Kapitel 16 - Das Herz der Karibik

Mit schmerzendem Rücken wachte ich auf.
Die Hängematte war mir nicht gut bekommen.
Statt halbwegs elegant aufzustehen, fiel ich aus der Hängematte. Leises Lachen.
Die anderen standen auch gerade auf. Theresia aber schlief noch.
In der Nähe der Treppe stand ein Fass, in dem sich die Männer nach und nach das Gesicht wuschen.

Angewidert rümpfte ich die Nase. Auf dieses dreckige Wasser konnte ich verzichten. Stattdessen ging ich direkt auf Deck, den Degen immer noch in der Hand - ich musste mir dringend eine Scheide dafür besorgen.

Oben traf ich Jim, der allein an der Reling stand und in den blassen Morgen blickte.
Diese Ruhe die er ausstrahlte... Ich tippte ihm auf die Schulter und er drehte sich um, lächelnd. Allerdings nicht lange. Ich verpasste ihm eine Ohrfeige.
„Au! Was...?" Weiter kam er nicht. Seine Lippe war noch nicht ganz verheilt und ich schlug ihn erneut.

„Du Schwein!", zischte ich, „Wie konntest du mir das antun? Du bist ein eifersüchtiger Hund und du kannst es noch nicht einmal zugeben! Ich dachte, du wüsstest, wie man Mädchen beeindruckt. Aber du bist durch die ganze Karibik gereist um mich ins Gefängnis zu bringen und aus meiner Welt zu vertreiben. Und ich weiß auch, dass ich dir damit nicht wehtun kann, also merk dir das: ich werde mich rächen und dir so wehtun, wie du mir wehgetan hast!" Meine Stimme brach und Tränen schossen mir in die Augen.

Jim sah mich an. Keinerlei Gefühl war in seinen blauen Augen zu lesen.
Ich verpasste ihm eine letzte Ohrfeige, dann kletterte ich auf den Mast. Der Mastkorb schien mein Rückzugsort zu werden.

So verbrachte ich die nächsten Tage allein auf dem Mast.
Ich machte mir nicht die Mühe, die neuen Crewmitglieder kennenzulernen, sie würden es wahrscheinlich nicht mehr lange mitmachen.
Jim mied ich so gut es ging, ich konnte ihn gerade einfach nicht gebrauchen.
Theresia war die einzige Person mit der ich wenigstens ab und zu ein Wort wechselte, bis mich beim Mittagessen der Koch versuchte etwas aufzumuntern.

„Du hast schon seit Tagen kaum gegessen, aber das solltest du mal. Es hebt die Stimmung", er zwinkerte mir zu und ich rang mir ein Lächeln ab. Ich sah auf den Teller, nahm den Fisch in die Hand und biss hinein. Es war wirklich besser, als ich erwartet hatte.

„Wenn ich dir sage, dass ich eine Meerjungfrau getroffen habe, dann habe ich auch eine getroffen!", erklärte eins der neuen Crewmitglieder Bill, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und den Kopf schüttelte.
„Zum letzten Mal: Meerjungfrauen gibt es nicht, sie entstammen der beflügelten Fantasie einiger Seeleute", widersprach Bill hartnäckig.
Offenbar diskutierten sie schon eine ganze Weile.

„Wie kann ich dann eine getroffen haben? Eine Frau, zur Hälfte Fisch?"

Ich zuckte zurück. Jemand hatte eine Degenscheide vor meine Füße geworfen.
Vor Schreck sprang ich auf. Jim stand vor mir, die Augenbrauen hochgezogen und mit verschränkten Armen.

„Sieh's als Entschuldigung", war alles, was er sagte, ehe er in seiner Kajüte verschwand. Ich stand da und sah ihm nach. Er ging also davon aus, dass eine Scheide für den Degen als Entschuldigung für das, was er getan hatte, reichte.

Entschuldigt hatte er sich jedenfalls, damit hatte ich eigentlich nicht gerechnet. Das hieß aber noch lange nicht, dass ich ihm verzieh.
Ich schüttelte den Kopf, bückte mich und hängte mir den Schultergurt samt Waffe um.

„Alle mal herhören!"

