Kapitel 2 - Vorbereitungen
Mich wunderte stark, dass James sich auf dem Land auskannte und auch, dass er reiten konnte. Und am Ende des Tages hatten wir tatsächlich eine größere Stadt mit Hafen erreicht. James' Plan sah vor, dass wir in Pubs gingen und irgendwo einen Kapitän fanden, der eine Crew suchte, was James zu Folge nicht allzu schwer sein sollte.
„Ach und Victoria", sagte er noch, als wir von unseren Pferden stiegen, „Wir wollen einen guten Eindruck machen. Ein anderes Kleid wäre da bestimmt hilfreich." Er zog einen Geldbeutel aus der Tasche. Ich war sprachlos. In der Schmiede wurde das Geld in erster Linie für Essen und Werkzeug ausgegeben, Kleider kamen da eher zu kurz.
„Heißt das, du willst mir ein neues Kleid kaufen?", fragte ich verwundert.
„Ja, aber unter einer Bedingung", antwortete James. Ich schluckte. Was mochte das wohl sein?
„Das Kleid muss dich hübscher machen." James lächelte. Eine leichte Röte kroch auf meine Wangen.
Wir liefen durch die dunkler werdenden Straßen, bis wir eine Schneiderei gefunden hatten. In der Schneiderei sah es anders aus, als bei Mary zu Hause.
Es hingen viele grob genähte Kleider, Hosen und Hemden herum. Dazu gab es noch unzählige Stoffe in den unterschiedlichsten Farben. Ein klappriger kleiner alter Mann kam auf uns zu und mir war sofort unwohl.
„Was sucht Ihr?", fragte er mit seltsam hoher Stimme, „Ein Kleid für die Dame, eine Hose für den Herrn?" Der Schneider war so seltsam, dass ich nicht antworten konnte. Zum Glück sprang James für mich ein: „Ein Kleid für sie." „Natürlich, natürlich...", murmelte der Schneider und verschwand in den hinteren Teil des Ladens.
„Habt Ihr irgendwelche Wünsche bezüglich der Farbe?", rief er von hinten.
„Ähm...", machte ich, denn ich hatte offen gestanden noch nie die Wahl gehabt, da wir zu Hause immer das billigste genommen hatten.
„Ein dunkles Rot wäre doch hübsch, meint Ihr nicht, mein Herr?", rief James zurück.
Der alte Schneider kam zurück und trug eines dieser hässlichen, unförmigen Kleider mit sich. „Ich muss schon sagen, junger Mann, Ihr habt ein vorzügliches Auge was Farben angeht. Ich könnte einen Lehrling gebrauchen. Ich bin sicher Ihr...", begann der Alte, doch James unterbrach ihn: „Es tut mir leid, mein Herr, aber ich habe bereits eine Lehrstelle."
Der Schneider blickte James interessiert an. „Oh, und in welcher Kunst werdet Ihr unterrichtet?", fragte er.
Auf James' Antwort war aber auch ich gespannt, denn er würde hoffentlich nicht sagen, dass er ein Pirat war, weil wir dann nämlich schon mit einem Fuß im Grab standen. Für mich würde es genauso enden wie für ihn, da sich mit einem Piraten zu verbünden genauso strafbar war, wie selbst ein Pirat zu sein.
„Ich fahre zur See", sagte James leichthin, aber in einem Tonfall, der keine weiteren Fragen duldete.
Der Schneider nickte nur und rief dann über die Schulter: „Giselle! Wir haben Kundschaft!" „Verzeiht, wenn ich unhöflich klinge", sagte ich vorsichtig, „Aber mir scheinen diese Kleider doch ein wenig... nicht schön anzusehen zu sein."
