Kapitel 06 ~ Der Weg hinaus

Es war so weit. Der Tag der Flucht war gekommen. Und auch der Tag, an dem ich ebenfalls meine Heimat zurücklassen sollte. Doch wollte ich das wirklich? So hatte ich doch alles hier, was es zum Leben brauchte und es war keineswegs gewiss, ob König Thranduil jemals herausfinden würde, wer den Zwergen geholfen hatte. Und was würde mit meiner Mutter geschehen, wenn ich fort gehen würde? Nochmals würde man ihr einen solchen Verrat nicht verzeihen.

Ich musste also bleiben. Ich musste die Zwerge ziehen lassen und versuchen, mein normales Leben weiterzuführen. Abseits von gefährlichen Reisen, Gold und Drachen. Abseits von Kili, der mir zu wichtig geworden war.

Nachdem ich diese Entscheidung für mich getroffen hatte und an diesem wichtigen Tag ausgiebig gefrühstückt hatte, versteckte ich zuallererst wieder einen Brotkorb in der Nische, nahe der Zellen. Da ich noch eine Menge Zeit hatte, bis mein Dienst beginnen sollte, begab ich mich zurück in mein Schlafgemach und legte mich auf mein Bett. Noch immer war ich mir nicht sicher, was Mutter vorhatte, nachdem ich die Zwerge in die Weinkeller geführt hatte, doch eines war ich mir definitiv sicher, sie hatte einen Plan. Meine Aufgabe war es, ungesehen mit allen dorthin zu gelangen und allein dies war schon eine große Hürde und beinahe unmöglich, selbst wenn der Weg uns lediglich zwei über Treppen führen würde und man allein gerade mal wenige Augenblicke brauchte um anzukommen. Schnell und leise mussten wir sein und das war schon das größte der Probleme, Zwerge waren nicht gerade dafür bekannt, besonders unauffällig zu sein.

Als es an der Zeit war, meinen Dienst zu beginnen, ging ich voll ausgerüstet hinunter zu den Verliesen. Auf dem Weg dorthin viel mir auf, wie viele Elben doch durch die Gänge liefen. Überall war jemand zu sehen, leise und eilig. Das Unterfangen schien mit plötzlich fast unmöglich. Angst machte sich breit und schnürte mir die Kehle zu.

Als ich die Schlüssel von Mella entgegennahm und Sie mit dem Wächter um die Ecke ging, setzte ich mich zunächst auf den Postenstuhl. Schwer wog der Schlüssel in meinen Händen, hatte ich doch etwas, wofür ich getötet werden könnte. Aus den Zellen drang leises und aufgeregtes Gemurmel, natürlich, alle hatten mitbekommen, dass ich da war und wussten nun, es würde bald los gehen. Ich stand also auf, holte zunächst den Brotkorb aus seinem Versteck und ging die Treppe hinauf, vorbei an Kili's und Fili's Zelle, zu Thorin.

„In wenigen Stunden wird es soweit sein. Ich werde Euch hinausführen, danach seit ihr wieder frei und könnt Eure Reise fortsetzen.“ Thorin nickte. „Ich bin Euch zu tiefsten Dank verpflichtet, Halbelbin. Doch sagt mir eins, was geschieht mit Euch und eurer Mutter, wenn Thranduil herausfindet, dass ihr uns zur Flucht verholfen habt?“ „Das weiß ich nicht …“ Natürlich wusste ich genau was geschehen würde, doch wollte ich es nicht aussprechen und schon gar nicht vor Thorin.

„Nun gut, ich vertraue auf Euer Können und das Eurer Mutter, doch möchte ich nicht für den Tod unserer Retter verantwortlich sein. Ich stehe ungern in der Schuld anderer, zumal ich diese niemals begleichen könnte.“ Verblüfft sah ich ihn an. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Thorin Eichenschild sich solche Gedanken machte, sonder eher, dass es ihm egal wäre, wenn wir starben.

„Wir müssen nur sehr leise sein, dann sollte alles glatt gehen und ihr seit draußen, bevor jemand etwas merkt. Ich werde behaupten, ihr hättet mich K.O. geschlagen und ich war bewusstlos.“

„Nun gut.“ Thorin nickte. „So, und nun esst noch etwas, damit Ihr für später gestärkt seid.“

Ohne zu murren nahm er das Brot an und aß es.

