weile saßen wir noch schweigend da, ehe wir weiter gingen.
Wir kamen an eine Klippe die einen unglaublichen Blick über die Stadt bot und aufs Meer. Ich fühlte mich frei, so als ob ich alles tun könnte, was ich wollte.
Es kam mir zum ersten Mal so vor, als hätte ich das Richtige getan. Ich war von zu Hause weggelaufen und hatte mich selbst befreit.
Sicher, mein altes Leben war nicht schlecht, aber ich hatte mehr gewollt. Immer schon. Und das war mir nun klar geworden.
Ich strahlte Jim an.

„Alles in Ordnung?", fragte er und sah mich schief von der Seite an.

„Ja, ist es."
Wir drehten erst um, als wir durstig wurden, was nicht so viel später der Fall war.
Das war der Moment, als ich so sehr erschrak, dass ich beinahe in Ohnmacht fiel.
Eine Frau stand vor uns, die mich ebenfalls mit riesigen Augen anstarrte. Jim sah zwischen uns beiden hin und her.

„Was ist denn, Victoria?", fragte er mich, aber ich antwortete nicht.

„Victoria?", fragte die Frau.
Sie trug ein einfaches aber schönes Kleid aus grünem Stoff und hatte die Haare unter einer Haube verborgen. Ich nickte.
„Hast du etwas zu trinken?", fragte ich.
Warum fiel mir nichts Besseres ein?
Ich hatte so viele Fragen, so viel zu erzählen. Sie nickte.
„Kommt mit."
Wir folgten ihr in den kleinen Wald zu einer Hütte. Sie war nicht besonders groß und hatte nur einen Raum. Es gab kein Bett, also wohnte sie hier nicht – also die Frau, nicht die Hütte. Sie füllte drei Becher mir Wasser aus einem Krug und reichte jedem von uns einen.

„Das ist frisches Quellwasser", erklärte sie. Es war wirklich erfrischend.

„Wer bist du?", fragte Jim.

„Ich bin Victorias Mutter."

Er riss die Augen auf.
„Ja", sagte ich und lächelte, „Das ist meine Mutter."
Ich hielt es nicht länger aus und fiel ihr um den Hals.

„Mutter!", flüsterte ich und spürte Tränen über meine Wangen rollen. Sie drückte mich eng an sich und erst jetzt merkte ich, wie sehr sie mir über die Jahre gefehlt hatte.

„Ich habe dich so vermisst", murmelte ich, als die Tränen weniger wurden. Wir ließen einander los.
„Ich dachte, du wärst tot", sagte ich, „Was ist passiert? Die anderen haben mich nicht nach dir suchen lassen."

„Gott sei Dank!", erwiderte Mutter, „Du warst doch kaum sieben Jahre alt damals. Ich bin froh, dass die anderen dich aufhalten konnten. Sie haben mich damals auf ein Piratenschiff gebracht, warum, weiß ich bis heute nicht, aber dann war da ein junger Mann, der mich rausgeholt hat, der Schiffsjunge. Er hatte wohl Mitleid mit mir und als wir hier ankamen, hat er mich von Bord geschmuggelt. Seitdem lebe ich hier – also nicht hier sondern unten in der Stadt. Ich bin nur tagsüber hier. Ich habe versucht irgendwie wieder zu euch zurück zu kommen, aber ich bin jedes Mal wieder hier gelandet und so habe ich es schließlich aufgegeben. Aber jetzt musst du von dir erzählen, Vicky. Was ist in den letzten Jahren passiert und vor allem, was machst du hier?"

„Das ist eine lange Geschichte", sagte ich.
„Ich habe Zeit."
Ich seufzte.

„Na gut. Als du verschwunden bist, ist alles anders geworden. Vater hat seine Trauer im Wein erstickt, Arthur ist zum Militär gegangen, Susanna wurde früh verheiratet und Henry hat mit mir - so gut das eben möglich war – die Schmiede weitergeführt. Bis er vor ein paar Wochen verschwunden ist. Seit dem suche ich ihn."

Knapper konnte ich die letzten Jahre wohl kaum zusammenfassen. Meine Mutter sah mich skeptisch an.

„Schön und gut, Victoria, aber du hast ein Brandmal am Hals, trägst ein – etwas ramponiertes – Hochzeitskleid unter einer Soldatenjacke und bist mit diesem jungen Mann hier, der das gleiche Brandmal am Hals hat. Ich wage zu behaupten, dass deine Suche etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Wie kommt es, dass du einen Piraten geheiratet hast?", fragte Mutter.

Sie war nicht wütend oder entsetzt, sie nahm es einfach hin. War sie immer schon so gewesen?
Es war zu lange her, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
„Wir sind nicht verheiratet. Ich bin es, aber ich bin auch schon verwitwet. Ich habe vor ein paar Tagen Abraham Porter geheiratet, du weißt, der jüngste Sohn des Bürgermeisters, aber unglücklicher Weise kam er in unserer Hochzeitsnach ums Leben. Jim und ich sind nur Weggefährten und leider hat Arthur mich mit den Piraten verwechselt", ging ich etwas tiefer.

„Nur Weggefährten? Für meine Begriffe sagen seine Blicke aber etwas anderes."

Mutter starrte Jim mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dieser räusperte sich, sich sichtlich unwohl fühlend.

„Ich versichere, es gibt nichts zwischen Victoria und mir", sagte Jim. Mutter befreite uns von den Bechern und drehte sich um.

„Das sagen sie alle", murmelte sie, „Und wie seid ihr hier gelandet?"