„Oh, Ihr seid nicht unhöflich", lehnte der Schneider ab, „Nein, im Gegenteil. Viele meiner Kunden sind zunächst skeptisch, wenn sie meine Arbeit sehen, aber ich verrate Euch etwas: Weil ich jedes Kleid vornähe, spare ich Zeit. Und wenn meine Kunden die Sachen anprobieren, stecke ich sie ab und mache jedes Kleidungsstück zu etwas ganz besonderem." In diesem Moment kam eine rundliche Frau in die Schneiderei.
„Ah, Giselle. Würdest du bitte diesem Mädchen beim Umkleiden helfen?", fragte sie der Schneider.
„Selbstverständlich", antwortete die Frau, „Komm mit, Mädchen."
Ich folgte Giselle, die das Kleid mitnahm, nach hinten. Auf dem Weg drehte ich mich aber noch einmal zu James um und sah, wie er dem Schneider etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin dieser lächelte. Giselle führte mich hinter einen Paravent und begann ohne Vorwarnung mich auszuziehen.
„Lass das!", rief ich gereizt, „Ich kann mich allein umziehen."
„Na, schön!", erwiderte Giselle schnippisch und verschwand. Ich lehnte mich gegen die Wand und rieb mir die Stirn.
Was tat ich hier eigentlich? Ich verbündete mich mit einem Piraten um Henry zu finden, wobei ebendieser Pirat sich mit Arthur duelliert hatte. Ich hatte mich bereiterklärt, James bei einer Suche zu helfen, ohne zu wissen, worauf das hinauslief. Hatte ich ernsthaft vor, mich auf ein Piratenschiff zu begeben, was vermutlich einem Selbstmord nahekam? Wenn mich die Piraten nicht töten würden, dann würde ich bei meiner Rückkehr nach Hause erhängt werden.
Aber andererseits konnte ich auch endlich einmal ein Abenteuer erleben und waren Abenteuer nicht grundsätzlich illegal?
Außerdem hatte ich das hier jetzt –wenn auch etwas leichtsinnig- angefangen und musste es wohl auch zu Ende bringen.
Ich zog mich komplett aus, warf das rote Etwas über, das später einmal ein Kleid werden sollte und trat nach draußen.
Der alte Schneider erwartete mich bereits. „Oh, ja!", sagte er und klatschte begeistert in die Hände.
Dann begann er alles mit Nadeln abzustecken, während Giselle, die mich missbilligend anblickte, die Utensilien anreichte.
Bis das Kleid vollständig fertig war, dauerte es aber noch ein paar Stunden. Doch als es schließlich fertig war, musste ich einfach zugeben, dass es hübsch war.
Gemeinsam mit dem Schneider trat ich in den vorderen Teil des Ladens.
James, der gerade begonnen hatte, etwas mit einem Messer in ein kleines Stück Holz zu schnitzen, drehte sich zu mir um, als er meinen Schatten in der Tür wahrnahm. Und als ich den Ausdruck in seinen Augen sah, wusste ich, dass sein Mund kurz davor war, aufzuklappen, aber das tat er nicht.
Stattdessen umspielte ein leichtes Lächeln seine Lippen, was ihn seltsam jung aussehen ließ. In der dunklen Fensterscheibe konnte ich mein Spiegelbild sehen. Das Kleid war wirklich Maßarbeit. Die Farbe ließ mich blass aussehen und vielleicht sogar ein bisschen einschüchternd. In jedem Fall aber edel.
James bezahlte und wir traten auf die Straße. Nachdem wir ein paar Meter gegangen und den ersten betrunkenen Pub Gästen entgegen gekommen waren zog James mich ohne Vorwarnung in eine Seitenstraße.
„Hey, was soll das?", fragte ich ängstlich doch das Messer, dessen Spitze auf meinen Hals gerichtet war, brachte mich zum Verstummen.
James schmunzelte.
War das alles nur ein Trick gewesen?
Würde James mich dieses Mal umbringen?
Dann flog das Messer durch die Luft und James fing es geschickt an der Klinge wieder auf und er richtete den Griff auf mich.
