--22.1--

Ohne Mirandas Neugierde groß zu befriedigen, was es mit diesem Gebäude auf sich hatte, drängte ich sie auch schon ins Innere. Zunächst betraten wir den breiten Eingangsbereich, dessen schlichtes Design an etwas Beruhigendes ausstrahlen sollte, zu diesem Zweck hatte ich mich speziell an Serena gewandt. Und wie es aussah, funktionierte es. Mein Engel entspannte sich sichtlich und ließ erst mal alles auf sich wirken.

Jeder Frau fiel auf, wie maskulin das Haus war. Die Wände hatte ich vor kurzem in einem weichen Creme-Ton gestrichen, wo hier und da etwas braun, grau oder grün mit aufgegriffen wurde.

Mit einem leichten Schubs bedeutete ich ihr, weiterzugehen, denn auf den nächsten Raum war ich besonders stolz. Er bildete das Kernstück des ganzen Hauses und wäre bei einer normalen Konstruktion unmöglich umzusetzen.

Als mein Engel den Raum erblickte, ließ ich alle Barrieren fallen und schlupfte in ihren Kopf, sodass ich ihre Wahrnehmung teilen und analysieren konnte. Was sie sah und wie sie es sah war auf eine gewisse Weise beeindruckend. Ganz eindeutig die Wahrnehmung einer Frau.

Der große, offene Raum maß mehrere dutzend Meter. Riesige Kletterpflanzen bedeckten die Wände, die sich übelerregend weit in die Höhe erstreckten und in der Mitte stand ein großer Flügel, sowie mehrere, gemütlich aussehende Sessel vor einem großen, steinernen Tisch. Alles war durch und durch maskulin. Zwar war das für mich und alle anderen Kopfgeldjäger in Ordnung – auch für die Frauen – Miranda jedoch fehlte ein weiblicher Touch, kleine Verschönerungen, die eine Frau wie sie wertschätzte. Außerdem spürte ich einen kleinen Wunsch nach Entfaltung, doch welcher Art blieb mir verschwiegen, dafür war ich nicht tief genug eingedrungen.

Zurück in meinem Kopf betrachtete ich Mirandas Rücken. Sie machte einige Schritte in den Raum hinein und drehte sich im Kreis, dabei hielt sie den Blick an die funkelnde Decke gerichtet, dessen Oberfläche über und über mit Edelsteinen besetzt war, die in den verschiedensten Grüntönen erstrahlten, sodass man sich vorkam, als würde man unter einem vollen Blätterdach stehen und die Sonne scheine auf einen herab.

Ich hatte dieses Kunstwerk in Auftrag gegeben, um mich selbst an eine längst vergessene Zeit zu erinnern, ihr die letzte Ehre zu erweisen und gleichzeitig meine Sehnsucht nach dem Grün meiner Kindheit zu stillen. Doch auch wenn dieser Raum meine Sinne beruhigte und gleichzeitig Schutz und Abgeschiedenheit bot, war es doch die staunende Frau in der Mitte, die dieses Bild vervollständigte, es mit Leben erfüllte.

„Das da drüben ist eine Hydrangea petiolaris, auch Kletterhortensie genannt. Ich habe sie angepflanzt, da sie auch im Schatten gut wachsen kann und somit eine wunderbare Ergänzung zu der Campsis grandiflora, der Trompetenpflanze bildet." Ich zeigte auf die benannten Pflanzen und bemerkte mit Genugtuung, dass mein Engel jedes meiner Worte gespannt mitverfolgt hatte.

Langsam schritt ich auf sie zu und umarmte sie von hinten. „Gefallen dir meine Pflanzen, Engelchen?"

„Sie sind wunderschön.", Tränen traten in ihre Augen. „Ich hätte nie gedacht, solch einen Ort anzutreffen.", entgegnete sie, schmiegte ihren Kopf an meine breite Brust und ließ ihren Tränen freien Lauf. „Er hat mir so viel bedeutet. Schon als ich klein war, ging ich oft dorthin, und vergaß für einen Moment alle Sorgen und Probleme. Seth, er war mein zweites Zuhause." Es war, als hätten die Pflanzen einen Schalter in Miranda umgelegt und sie begreife erst jetzt, welchen Schatz sie verloren hatte. Während sich Mirandas Körper vor Schluchzern schüttelte, konnte ich sie nur stärker an mich drücken und ihr leise Trost zusprechen.