Sharp Eye stand auf der Reling. Oha, was auch immer jetzt kommen würde, war bestimmt nichts Gutes.
„Der Caept'n hat eben durchblicken lassen, das wir bald das Herz der Karibik erreichen!"
Oh, das klang doch nicht ganz so schlimm, wie ich erwartet hatte, alle anderen jedenfalls brachen in Jubel aus. Theresia grinste mir von der anderen Seite des Schiffes aus zu.
Schnell huschte ich zu ihr hinüber.

„Du hast keine Ahnung, was das Herz der Karibik ist, nicht wahr?", flüsterte sie.

Ich nickte.
„Es wird dir dort gefallen. Das ist der einzige Ort an Land, der von Piraten beherrscht wird. Nicht Tortuga, nein, diese Insel. Vielleicht kommst du dort auf der Suche nach deinem Bruder ein Stück weiter."
Das stimmte, vielleicht hatte jemand dort von ihm gehört. Ja, vielleicht war er sogar selbst dort.
Sharp Eye sollte Recht behalten, denn wir kamen noch am selben Abend im Herzen der Karibik an. Viele Lichter strahlten uns entgegen und ausgelassene Stimmung machte sich auf dem Schiff breit, als wir in den Hafen einliefen.
Noch zwei weitere Schiffe lagen hier, eines, das in etwa so groß war wie das unsere und ein riesiger Dreimaster mit zwei Kanonendecks.
Wer auch immer auf diesem Schiff war, konnte sich wohl in Sicherheit wägen. Niemand würde es wagen dieses Schiff anzugreifen.
Unser Schiff war noch nicht durch Taue gesichert, da sprangen die ersten Männer schon von Bord.

„Die kommen nicht mehr wieder", sagte der Koch neben mir, er hatte sich mir als Michael vorgestellt. Stimmt, diese Männer hatten es so eilig von dem Schiff wegzukommen.

Ich auch und obwohl ich noch nichts von dieser Insel gesehen hatte, spielte ich mit dem Gedanken hierzubleiben, nur um nicht mehr mit Jim auf dieses Schiff zu gehen.
Nein, verziehen hatte ich ihm ganz und gar nicht.
„Victoria?"
Ich drehte mich nicht um, dafür spürte ich aber kurze Zeit später eine Hand auf meiner Schulter.

„Was gibt's?", fragte ich kalt.

„Ich würde mich freuen, wenn du mich an Land begleitest", sagte Jim, so sanft, dass ich meinen Zorn auf ihn einen Moment vergaß. Jetzt sah ich ihn doch an und es fiel mir schwer, dass leidenschaftliche Flackern in seinen Augen nicht zu beachten.

„Bitte", setzte Jim noch hinzu. James White bat mich um etwas. Ein Teil meines Herzens erwärmte sich und ehe mein Kopf sich einmischen konnte, nickte ich.

Jim bot mir seinen Arm an, aber ich ignorierte ihn. Theresia kletterte vor uns von Bord, zwinkerte mir aber vorher noch vielsagend zu.
„Ich freue mich, dass du dich mit Theresia so gut verstehst", sagte Jim.
Ich verdrehte die Augen.
„Weißt du was: spar dir das Reden doch einfach!", fuhr ich ihn an, „Du willst doch sowieso nur mit mir ins Bett."

„Wenigstens hast du es verstanden", sagte Jim und klang erleichtert, „Die meisten anderen hatten den völlig lächerlichen Gedanken, ich würde mehr für sie empfinden."

„So?", gab ich zurück, „Ist es denn nicht so? Ich hörte, du wärst durch die halbe Karibik gesegelt, um mich zurück zu holen."
Jetzt klang Jim eher empört: „Die übertreiben maßlos. Erstens: Wir waren kaum zwei Tage entfernt. Und zweitens: die Nacht am Strand lässt mich nicht mehr los."
Ich glaubte ihm kein Wort und hatte ehrlich gesagt keine Lust mehr weiter mit ihm darüber zu streiten, also wechselte ich das Thema, wenn auch halbherzig: „Der Mantel steht dir. Er betont deine dunkle Seite."

Während ich das sagte, merkte ich, dass es wahr war. Röte stieg mir ins Gesicht und ich war sehr froh über die Dunkelheit. So konnte er nichts von meinem Anflug von Scham sehen. „Genauso wie der Deine deine blutrünstige Seite bedroht. So lange du bewaffnet bist, würde dir niemand versuchen etwas anzutun", gab Jim zu.