„Gewöhn dich schon mal an diese Situationen. Aber dafür brauchst du eine Waffe", erklärte James amüsiert und drückte mir das Messer in die Hand.
Fast schon wütend wich ich vor ihm zurück.
„Warum, darf ich nicht meinen Degen haben?", fragte ich.
„Ein Mädchen mit einem Degen? Wir sind hier nicht auf einem Schiff", lehnte James ab. „Aber sobald wir auf einem sind, will ich ihn zurück haben", forderte ich.
„Wenn du meinst", sagte James und wandte sich ab, doch ich packte seinen Unterarm und zwang ihn, stehen zu bleiben. Widerwillig sah er mich an.
„Versprich es mir", verlangte ich.
Kurz sah James zu Boden, so als würde er überlegen, was er sagen sollte, doch dann sah er mich wieder an. „Ich verspreche, dir deinen Degen zurückzugeben, sobald wir auf einem Schiff sind und ich eine Waffe habe."
„Deswegen, behältst du ihn also noch?", fragte ich vorsichtig, „Weil du keine andere Waffe hast?"
James sagte nichts, nur: „Wir sollten uns einen Caept'n suchen."
Eigentlich wäre ich lieber nicht mitgegangen, aber da ich nicht in einer fremden Stadt nachts allein auf der Straße stehen wollte, blieb mir wohl nichts anderes übrig, als mit ihm mitzugehen.
Beim ersten vollen Pub, hielt James mir ein wenig übertrieben die Tür auf.
„Oh, was für ein Gentleman", erwiderte ich darauf leicht sarkastisch.
James überging es einfach.
Sobald ich drinnen war, fühlte ich mich ein wenig unwohl.
Es war sehr laut und es gab lauter Prügeleien unter Betrunkenen. Hin und wieder schwappte auch ein Schluck Bier über den Kopf des ein oder anderen. Gott sei Dank übernahm James an dieser Stelle wieder die Führung. Er bahnte uns einen Weg zur Theke, bestellte zwei Bier und brachte uns dann in eine hintere Ecke, in der, laut ihm, die „illegalen Geschäfte" –wie er es nannte- abliefen.
James blickte sich kurz um, dann ging er zielsicher auf einen Tisch zu, an dem ein untersetzter Mann mit einem großen Schnurbart, einem Monokel und einem Haken, statt der linken Hand.
„Walrus", begrüßte James den Mann und mir sofort klar, dass er wegen seines Aussehens diesen Namen trug.
„Jim?", fragte der Mann mit rauer kaum hörbarer Stimme, „Jim White?"
James atmete erleichtert auf und nickte, dann setzte er sich, während ich mich unschlüssig im Hintergrund herum drückte. Wenn ich mich setzte wäre es bestimmt zu aufdringlich. Sagen wollte ich sowieso nichts, von da her war es egal, wo ich mich aufhielt, solange ich das wichtigste mitbekam.
„Der kleine Jim", lachte Walrus nun, offenbar begeistert von seinem Gegenüber, „Du bist so groß geworden. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch kleiner als ich." „Nun, dass mag daran liegen, dass ich damals gerade einmal zehn Jahre alt gewesen bin", erwiderte James gutgelaunt.
„Donnerwetter. Und mir kommt es so vor, als sei es gestern gewesen, als ich dich aus diesem kleinen Ruderboot gefischt habe", erinnerte sich der kleine Mann, „Wenn du damals zehn Jahre alt warst, dann bist du jetzt... dann bist du..."
Kopfrechnen schien auf jeden Fall nicht seine Stärke zu sein.
„Ich bin jetzt 23. Es ist dreizehn Jahre her, Caept'n", sprang James etwas aufgebracht ein. „So lange? Nun, wenn man so alt ist, wie ich, vergeht die Zeit wie im Flug. Und wer ist das Mädchen?", fragte der Caept'n.
James drehte sich etwas irritiert zu mir um, so als hätte er ganz vergessen, dass ich ja auch noch da war.