„Ich weiß, Engelchen, dieser Ort war dir wirklich wichtig und es tut mir unendlich leid, aber selbst ich kann das Geschehene nicht mehr rückgängig machen. Dein Park ist verbrannt, er ist zu Asche geworden, aus der nun etwas Neues entstehen kann. Du wirst sehen, die Natur ist stark, in ein paar Jahren, vielleicht auch Jahrzehnten wird sich die Erde wieder erholt haben und es wird neues Leben herrschen." Bei meinen Worten entspannte sich Miranda etwas, auch wenn sie ihre Tränen nicht stoppen konnten.

Als ihre Beine unter ihr nachgaben, glitten wir zusammen auf den Boden, sie in meinen Armen vergraben, auf meinem Schoß sitzend und das Gesicht an meine Brust gedrückt.

Ihre Tränen zauberte Flecken auf mein Hemd, doch es störte mich nicht. Stattdessen fühlte ich mich vollkommen hilflos, ein Gefühl, welches ich nicht oft verspürte. Normalerweise war ich derjenige, der die Zügel in der Hand hielt, der am längeren Hebel saß. Ich las Gefühle, verstärkte sie oder schrieb sie um, oder nahm sie einfach in mich auf, aber dieses Mal war ich machtlos. Und es war mir zuwider. Diese Machtlosigkeit. Diese Unfähigkeit, meinen Engel vom Weinen abzuhalten.

Dennoch blieb mir keine andere Wahl als weiterhin für sie da zu sein, sie in den Armen zu halten und ihr Trost und Geborgenheit zu spenden, denn im Moment war ich ihr einziger Halt in dieser Welt, die so viele Überraschungen für meinen Engel bereithielt.

****

Miranda war in meiner Umarmung eingeschlafen, ihre Tränen getrocknet. Vorsichtig hob ich sie auf die Arme und brachte sie in einen abgegrenzten Bereich, einen der vielen Schlafräume, wo ich sie sanft auf die große Mattratze bettete. Ich hatte beschlossen, das Engelchen erst später in meine Räumlichkeiten einzuquartieren, wenn sie dem zugestimmt hatte.

„Seth, oh feuriger Krieger, wer ist diese Schnecke und warum hast du sie mir nicht schon früher gezeigt? Dann hätte ich zumindest ohne Bedenken dieser Welt entgleiten können." Der Mann im Türrahmen legte sich theatralisch in Pose und mimte etwas, was mich sehr an einen sterbenden Schwan erinnerte. Am Ende seiner kleinen Vorführung lag er halb auf dem Boden und hatte sich noch immer nicht vom Türrahmen wegbewegt.

„Wenn du fertig bist, kannst du deinen Bruder auch gleich zu mir bringen. Wahrscheinlich sitzt er gerade unten und plündert meinen Weinkeller, benutzt die edlen Kristallgläser und raubt mir den letzten Nerv."

„Woher du das nur immer weißt? Wirklich, manchmal wirst du mir unheimlich.", trällerte der Mann und machte sich sogleich auf den Weg. Mit einem einzigen Satz war er über die Reling auf die gegenüberliegende Etage gesprungen und verschwand hinter der nächsten Wand.

Kurze Zeit später betraten er und ein weiterer Mann den Raum. Ich drehte mich zu ihnen herum und sah ihnen in die identischen Gesichter.

„Lerius, Tritus, habt ein Auge auf sie. Inn letzter Zeit ist viel geschehen.", wies ich sie an. Noch einmal veränderte ich meine Position, wurde bedrohlicher. Die beiden jungen Männer sollten wissen, wie wichtig mir diese Frau war und dass ihr kein Haar gekrümmt werden durfte.