War das ein Kompliment? Wir hatten den Stadtrand erreicht und obwohl es so spät war herrschte hektisches Treiben.
Jim führte mich in ein Gasthaus. Musik wurde in einer Ecke gespielt und es wurde getanzt. Wir machten kaum drei Schritte, als wir der ersten Prügelei ausweichen mussten.
Jim bewegte sich bei weitem schneller und sicherer in diesem Terrain als ich.

Als ich die Bar erreichte, hatte er schon etwas bestellt, als der Mann neben ihm sich zu uns umdrehte.

Mir stockte der Atem als ich seine Augen sah.
Sie waren fast schwarz, aber trotzdem schienen sie blau zu leuchten.

Ich hatte die seltsame Vermutung genau zu wissen, wer dieser Mann war.

„Jim!"

Jim sah den Mann an. Leider konnte ich sein Gesicht nicht sehen, weil er mir den Rücken zukehrte.

„Benjamin."

Sein Tonfall war leicht kühl und meine Vermutung bestätigte sich.
Das war also Benjamin White, Jims älterer Bruder. Ich trat einen Schritt zur Seite um ihn besser sehen zu können.
Die Brüder hatten so gut wie nichts gemein, mal davon abgesehen, dass jeder auf seine eigene Art blendend aussah.
Im Gegensatz zu Benjamin sah Jim fast wie ein braver Junge von neben an aus.
Benjamin hatte seine schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden und trug einen Bart, über seinem dunklen, violetten Hemd lag sein Waffengurt, der ihn aus irgendeinem Grund wie einen König erscheinen ließ. Dann sah er mir in die Augen, legte den Kopf schief und lächelte leicht.

„Wer ist denn das hübsche Mädchen bei dir, Jimmy?", fragte er, sah dabei aber weiterhin mir in die Augen.

„Ich bin Victoria", sagte ich schüchtern.
„Guten Abend, Victoria", begrüßte mich Benjamin, ganz der Gentleman und hob meine Hand an seine Lippen. Ich meinte zu spüren, dass Jim sich neben mir kurz versteifte und merkte, dass ich meine Rache Person für ihn gefunden hatte.
Ein kaltes Lächeln schlich sich auf meine Lippen.

„Was schlägt euch auf diese Insel?", fragte Ben und sah jetzt wieder Jim an.

„Es ist das Herz der Karibik, jeder kommt früher oder später hierhin", antwortete dieser.

„Seid ihr hier um zu heiraten?", wollte Ben weiter wissen mit einem Seitenblick auf mein Hochzeitskleid. Vielleicht sollte ich mir mal was anderes zum Anziehen besorgen.

„Nein", sagte Jim rasch - vielleicht etwas zu rasch.
„Also trägt sie das Kleid aus Modegründen?" Unauffällig machte ich einen Schritt nach vorne und sah Jim mit hochgezogenen Augenbrauen gespannt an.
„Ihr Ehemann hat unglücklicher Weise vor kurzem eine Begegnung mit Todesfolge gehabt", erklärte Jim sachlich. Soso. Begegnung mit Todesfolge.
„Mein herzliches Beileid", kommentierte Ben mit falschem Mitleid in der Stimme.

„Besten Dank."

„Was treibst du eigentlich hier?", wechselte Jim das Thema.
„Ich bin froh, dass du fragst", sagte Ben, „Vor ein paar Jahren, habe ich mir hier ein kleines Domizil errichtet. Dürfte ich euch dorthin hin entführen?"
Jim richtete sich kerzengerade auf.
„Ich denke, wir verzichten lieber. Victoria und ich sind schon etwas müde..."
„Das trifft sich gut! Ich könnte euch eines meiner Schlafzimmer geben. Ich bestehe darauf, dass ihr mitkommt", befahl Ben fast. Er bot mir seinen Arm an.

„Mylady?"

Ich richtete mich etwas weiter auf und hakte mich bei ihm ein. An der Tür blieben wir kurz stehen und Ben murmelte einem Mann etwas zu. Dieser nickte.
Wir machten uns auf den Weg zum Stadtrand und einen Hügel hinauf.
Von einem mannshohen Zaun umgeben stand dort ein Haus mit zwei Stockwerken, dafür war es aber ziemlich lang und ein Garten war davor angelegt, der am Tag bestimmt sehr prunkvoll aussah.