„Sie ist eine Verbündete. Wir helfen einander unsere Ziele zu erreichen, was mich zum Kern der Sache bringt: fährst du zufällig zur Feeninsel?", kam James auf den Punkt.
„Ach du meine Güte, Jim. Ich fahre schon länger nicht mehr raus. Nein, ich bin zu alt geworden. Solange ich mich in diesem Pub aufhalte, werde ich nicht sterben. Jedenfalls nicht durch die Hand eines übereifrigen Soldaten", erklärte Walrus.
James nickte traurig.
„Gibt es hier sonst irgendjemanden, der in Richtung der Feeninsel fährt?", fragte er.
Was war bloß diese Feeninsel?
„Außer Johnny Ruthless weiß ich von niemandem, der auch nur im Groben diese Richtung ansteuert."
James richtete sich merklich auf, sodass seine Haltung viel zu steif wirkte.
„Gibt es wirklich niemand anderen?", fragte er noch einmal nach.
„Nein", antwortete der alte Caept'n, „Was verschlägt dich denn auf diese Insel? Da könntest du auch gleich Selbstmord begehen, Junge."
„Es gibt nun mal Dinge, die selbst ein erfahrener Pirat wie du nicht wissen sollte", lehnte James barsch ab und so langsam bekam ich das Gefühl, dass hier irgendetwas faul war.
Aber ich wollte nicht voreilig urteilen. James stand auf und ebenso Walrus. Er packte James am Handgelenk.
„Hör zu, Jim. Ich glaube, dass dir dieses Mädchen nur Unglück bringt", sagte er leise (wusste er nicht, dass ich jedes Wort verstand?), „Es ist besser für dich, wenn du sie hier lässt. Andernfalls seid ihr am Ende mehr als nur Verbündete. Ich war auch mal jung. Und wenn du sie mit auf die Feeninsel nimmst... Ich will dir gar nicht sagen, wohin das führen kann."
James riss sich los.
„Victoria kommt mit. Ich habe nicht diesen Aufwand betrieben, nur um sie am Ende hier zu lassen und aufzugeben", erwiderte er leicht wütend. Caept'n Walrus schüttelte traurig den Kopf.
„Ich hoffe, dass du weißt, was du tust, Junge", sagte er. James sah ihm in die Augen, so als wolle er etwas sagen, doch dann wandte er sich nur mit einem: „Victoria, komm mit." an mich.
Ich löste mich aus der Starre, in die ich inzwischen verfallen war. Als ich an dem Caept'n vorbei ging, murmelte ich noch: „Entschuldigung."
Seine Miene hellte sich wenigstens ein bisschen auf. Mit einigen schnellen Schritten holte ich zu James auf.
„Was ist diese Feeninsel?", fragte ich neugierig.
„Das erfährst du, wenn wir dort angekommen sind", blaffte James zurück. Seine Laune war merklich schlecht geworden.
„Was ist denn los mit dir?", fragte ich vorsichtig.
„Johnny Ruthless", grummelte James, „Warum nur er? Es gibt so viele Piraten, die die Feeninsel ansteuern könnten, aber es musste ja er sein. Ihm habe ich das hier zu verdanken."
James blieb stehen und zog seinen Hemdskragen beiseite und gab somit den Blick auf eine große Narbe frei, die auf seiner rechten Schulter ruhte. Erschrocken sog ich die Luft ein. James rückte seinen Kragen wieder gerade und lächelte zufrieden.
„Sein Säbel ist mir versehentlich aus der Hand gerutscht und ins Meer gefallen. Dafür hat er mir dann sein Messer in die Schulter gerammt und anschließend musste ich seine Klinge wiederfinden. Um's kurzzumachen: ich habe ihm eine neue Waffe besorgt und habe mich danach vorsichtshalber nicht mehr blicken lassen. Aber, wenn er der Einzige ist, muss es wohl sein. Ich vertraue Walrus. Für einige Zeit war er für mich und Teresia wie ein Vater", sagte James.
