Kapitel 10 - Das Weichei

Earl

Es war kaum mehr als eine weitere Woche vergangen, als der Caept'n erneut Kurs auf den Heimathafen setzte. Besser gesagt, auf eine kleine Stadt in der Nähe. Die Wahrheit hinter dieser Aktion war, wenn auch nicht vom Caept'n bestätigt, schnell ans Licht gekommen. Niemand wunderte sich mehr, dass es um Victoria ging.
Stattdessen machte sich so etwas wie allgemeine Gereiztheit breit.
Verständlicher Weise.
Was hatte das noch mit Piratenleben zu tun? Die Überfälle waren selten und kläglich geworden und die Crew war von 35 auf 20 geschrumpft. Jetzt konnte man natürlich sagen, dass dann für den Einzelnen mehr übrig blieb von allem, aber es war einfach nicht mehr das gleiche.
Wenn Jim wenigstens zugeben würde, dass er etwas für Victoria empfand und offen gesagt hätte, dass sie der Grund für all das war, aber nein.
Er war ein Geheimniskrämer.
Daran konnte auch Theresia nichts ändern, die uns seit gut einer Woche begleitete. Sie waren einen großen Teil ihrer Kindheit gemeinsam aufgewachsen, was bedeutete, dass Theresia sich auf dem Schiff deutlich besser zurecht fand als Victoria.
Manchmal, so stellte ich fest, waren die beiden so unterschiedlich wie Tag und Nacht und ein andermal hätten sie Schwestern sein können.
Der Caept'n bemühte sich wirklich, Theresia auf die gleiche Weise anzusehen, wie Victoria. Der Selbe verlangende Blick, das Selbe arrogante Grinsen im Gesicht.
Dennoch nahm zumindest ich ihm die Sache nicht ab. Warum sollten wir sonst in Victorias Heimatstadt zurücksegeln?
„Wer ist sie?"
Theresia hatte sich neben mich gestellt und sah mich fordernd an. Ich stellte mich gar nicht erst dumm.
„Victoria? Ehrlich gesagt weiß ich selbst gar nicht so genau wer sie ist. Einfach nur ein Mädchen. Sie hat, glaub ich, ihren Bruder gesucht", überlegte ich. Theresia nickte.
Sie wirkte nicht eifersüchtig oder so auf Victoria. Es war mehr beiläufiges Interesse.
„Jim ist so verändert", murmelte sie, „Früher war er anders. Wild, unberechenbar. Unverführbar. Und ich hatte gehofft, er wäre ein Caept'n der den Weg vorgibt und jetzt schau dir dieses Weichei an. Bäh!"
Ich sah zum Caept'n hoch, der am Heck stand und über das Deck blickte. Für mich sah er im Moment nicht wie ein Weichei aus. Ich meine, es war schon mal schlimmer. Ich zuckte die Achseln.
„Ich hoffe, sie ist es wert", schnaubte Theresia.
Ich nickte. Was sollte man nur von Victoria halten?
Wir konnten uns wohl glücklich schätzen, wenn sie mitkam, immerhin war sie gegangen, weil sie es wollte.
Nicht weil sie irgendwer gezwungen hatte. Und wenn sie sich weigerte standen uns schwere Zeiten bevor, weil James White – obwohl völlig verweichlicht – noch immer nicht der Mann war, der einfach so aufgab.
Niemals.

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