„Wir haben verstanden, Seth. Ihr wird nichts geschehen, du hast unser Wort." Tritus, der als letztes gekommen war, machte den Eindruck noch etwas hinzufügen zu wollen, doch sein Zwilling stieß ihn hart in die Seite und bedeutete ihm somit die Klappe zu halten.

Schwermütig erhob ich mich. Ohne es zu wollen suchte mein Bewusstsein nach Mirandas, vergewisserte sich, dass es ihr gut ging und sie keine Schmerzen hatte. Erst dann konnte ich, an Lerius vorbei, zur Tür hinausschreiten. Ich spürte wie Tritus seinen Bruder mit einem bösen Blick bedachte, der diesen nur Grinsen ließ, bevor sie mir so leise wie Schatten folgten.

Zu dritt landeten wir federnd zwei Stockwerke tiefer, wir hatten schon lange aufgehört, Treppen zu benutzen. Uns reichten normalerweise kleine Vorsprünge, an denen wir uns orientieren konnten, doch meistens ließen wir uns die wenigen Meter einfach hinunterfallen.

Auf dem steinernen Tisch standen bereits drei kleine Weingläser und warteten nur darauf, von uns mit dem teuren roten Saft gefüllt zu werden. Ich rieb mir die Stirn. „Tritus, wie oft muss ich dir noch sagen, dass mein Keller für dich tabu ist?" Der angesprochene drehte eines der Weingläser in Händen und hielt es gegens Licht.

„Ach komm. Du hast so viel von dem Zeug, da wird diese eine Flache keinen Unterschied machen. Ich verstehe sowieso nicht, warum du so viel davon lagerst, anstatt es zu trinken. Solch eine Verschwendung!", äußerte er.

Mein Gesicht hatte sich verfinstert und ließ mich älter wirken. „Ob und wie ich mein Eigentum nutze geht nur mich etwas an. Vergiss niemals, selbst wenn ihr hier ein- und ausgeht wie es euch beliebt, werde ich nicht immer ein Auge zudrücken können. Irgendwann wird einer von Euch zu weit gehen und ihr werdet die Konsequenzen eures Handelns zu spüren bekommen." Mein wildes Knurren, als ich zur Flasche griff, ließ Lerius zusammenzucken. Tritus hingegen war alles andere als eingeschüchtert. Während Lerius, auch wenn er eine große Klappe besaß, wusste wo sein Platz war, spürte ich bei dem älteren Tritus ab und zu, wie er seine Grenzen austestete. „Jetzt geht! Ich habe euch nicht umsonst angewiesen, ein Auge auf sie zu haben. Und sollte ich hören, dass ihr dieser Frau auch nur auf zwei Schritte zu nahe gekommen seid, dann wart ihr die längste Zeit meine Schützlinge." Damit wandte ich mich ab und leerte die Hälfte der Flasche in einem Zug.

Tritus wollte schon davonstürmen, da packte ihn Lerius am Arm. „Geh ruhig schonmal vor. Da ist noch etwas, was ich Seth fragen muss." Er hob eine Augenbraue, als er den Ausdruck seines Bruders sah. „Keine Sorge, ich werde dir nachher alles erzählen."

Für einen Moment erschien es mir, als würden die beiden ein stilles Abkommen treffen, worauf ich aber nicht weiter einging. Stattdessen widmete ich mich wieder diesem erlesenen Tropfen in meiner Hand. Immerhin war ja noch die Hälfte drinnen und ich konnte jedes bisschen Hilfe gebrauchen, um das vor mir liegende zu überstehen.

****

„Tritus ist weg. Kommen wir jetzt zum Wesentlichen."

„Ach ja, und was ist deiner Meinung nach das Wesentliche?", fragte ich provokant. Der jahrzehntealte Alkohol war mir bereits zu Kopf gestiegen.

„Ich habe gehört, dass Peter tot ist."

„Und?"