Wer war Teresia? Wir setzten uns wieder in Bewegung.
Auf der anderen Seite der Kneipe stand ein Mann mit einem übergroßen Federhut mit dem Rücken zu uns an eine Säule gelehnt. Als wir nur noch eine Armlänge von dem Mann entfernt waren, tippte James ihm auf die Schulter. Der Piratenkapitän fuhr herum und kippte James noch in der Drehung sein Bier über den Kopf, von dem ich auch gleich noch ein paar Spritzer abbekam.
James verzog angewidert das Gesicht. Dann erkannte der Kapitän ihn.
„Bist du nicht der White Junge, der meinen Säbel hat verschwinden lassen?", fragte er.
Mir entging nicht, dass er bereits einiges getrunken hatte.
„Ja, ich freu mich auch, dich zu sehen, Ruthless", sagte James.
„Was willst du von mir, Junge?", wollte der Kapitän wissen.
„Die Feeninsel. Der alte Walrus meinte, du fährst hin."
„Walrus, soso...", sagte Johnny Ruthless, „Dann nenne mir doch mal einen guten Grund, warum ich dich mitnehmen sollte."
„Sind diese Krücken dahinten deine Crew?", fragte James und nickte einer Ansammlung betrunkener Männer hinüber, die alle noch nicht einmal in der Lage schienen, rechts und links zu unterscheiden, weder betrunken, noch nüchtern, „Ich bin besser als zehn von denen."
Ruthless schien kurz zu überlegen.
„Nun, gut", gab er zu, „du hast Recht. Du kannst mitkommen. Aber es wird hart für dich." „Und sie kommt auch mit", warf James ein und zeigte über die Schulter mit dem Daumen auf mich. Ruthless betrachtete mich aus zusammengekniffenen Augen.
„Ich dulde Weiber nur aus zwei Gründen an Bord meines Schiffes: Entweder müssen sie mich im Kampf besiegen können oder zur Belustigung der Crew", erklärte Ruthless.
Dabei sprach er ausschließlich zu James. Für ihn stand das nun kommende gar nicht zu Debatte:
„Sie wird kämpfen."
Natürlich war das eindeutig die bessere Wahl, aber ich hätte sie gerne selbst getroffen. Allerdings konnte ich nicht besonders gut fechten.
Ich würde also verlieren, gedemütigt den Pub verlassen und James würde wegfahren. „Kämpfen also", murmelte Ruthless.
Dann sprang er auf einen Tisch.
„Alle mal herhören!", rief er, „Dieses Mädchen fordert mich zum Kampf heraus. Wer will sich das mit ansehen?"
James drückte mir meinen Degen in die Hand.
„James, was soll das? Ich kann kaum mit dem Degen umgehen. Ich bin ein Mädchen", flüsterte ich.
„Du kommst aus einer Schmiede. Du schaffst das schon", erwiderte James, klopfte mir auf die Schulter und drehte mich herum.
Ruthless sprang wieder von dem Tisch herunter und zog seinen Säbel. Bei seinem Lächeln offenbarten sich mir drei goldene Zähne.
Das Kleid kam mir auf einmal unglaublich schwer vor. Ich hatte bisher nur in meinem Arbeitskleid ein paar Probeschläge gegen eine Säule in der Schmiede oder gegen Henry ausgeführt, aber ich hatte nicht im Geringsten eine Chance.
Trotzdem zwang ich mich den Degen zu heben und dem Kapitän einigermaßen selbstbewusst entgegen zu treten.
Kaum hatte ich das getan, drosch Ruthless auf mich ein und ich hatte gerade noch Zeit, meine Waffe zu heben, um zu verhindern, dass mich der Hieb traf. Die Wucht brachte mich fast dazu, den Degen fallen zu lassen.
Die Umstehenden grölten vor Lachen. Ich stolperte rückwärts.