„Du warst fleißig", lobte Jim seinen Bruder.

„Aber wie du siehst, hat es sich gelohnt."
Wir gingen über den Kies, der unter unseren Füßen knirschte, und traten in das Haus. Die Eingangshalle wurde von einigen Kerzen spärlich beleuchtet.
„Möchtet ihr vielleicht erst noch etwas trinken oder wollt ihr gleich zu Bett gehen?", fragte Benjamin.

„Ich könnte gut etwas trinken", sagte Jim im gleichen Moment, in dem ich sagte: „Ich würde gerne zu Bett gehen."

„Wie ihr wollt. Jim, der Salon ist gleich dort vorne rechts, ich bringe Victoria in ihr Zimmer." „Ich begleite euch", schob Jim schnell nach, wieder in Alarmbereitschaft.
„Nein, Jim, das ist nicht nötig. Ich werde ihr schon nichts tun", wies sein Bruder ihn ab und lachte, aber Jim verengte die Augen.

„Ich warne dich", drohte Jim, ehe er sich umdrehte und im Salon verschwand.

„Dann wollen wir mal", wandte sich Benjamin an mich und wir gingen die Treppe hoch. An der zweiten Tür links blieben wir stehen.
Ben öffnete die Tür. Der Raum war klein. An seinem anderen Ende war ein Fenster und es standen nur ein Bett und ein Stuhl darin, aber auch ein Spiegel, wie mir beim Umschauen auffiel. Vielleicht reichte es schon Benjamin ein bisschen länger hier aufzuhalten als nötig, um Jim eifersüchtig zu machen.
Ich drehte mich zu Ben um und musste feststellen, dass er mir schon ohne Aufforderung gefolgt war.

„War Jim immer schon so schnell eifersüchtig?", fragte ich.

„Ehrlich gesagt, interessierte es ihn nie, was ich mit seinen Mädchen machte", sagte er und kam näher, ein Zucken um die Mundwinkel und ein Flackern in den Augen, „Und das macht dich für mich interessant. Was findet mein kleiner Bruder an dir?"
Er stand jetzt so dicht vor mir, dass ich seinen Atem im Gesicht spürte, aber ich ließ mich nicht einschüchtern, auch wenn mir das schwer fiel.

„Lass mich dich hier mal warnen, Benjamin, wenn du irgendetwas tust, dass mir nicht gefällt oder mir wehtut, werde ich nach James schreien und er wird mich hier herausholen", flüsterte ich und sah ihm fest in die Augen.

„Das glaube ich dir aufs Wort", erwiderte er.
Ich weiß nicht weshalb, aber ich stellte mich einem plötzlichen Impuls folgend auf die Zehenspitzen und legte meine Lippen auf seine. Benjamin drückte mich an sich. Sein Bart kratzte, aber ansonsten merkte ich keinen Unterschied zwischen seinem und Jims Kuss, nur dass ich mich gerade irgendwie unwohl fühlte.
Schnell ich schob meine Hände zwischen uns und drückte ihn weg, aber er bewegte sich nicht. Ruhig, alles war gut!

„Benjamin, lass mich los, dein Bruder wird bestimmt misstrauisch, wo du so lange steckst", sagte ich an seinen Lippen.

„Soll er doch nachsehen kommen. Ich würde gerne sehen, ob er sich in Schlägereien mittlerweile besser bewährt", erwiderte Ben und lächelte.
Einen Moment noch überließ ich ihm meine Lippen, dann stieß ich ihm so heftig vor die Brust, dass er zurück taumelte.

„Lass mich allein", fuhr ich ihn an.

„Na, gut", erwiderte Ben leicht hin, ehe er mit einem Lächeln den Raum verließ. Ich ließ mich aufs Bett sinken.
Es hatte mir gefallen.
Langsam fuhr ich mir mit der Hand über die Lippen. Ein Teil von mir hatte nicht aufhören wollen, hatte den Reiz gesucht. Aber der größere Teil von mir hatte Angst davor.

Ich hatte Angst vor mir selbst. Das war bedenklich.

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Und damit ist nun endlich der letzte wichtige Charakter eingeführt: James' Bruder Benjamin White. Er wird die Geschichte noch maßgeblich verändern, obwohl sie gar nicht mehr so lang ist.

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