„Bist du auf den Kopf gefallen?" Er riss mir die Flasche aus der Hand und goss ihren Inhalt in die nächstbeste Topfpflanze. Sein Ausbruch verwirrte mich zunächst, doch die nunmehr leere Flasche fesselte meine Aufmerksamkeit. Ich schlug mir mit der Hand an die Stirn. „Hast du eine Ahnung wie teuer diese Flasche gewesen ist?"

„Und hast du eine Ahnung, in welchen Schwierigkeiten wir jetzt stecken?" Schweiß bildete sich auf Lerius Stirn, während er anfing, wie wild mit den Armen zu gestikulieren.

Allmählich verschwand der kurze Rausch wieder und die Wärme in meinem Bauch verwandelte sich in reine Müdigkeit. Scheiß Selbstheilungskräfte! Eine halbe Flasche und ich bin nicht mal für fünf Minuten betrunken.

„Diese Angelegenheit hat nichts mit euch zu tun. Es dreht sich hierbei ganz allein um mich, das kannst du auch deinem Bruder weitersagen. Ich möchte nicht, dass ihr eure Nase noch weiter in meine Angelegenheiten steckt." Ich stand auf und ging zu einer der Truhen, die hier überall herumlagen. Aus dem silbernen Kasten nahm ich mir Hose und Hemd, auf Unterwäsche verzichtete ich. Hinter mir bahnte sich gerade eine Menge Emotionen an. Sie mussten sehr stark sein, denn sie durchdrangen Lerius selbst aufgebaute Abschirmung, sodass ich seine Frustration fast am eigenen Leib spürte.

„Das alles geht uns sehr wohl etwas an!", begehrte er auf. „Wir sind deine Schützlinge, deine Familie. Oder hast du etwa so wenig Vertrauen in uns, dass wir deiner Meinung nach der Situation nicht gewachsen sind?"

„So habe ich das nicht gemeint." Die Müdigkeit nahm zu. Jetzt war ich derjenige, der Mühe hatte, seine Schilde aufrecht zu erhalten. „Es ist nur ... alles ist so verworren, dass ich selbst nicht genau weiß, wie es weitergehen wird."

„Das erwartet auch keiner." Titus war zurückgekommen und lächelte mich entschuldigend an. „Ich spüre es immer, wenn sich mein Bruder aufregt, besonders wenn es dabei um dich geht. Da konnte ich nicht länger oben verweilen." Obwohl ich wusste, dass sie nur mit mir spielten und das alles nur ein Trick war, um mich zum Reden zu bekommen, versuchte ich ihrem Hundeblick noch eine Weile standzuhalten, bis ich schließlich aufgab.

„Also schön, es hat ja doch keinen Sinn. Sobald ihr euch einmal etwas in den Kopf gesetzt habt, können eine Horde von Nox über uns herfallen und ihr würdet trotzdem noch mit eurer Masche weitermachen. Das habt ihr schon als kleine Jungen immer getan, mich um den Finger gewickelt, mit nichts als Flausen im Kopf." Mit einem Nicken und einem offenen versteckten Grinsen stimmten mir die jungen Männer zu. Gespannt setzten sie sich auf die Sessel mir gegenüber und sahen mich an. Im exakt gleichen Moment übten sie den exakt gleichen Bewegungsablauf aus. Der Körper beugte sich nach vorne, die Schulterblätter spannten sich an und vier Hände formten ein spitzes Dach.

Ich begann sie über den Mord an dem Trogovatsvorsitzenden aufzuklären und ließ auch nichts über meine Begegnung mit Miranda aus. „Und sie haben dich nicht zu sich berufen?", erkundigte sich Lerius neugierig. „Normalerweise wärst du doch der erste Verdächtigte, immerhin warst du der einzige Schützling von Peter. Du standest ihm doch von allen am nächsten."

„Das frage ich mich auch.", stimmte ihm Tritus zu. „Es ist doch wirklich seltsam, dass er gerade dann ermordet wird, kurz nachdem du geflohen bist." Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. „Da will dich jemand drankriegen. Und dieser jemand schreckt nicht einmal vor dem Trogovat zurück."

„Da könntest du richtig liegen." Ich überkreuzte die Beine. „Da fällt mir auch schon jemand ein ..."

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