Die andere Zwerge begrüßten mich freundlich und auch sie nahmen das Brot gern und dankend an.

Als ich zum Schluss bei Fili und Kili ankam, hatte ich noch drei Stücke übrig.

„Unsere Retterin.“ Kili stand bereits am Tor und wartete auf mich. „Ja, da bin ich wohl schon.“ Ich gab ihm das gesamte übrige Brot und er teilte es gerecht mit seinem Bruder. Den Korb stellte ich achtlos unter den Tisch am Wachtposten.

„Es sind nur noch wenige Stunden, ihr solltet euch noch etwas ausruhen, bevor es losgeht.“

Beide sahen mich an, als hätte ich so eben einen Witz erzählt, einen schlechten Witz.

„Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass wir jetzt noch schlafen können?“ Fili ging unruhig von einer Wand zur anderen und biss immer wieder vom Brot ab.

„Hast du mit Thorin gesprochen? Hast du ihm gesagt, dass du uns begleiten wirst?“ , fragte Kili mich nun leise. „Nein, Kili, ich werde nicht mitkommen. Ich kann meine Mutter nicht zurück lassen. Das alles hier. Es ist meine Heimat.“ Offensichtlich hatte er nicht mit dieser Antwort gerechnet. Wütend ging er einige Schritte zurück. „Du wirst sterben! Ganz sicher!“ „Nein, ich kann auf mich selbst aufpassen.“ „Ich lasse das nicht zu! Und wenn ich dich eigenhändig hier raus trage!“ Ich musste lachen. „Es ist allein meine Entscheidung und nun schreit nicht so herum, sonst können wir das Ganze gleich sein lassen. Ruht euch aus.“ Und schon war ich von dem Tor verschwunden und begab mich zum Wachposten.

Der Himmel war beinahe wolkenlos, sodass ich sehr gut sehen konnte, wo der Mond war und wann wir loslegen mussten. Bald war es soweit. Ich dachte darüber nach, wie es wäre, mit den Zwergen mitzugehen und beinahe war ich traurig, es nicht zu tun. Doch meine Entscheidung stand definitiv fest. Als der Mond beinahe den Höhepunkt seiner Laufbahn erreicht hatte und es an der Zeit war, die Zwerge hinauszulassen, schlug mein Herz so schnell, dass ich es überall spüren konnte. Ich war nervös und meine Hände schwitzig. Mit dem Schlüssel bewaffnet eilte ich zu Thorin hinauf, schaute ihn kurz an, nickte und schloss auf. Danach ging es weiter, bis zum Schluss auch Kili und Fili befreit waren. „Alle beisammen?“ , fragte ich ganz leise, als wir uns am Wachposten versammelt hatten. Es war ein seltsamer Anblick. Dreizehn Zwerge und der Halbling sahen mich gespannt und erwartungsvoll an. Erst jetzt wurde mir das gesamte Ausmaß des Unterfangens bewusst und es kribbelte am ganzen Körper. Thorin überblickte die Gruppe kurz und nickte mir dann zu. „Es kann los gehen. Führt uns hinaus.“

„In Ordnung. Folgt mir und achtet darauf, nicht gegeneinander zu laufen und keine Geräusche zu machen."

Schon nach den ersten Schritten wurde mir klar, dass wir einen ganzen Haufen schlafender Elben wecken würden, bei der Lautstärke, die die Zwerge beim Gehen machten. Nicht alle, nein, aber viele von ihnen stolperten, rempelten und trampelten bei jedem Meter, den wir uns fortbewegten.