Wie konnte ich hier lebend und wenn möglich mit ein bisschen Würde wieder heraus kommen?
Ich sammelte mich wieder und stürmte auf meinen Gegner zu, doch mit einem lässigen Schlenker seines Säbels wehrte er meinen Angriff ab.
Schnell versuchte ich einen Treffer von der anderen Seite zu landen, doch es gelang mir nicht.
Stattdessen schlug mir Ruthless den Degen aus der Hand.
Ich erschrak ganz fürchterlich und sprang zurück. Eine Sekunde später konnte ich die Säbelklinge an meinem Hals spüren.
„So ein Mädchen wie dich", sagte Johnny Ruthless, „kann ich auf meinem Schiff nicht gebrauchen."
Wieder lachten die meisten Gäste. Ich hingegen fühlte mich einfach nur hundeelend.
Es war mir ein Rätsel, warum ich mich auf dieses Duell eingelassen hatte.
Ich würde Henry nicht finden. Ich würde hierbleiben müssen.
Oder? Ganz klein regte sich eine Idee in meinem Kopf, aber sie war so lächerlich, dass ich versuchte ihr kein Gehör zu schenken.
Die Klinge verließ meinen Hals.
Ich drehte mich um und sah die Enttäuschung auf James' Gesicht. Immerhin hatte er mir tatsächlich zugetraut, gegen den Piratenkapitän zu gewinnen. Aber ich wollte sein Mitleid nicht. Ich begann mich zu schämen. Ich war in einer Schmiede aufgewachsen. Ich sollte besser kämpfen können.
Eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel und rollte mir die Wange hinunter. Überrascht öffnete James den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, war ich auf die Straße gerannt.
Es hatte zu regnen begonnen.
Unsicher, wo ich jetzt hinsollte, stand ich vor dem Pub.
Die Tür quietschte hinter mir.
„Victoria."
Ich drehte mich um und sah in James' verwirrte blaue Augen, dann rannte ich die Straße hinunter. Weit kam ich allerdings nicht, da James mir plötzlich den Weg versperrte. Blödes Kleid.
Ich konnte es nicht ertragen, dass er mich jetzt auch noch als Versagerin darstellte.
„Was ist?", schrie ich, „Willst du mir sagen, dass du mich jetzt hierlässt, weil ich verloren habe? Hat es Spaß gemacht, mich verlieren zu sehen?"
Ich wusste nicht, woher auf einmal diese Wut kam, aber es tat gut endlich einmal jemanden anzuschreien.
„Nein, es hat keinen Spaß gemacht", erwiderte James wütend, obwohl er eindeutig versuchte, es nicht zu sein, „und es wäre besser, wenn du kämpfen üben würdest, als mich anzuschreien."
„Ja, vielleicht", blaffte ich zurück, „Aber vielleicht sollte ich auch wieder abhauen und aufhören, mich mit Piraten zu verbünden!"
Schnell machte James einen Schritt auf mich zu und umfasste mein Handgelenk so fest, dass es wehtat. Leise und eindringlich redete er nun auf mich ein: „Victoria, du weißt ganz genau, dass du mich brauchst, um deinen Bruder zu retten."
Er hatte Recht.
Wie durch ein Wunder verschwand meine Wut.
Ich wandte den Blick von ihm ab und sah zu Boden.
Dann nickte ich.
Er ließ mein schmerzendes Handgelenk los.
Ich sah James wieder an. Jetzt brauchte ich erstmal Zeit für mich.
„Wir treffen uns an Bord von Captain Ruthless' Schiff", sagte ich noch, ehe ich davon rannte. Dieses Mal hielt James mich nicht auf und ich war dankbar dafür.
Warum war ich gerade nur so außer mir?
Irgendwie kam das Gefühl in mir auf, dass ich die ganze Zeit gehofft hatte, doch zu gewinnen.
Und der Grund aus dem ich hatte gewinnen wollen, war so banal, dass ich mich weigerte, diesen Gedanken zu akzeptieren.
