Prolog
Januar 1947
Die alte Frau mit dem faltigen Gesicht lag schwach atmend in ihrem klapprigen, kaum als solches zu bezeichnenden, Bett. Es war eisig kalt in dem kleinen Kämmerchen, denn der frostige Wind des Winters wurde durch das undichte, mit Eisblumen verzierte Fenster in den Raum geweht. Winzige Wölkchen bildeten sich, während die alte Frau atmete. Sie stiegen sanft zur undichten Decke des Raumes empor, von der Wasser in den Raum tropfte. Ihr Gesicht war fahl und eingefallen.
„Großmutter?", murmelte ein junges Mädchen , das auf der Bettkante saß, mit einem zittern in der Stimme. Sorge lag in ihrem aufmerksamen Blick. Die alte Frau hustete nur schwach.
Das etwa neunjährige Kind legte seiner Großmutter zögerlich eine Hand an die Wange. Die aufmunternde Geste weckte ein Lächeln auf dem sterbenden Gesicht der alten Frau. Sie konnte noch nicht einmal mehr zittern, so kraftlos war sie. Und trotzdem lag die Stärke und Erfahrung vieler glücklicher und auch trauriger Jahre in den blassen Augen der Großmutter.
Langsam und mit größter Mühe zog die alte Frau ihre Hand unter dem Bettlaken, das sie nur unzureichend wärmte, hervor und legte sie auf die Hand ihrer Enkelin. Tränen sammelten sich in den Augen des jungen Mädchens, sie wusste, dass es für ihre Großmutter Zeit war, diese Welt zu verlassen, um in eine bessere zu gelangen. Die Kriege hatte sie überlebt, doch der Tod hatte sie trotzdem eingeholt.
„Sofia, mein Schätzchen", krächzte die Großmutter zu dem kleinen Mädchen. Daraufhin floss eine einsame Träne die blasse Wange des Kindes hinunter. Sie empfand tiefe Trauer um ihre Großmutter, auch wenn diese noch nicht Tod war.
Zögernd senkte die alte Frau die Hand zu ihrem Hals. Der Enkelin stockte der Atem, als sie damit rechnete, dass ihre geliebte Großmutter ihren letzten Atemzug tun würde. Doch das tat sie nicht, noch nicht. Ihre dürren Finger schlossen sich um ihre Halskette. Das Mädchen schluckte.
„Großmutter?", wiederholte sie ihre vorherige Frage. Der blasse Blick der alten Frau wandte sich ins Leere. Die Enkelin erwartete bereits keuchend ihren Tod, als die alte Frau ein letztes Mal blinzelte und mit einem überraschenden Ruck die Halskette von ihrem Hals riss, sodass sich einige Glieder lösten und das silberne Schmuckstück in ihrer faltigen Hand baumelte. Mit letzter Kraft streckte sie es dem erstaunten Mädchen entgegen.
„Nimm sie u... und gib sie irgendwann deiner eigenen... Enkelin. Sie ist ein Schlüssel... es gibt nur fünf weitere. Gib auf sie Acht!", hauchte die alte Frau mit ihrem letzten Atemzug und ließ die Kette in die Hand ihrer Enkelin gleiten, die ihre Großmutter nur überrumpelt anstarrte. Dann fiel ihr Arm kraftlos auf das vor Kälte und Frost knisternde Bettlaken.
Als das Mädchen bemerkte, dass nach diesen letzten Worten keine weiteren Wölkchen mehr aus den leicht geöffneten Lippen ihrer geliebten Großmutter aufstiegen und der Blick der Frau ins Leere gerichtet war, begann sie hemmungslos zu schluchzen. Sie zog beide Hände eng an ihren viel zu zierlichen Körper, als würde sie sich selbst umarmen. Es war nun schließlich niemand mehr da, der sie umarmen konnte. Das Mädchen wurde von den Schluchzern geschüttelt. Sie hielt die Halskette fest an ihr Herz gedrückt, wie einen Schatz.
In diesem Augenblick der Trauer schwor sie sich eines: Sie würde diese Halskette niemals hergeben. Allein ihrer eigenen Enkeltochter sollte es einmal vergönnt sein, sie zu bekommen. Und auch diese sollte sie auf ewig behüten. Und dies versprach das kleine Mädchen sich, selbst wenn sie keine Ahnung hatte, wovon ihre Großmutter gesprochen hatte.
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