„Psssscht.“ , machte ich und schaute erst Thorin und dann alle anderen einmal an. Dann ging es weiter. Viel leiser, als zuvor waren wir nicht, aber sie bemühten sich. Jeder einzelne von ihnen ging auf Zehenspitzen und atmete kaum noch aus. Wäre die Lage nicht eine solch ernste und gefährliche gewesen, wäre es sicherlich lustig anzusehen gewesen, doch nach Lachen war uns allen nicht zumute. Als wir die zweite Treppe erreicht hatten, blieb ich stehen und lauschte angestrengt. Nichts war zu hören. Die Zwerge blieben hinter mir stehen. „Es scheint niemand da zu sein, weiter geht’s.“

Und so war es auch. Am Ende der Treppe war kein Wächter zu sehen und ich fragte mich, wie meine Mutter das hinbekommen hatte. Tag und Nacht wurden die Keller bewacht, lagerten hier doch noch ganz andere Schätze als Wein.

Nur noch wenige Meter einen Gang entlang und wir hätten es geschafft. Doch dann polterte etwas mit einer ohrenbetäubenden Lautstärke die Treppe hinunter.

„Bombur!!! Was tust du denn da?!!“ Thorin schrie den Zwerg, der so eben die Treppen hinunter gerollt war, lautstark an und machte die Situation keineswegs besser.

Bombur war ein sehr kräftiger, dicker Zwerg und erhob sich schnell wieder. „Tschuldige.“ murmelte er. Doch es war zu spät.

„Sie sind fort!!! Geflohen! Die Zwerge! Rasch!“ Hörte ich es von oben rufen und schon ertönte ein Elbenhorn.

„Mir nach!!! Schnell!“ Ich lief voran, den Gang entlang und ohne vorher nachzusehen, öffnete ich die Tür des Weinkellers. „Rasch! Alle hier hinein!“ Thorin eilte an mir vorbei und nach ihm alle anderen Zwerge. Ich schloss die Tür und sah mich um. Meine Mutter stand mitten im Raum, direkt neben den leeren Fässern, die zurück nach Seestadt geschickt werden sollte. „Wurdet ihr entdeckt?“ Besorgt sah sie mich an. „Ja, Mutter, sie haben es bemerkt, ich bin mir nicht sicher ob sie wissen, das wir hier sind. Schnell!“ Sie nickte und sah dann zu den Zwergen. „Ihr müsst in die Fässer hineinkriechen. Ich werde dann die Luke öffnen und euch allesamt den Fluss entlang schicken. Es wird gefährlich werden, Ihr werdet nass werden und einige von euch überleben es vielleicht nicht. Doch es ist eure einzige Chance hier hinauszugelangen.“
Thorin seufzte kurz auf, besah sich die Fässer und wandte sich dann zu den anderen. „Tut was sie sagt. Rein mit euch! Schnell!“

Ein kleiner Tumult breitete sich aus und ich war mir sicher, dass die gesamte Stadt uns hören konnte. Nach und nach verschwand jeder der Zwerge in einem der Fässern. Kili und Thorin halfen ihnen hinein und dann sah er mich an. Er sah mich an, mit diesem Blick, von dem ich träumte, seit ich ihn das erste mal gesehen hatte. „Thorin, ich kann sie nicht zurück lassen!“

Entgeistert sah Thorin mich an und auch meine Mutter blickte auf. „Sei kein Narr, Kili, nun seh' zu, dass du in ein Fass steigst und wir endlich aus diesem stinkenden Elbenloch raus kommen!“

Ich nickte Kili ermutigend zu, doch plötzlich hörte ich Schritte. Schritte, die den Gang entlang kamen, den wir so eben verlassen hatten. Die Wachen kamen! Sie waren keine Hundert Meter mehr von uns entfernt und gewiss würden sie jede der Türen öffnen und nachsehen.

„Du kommst jetzt mit mir mit!“ , schrie Kili und machte einen Satz zu mir, packte mich am Arm und zog mich mit sich. Entgeistert sah ich meine Mutter an. Sie nickte und zückte ihren Bogen. „Ich werde sie aufhalten. Elennya, steig in das Fass.“ „Nein, Mutter! Sie werden dich töten! Ich werde nicht ohne dich gehen!“ „Sei nicht dumm, Kind! Einer muss den Hebel betätigen! Einer muss euch rauslassen und sie aufhalten! Ich werde hier bleiben und eben dies tun.“