Aber jetzt war es erstmal an der Zeit, den ersten verrückten Gedanken in die Tat umzusetzen. Das Mädchen, das mir entgegen kam, passte für diesen Plan wunderbar.
„He, du!", rief ich zu ihr hinüber.
„Meint Ihr mich, Ma'am?", fragte das Mädchen.
Sie musste vielleicht fünfzehn Jahre alt sein, aber sie hatte exakt meine Figur. Ihre Kleidung war ärmlich und so ähnelte sie mir auch in dieser Hinsicht.
„Ja", erwiderte ich freundlich und winkte sie zu mir heran, „Ich brauche deine Hilfe."
„Was kriege ich dafür?", fragte das Mädchen sofort. Sie war es wohl gewohnt auf diese Weise an Geld zu kommen.
Und ich wusste schon, was ich ihr anbieten würde: „Dieses Kleid."
Ich deutete auf mein Kleid. Es war zwar traurig, es jetzt schon wieder weggeben zu müssen, aber auf das Schiff konnte ich es nicht mitnehmen.
Das Mädchen überlegte eine Weile.
„Na, gut", sagte es schließlich, „Worum geht's?"
„Ich muss aussehen wie ein Mann. Das heißt ich brauche Männerkleidung, ich muss mir die Haare schneiden und brauche Asche oder so etwas, dass es so aussehen lässt als wüchse bei mir wenigstens ein leichter Bartflaum. Hilf mir, das zu schaffen", sagte ich.
„Na, von mir aus", erwiderte das Mädchen, „Dann kommt mal mit."
Sie lief schnell und sicher durch die Straßen, wusste, vor welchen Häusern man besser leise war, oder welche Menschen man besser mied. Hin und wieder hingen einzelne Kleidungsstücke aus den Fenstern und das Mädchen stibitzte sie so schnell, dass es niemand bemerkte. Hier mal ein Hemd, da eine Hose und dann klaute sie noch ein paar Stiefel, das in einem Hauseingang stand. Dann führte sie mich in einen Hinterhof. Inzwischen hatte es wieder aufgehört zu regnen.
„Nun gut. Wir tauschen: diese Klamotten, gegen das Kleid", sagte das Mädchen.
Ich begann die Schnürung, die sich vorne befand, zu lösen und streifte das Kleid ab. Anschließend drückte ich es dem Mädchen in die Hand und sie gab mir Hemd und Hose. Die Hose passte mir genau, aber das weiße Hemd war mir etwas zu groß.
Als ich fertig angezogen war, half ich dem Mädchen das Kleid zu schnüren.
Es stand ihr so gut wie mir zuvor. Jetzt waren meine Haare an der Reihe.
„Hast du ein Messer? Um meine Haare abzuschneiden?", fragte ich, ich musste meines irgendwo auf dem Weg verloren haben.
Das Mädchen nickte und zog eins aus ihrem Schuh. Ich nahm es und säbelte mir die Haare auf Schulterlänge ab, sodass sie hoffentlich halbwegs so aussahen wie die von James.
Das Mädchen ging zu einer Schale am Fenster und ließ etwas über seine Hände rieseln. Dann kam sie zu mir zurück und klatschte mir die Hände vorsichtig gegen die Wangen.
„Das sollte reichen", sagte sie und drückte mir die Stiefel in die Hand. Ich wechselte die Schuhe und wollte ihr das Messer zurückgeben, doch sie sagte nur: „Könnt Ihr behalten. Viel Glück. Bei was auch immer."
Mit diesen Worten verschwand sie. Ich seufzte, steckte das Messer in meinen Hosenbund und machte mich auf in Richtung Hafen.
Dort angekommen musste ich aber feststellen, dass es bis zum Morgen noch Stunden dauern würde und da ich sehr müde war, beschloss ich noch ein bisschen zu schlafen.
Ich setzte mich auf einen Bootsanleger und lehnte mich an ein Fass.
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