„Es ist das Herz der Karibik, das ist doch wohl Grund genug", erwiderte Jim fast schon empört. Mutter drehte sich wieder zu uns um.

„Wo ihr schon mal da seid, könnte ich eure Hilfe gebrauchen. Ich habe schon vor einiger Zeit eine Truhe entdeckt, aber ich bekomme sie einfach nicht aus ihrem Versteck. Ihr seid beide größer und stärker als ich", bat sie.
Jim sah mich an. Ich zuckte die Achseln.

„Ja, wir helfen dir gerne Mutter", sagte ich. Sie verließ das Haus und bedeutete uns ihr zu folgen.

Es ging noch ein wenig den Berg hinauf, den Mutter leichter erklomm als Jim und ich, die wir aber beide beachtlich jünger waren, und dann standen wir vor einem Baum, zu dessen Wurzeln eine Truhe in einer Mulde stand – von wurzeln überrankt.

„Sieh mal, da kommt auch noch ein Piratenschatz zu deinem Piratenabenteuer hinzu", war das Erste, was Jim sagte.

Er begann die Wurzel mit dem Degen zu bearbeiten - meinem alten Degen. Wieso hatte er ihn behalten?
Die Wurzeln waren nicht sehr stabil, da sie schon nach wenigen Hieben brachen.
Ich weiß nicht, was ich in der Kiste erwartet hatte, aber ich war etwas enttäuscht, als ich eine Kette mit einem gläsernen Tropfen entdeckte und zwei Säckchen, die, wie sich herausstellte, mit Reis gefüllt waren. Aber ich war die Einzige, die enttäuscht war.
Die beiden anderen, sahen verwundert und begeistert auf diesen Tropfen.
„Das es die noch gibt", flüsterte Mutter ehrfurchtsvoll. Ich zog die Stirn in Falten.

„Was ist das?", fragte ich.

„Das ist eine der Tränen der See. Die sind sehr selten und niemand weiß wirklich wo sie herkommen, aber manche glauben sie seien Tränen der Meerjungfrauen, andere sagen, sie wären Meerestropfen, die einst von Poseidon für die Ewigkeit zusammengehalten wurden. Aber bei einer Sache sind sich alle einig: sie bringen Glück und haben magische Kräfte, je nachdem wer sie trägt", erklärte Jim.
Im nächsten Moment drückte Mutter sie mir in die Hand.
Der Tropfen sah aus wie aus hellblauem Glas, aber er fühlte sich an wie aus Wasser. Dennoch blieb meine Hand trocken.

„Nimm du sie", sagte Mutter, „Du kannst Glück gebrauchen. Mehr als jeder andere. Finde Henry."

Ich hängte mir die Träne der See um den Hals und ließ sie in meinem Ausschnitt verschwinden.
„Danke, Mutter. Das werde ich."


„Ich fühle mich hier wohl", sagte ich am Abend, als wir wieder in der Herberge saßen, „Ich könnte hierbleiben."

„So wie es aussieht bleiben wir wohl auch noch etwas hier", erwiderte Jim steif, „Denk dran, morgen musst du die Crew aufspüren."

Ich seufzte und stellte mich ans Fenster. Die Straßen waren nur spärlich erleuchtet, aber man hörte laute Stimmen aus den Wirtshäusern. Jim stand direkt hinter mir, ich spürte seine Wärme.

„Die Stadt ist auf ihre eigene Weise schön. Ich dachte immer Piraten wären schmutzig, brutal und hinterlistig", murmelte ich.

„Das sind wir auch. Du nicht weniger als alle anderen von uns. Du bist wie diese Stadt", flüsterte Jim an meinem Ohr, „Auf deine eigene Weise schön."

Sein Atem kitzelte.

„Wirst du jetzt wieder zum Verführer?", fragte ich und drehte mich um, die Lippen nah an seinen.

„Wer verführt hier eigentlich wen?", erwiderte Jim, ehe er mich küsste, mit einer solch ungeahnten Leidenschaft, dass ich nach Luft schnappen musste. Er drückte mich gegen die Wand und beherrschte mit seinen Lippen die meinen, während ich seinen Nacken packte und ihn weiter zu mir zog. Wieder einmal packte mich dieses unbändige Verlangen nach ihm und seit dem letzten Mal war es nur noch stärker geworden.

Ich zog ihn mit aufs Bett.
„Victoria."

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Tja, ja.

Vitcoria hat sich seit dem Anfang des Buches ganz schön verändert, nicht wahr?

Genauso wie die Beliebtheit der Geschichte. Ist zwar für Wattpadverhältnisse immer noch wenig, aber immerhin ist sie jetzt stabil im dreistelligen Bereich. Vielleicht knack ich ja doch noch irgendwann die 1000...

Ihr könnt mir dabei helfen, durch voten, kommentieren und teilen.

Trotz der geringen Leserzahl hat diese Geschichte ein hohes Ranking erhalten, wie im vorherigen Kapitel und in der Beschreibung zu sehen ist. Falls irgendwer Vermutungen zum Algorithmus hat, gerne in die Kommentare.

Das war das vorletzte richtige Kapitel der Geschichte, es folgen aber noch zwei Add-Ones, eins davon der Epilog und dann wahrscheinlich noch Zusatzteile mit Hintergrundinformationen. Außerdem folgt noch der ursprünglich geplante Epilog, den ich geschrieben habe, bevor das Buch fertig war. Damals sollte die Geschichte noch ganz anders verlaufen und kurz nach der Feeninsel sollte sie zu Ende sein.

Das war's von mir.

Ahoj und bis bald.

~BookEntertainment

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