„Nein!“ Ich versucht mich loszureißen, doch Kili umklammerte meinen Arm zu fest, als das ich es schaffen konnte. „Lass mich los!! Loslassen sollst du mich! Mutter! Nein!!“ Doch ich hatte keine Chance gegen Kili und schon hob er mich hoch und stieg mit mir in eines der Fässer. Ich kratze ihn und noch immer versuchte ich mich loszureißen. „Halt sie fest.“ , sagte Thorin und stieg in das Fass neben uns. Kili drückte mich von hinten an sich und umklammerte meinen Bauch. Es war eine unbequeme Lage und mein Bogen schnitt mir in den Hals. Kili's Handrücken begann zu bluten, doch es war mir egal, ich kratze weiter! Ich musste zurück, musste meiner Mutter helfen. Sie durfte nicht sterben! Dann hörte ich Stimmen und den gellenden Schrei meiner Mutter, bevor die Fässer begannen, polternd die Rampe hinunter zu rollen.

Einen kurzen Blick konnte ich noch von ihr erhaschen, wie sie gegen etwa ein Dutzend Elben kämpfte. Das würde sie nicht überleben, dessen war ich mir sicher.

„NEIN!“ Doch Kili hielt mich erbarmungslos in seinen Armen und wir rollten in den Fluss, der uns in die Freiheit bringen sollte. Fort von meiner Heimat. Fort von meiner Mutter, die ich im Stich gelassen hatte, die alles gegeben hatte, um Zwerge zu retten, nur um mich glücklich zu sehen.

Wir platschten allesamt auf dem Wasser auf und die Fässer trieben mit der Strömung davon. In der Ferne hörte ich ein Horn erklingen. Sie würden uns verfolgen, machten Jagd auf uns, wie auf Schwerverbrecher.

Ich schluckte eine Menge Wasser und immer wieder schlug ich mir den Kopf am Rande des Fasses an. Wir wurden hin und her geschaukelt, kleine Abhänge hinunter gespült und von Ästen getroffen. Es war wahrlich die reinste Qual. „Du musst dich festhalten.“ , rief Kili mir zu. „Sag du mir nicht was ich zu tun habe!“ , schrie ich zurück und fiel beinahe aus dem Fass, wenn er mich nicht im letzten Moment gepackt hätte. „Jetzt halt dich fest, verdammt!!!“ Etwa einen halben Liter Wasser ausspuckend, griff ich nach dem Holzfass und umklammerte es. Ich grub meine Fingernägel in das Holz und stemmte mich mit meinem Oberkörper gegen Kili. So war das Fass besser ausbalanciert und wir torkelten nicht mehr als zu viel hin und her.

Ich versuchte mich umzusehen und einen Überblick zu bekommen, doch es war unmöglich. Überall schwammen Fässer und schrien Zwerge durcheinander. Bilbo, der Hobbit, hielt sich nur noch von außen an einem Fass fest und wurde beinahe davon gespült. Ich betete, dass wir alle heile ankommen würden.

Dann sah ich sie, die Elben, die uns schnellen Schrittes verfolgten! Etwa dreißig Wächter und Krieger liefen am Flussufer entlang und zielten mit ihren Langbögen auf uns.

„Köpfe runter!!!“ , schrie ich, noch bevor der erste Pfeil nahe an Thorin vorbei zischte.

„Pfeile! Sie haben Pfeile! In Deckung!“ , schrie er darauf hin den anderen zu und alle versuchten die Köpfe einzuziehen. Kili und ich schafften es nicht, es war zu wenig Platz in dem Fass, also blieben wir oben und wichen den Pfeilen aus, in dem wir anfingen das Fass zu schaukeln. Wenn ich das überleben würde, müsste ich mich auf jeden Fall erst einmal übergeben! Mir war tierisch schlecht.

Dann hörten wir einen lauten Schrei und es ruckte einmal kräftig an unserem Fass. Dann fielen wir. Mein Herzschlag setzte aus und wir fielen und fielen den Wasserfall hinab. Etwa fünfzehn Meter tief.

Als wir unten aufkamen, war das letzte was ich spürte, die kräftigen Hände von Kili, die mich fest umklammerten. Dann schlug ich mit dem Kopf auf den harten Rand des Fasses auf …

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top