--17.1--

Es waren gerade einmal wenige Minuten vergangen und ich fühlte mich wieder wie das kleine Mädchen, welches gerade erst erfahren hatte, dass die Welt nicht nur gut und böse ist, sondern alle Variationen von Grautönen existieren.

Schwarz und weiß.

Ich beneidete die normalen Menschen um diese Sichtweise. Ein Straftäter fiel in den Bereich des Schwarzen, während der Beruf des Arztes allgemein den guten Menschen symbolisierte, den niemand verurteilte, der nicht selbst Dreck am Stecken hatte. Und ja, diese Welt war voller Dreck.

„Du hast ja selbst die Macht der Verbindung gespürt, die durch die Vermischung unseres Blutes entstanden ist. Dabei scheint mein Geist den deinen in gewisser Weise abzuschirmen, was das Fehlen deiner Anfälle erklären würde." Langsam wurde mir klar, worauf Seth hinauswollte.

„Du meinst also, dass du mich vor Anfällen bewahrst, indem du mein Unterbewusstsein unterstützt?", zählte ich eins und eins zusammen.

„Ja. Kurz vor deinem Zusammenbruch habe ich an etwas aus meiner Vergangenheit gedacht.", gab der Tiermann zu.

Wieder fuhr er sich durch die seidigen Haare, sodass ich seine beeindruckenden Armmuskeln bewundern konnte. Er schien keine Ahnung zu haben, welche Auswirkungen diese kleinen Gesten von ihm auf mich hatten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Seth ein genauso eiskalter Killer sein sollte, wie ihn mein Onkel darstellen wollte. Vielmehr erinnerte mich dieser in sich gekehrte Mann an ein zutiefst gepeinigtes Tier, mit Wunden, die nie richtig verheilt waren.

„Wenn du dir Sorgen machst, dass ich etwas empfangen haben sollte, das habe ich nicht.", versuchte ich zu scherzen, doch Seths Blick wischte das Lächeln aus meinem Gesicht.

„Es ist auch besser so, vertrau mir." Kurz verlor ich den Boden unter den Füßen, als mich der Tiermann hochhob und auf dem Bett wieder absetzte. Mit schweren Schritten verließ er den Raum. Sein Gesicht glich einer Maske, es strahlte keinerlei Emotionen aus und auch in seinen Augen bargen sich Gewitterwolken.

„Und was mache ich jetzt?", flüsterte ich in die Stille. Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr ich mich an Seths beschützende Ausstrahlung gewöhnt hatte, und ohne diese war es, als stürmte alles auf mich ein. Es war so viel, in so einer kurzen Zeit passiert, dass jeder normale Mensch sich erst mal tagelang unter seiner Bettdecke verstecken würde.

Natürlich würde ich so nicht handeln, nicht mehr. Dennoch konnte ich hier nicht einfach rumsitzen und nichts tun. Sehnsüchtig schaute ich aus dem Fenster und sah die Nacht hereinbrechen. Ihr dunkler Schleier verwandelte Bekanntes in Unbekanntes.

Da die meisten Bewohner der orbis alius nachtaktiv waren, traf man sie – wenn überhaupt – zu genau dieser Stunde an. Manche von ihnen suchten den Kontakt zu anderen, so als seien sie süchtig - süchtig nach dem Rausch der Gruppendynamik. Auch ich habe dieses Gefühl schon kennengelernt. Es waren besonders schwere Zeiten angetreten, in denen ich mich so allein gefühlt hatte, dass ich meinen Schmerz mit etwas anderem, genauso starkem ertränken wollte.

Heute jedoch kannte ich meine Grenzen und brauchte nicht mehr Erlösung in der Vergessenheit zu suchen, wodurch ich mich von den einzigen abgekapselt hatte, die mir etwas bedeuteten. Nur wenige waren mir geblieben. Mein Onkel Ben, meine Cousine Abigail und mein bester Freund Terry hatten mich nicht aufgegeben und das rechnete ich ihnen hoch an.

Aus genau diesem Grund konnte ich nicht untätig bleiben. Ich musste mich mit eigenen Augen vergewissern, dass es meinem Onkel gut ginge. Und Terry musste ich auch kontaktieren - sicherlich war er schon ganz krank vor Sorge, denn es waren schon viele Stunden vergangen, seit ich meine letzte Nachricht geschrieben hatte. Mein Handy war mir leider bei dem Angriff auf mein Haus abhandengekommen und wahrscheinlich nur noch Elektroschrott.

Vorsichtig bewegte ich mich durch den kleinen Unterschlupf, der gar nicht so klein war, wie es mir durch den Wohnraum weisgemacht wurde. Nach den ersten Abzweigungen enthüllte sich vor mir ein Meer aus Gängen und Kammern, wovon so gut wie keine bewohnbar wirkte.

Die Gänge schienen kein Ende zu nehmen, bis ich mich plötzlich an der Oberfläche befand und auf mehrere verlassene Häuser blickte, deren Fenster entweder eingeschlagen oder von innen verbarrikadiert waren. So verlassen dann wohl doch nicht.

Unter dem schummrigen Licht lief ich durch die Gassen und orientierte mich an den einzelnen Straßennamen, die hin und wieder aufblitzten und die ich in- und auswendig beherrschte.

Ob es mir schwerfiel Seth zu verlassen? Oh ja. Aber er war es gewesen, der zuerst gegangen war. Ich hatte fast jeden Gang des Verstecks durchquert und war ihm nicht begegnet, was bedeutete, dass er nicht mehr dort gewesen war. Also warum sich schlecht fühlen, wenn man doch zuerst sitzen gelassen wurde?

Ich würde mich jedenfalls selbst irgendwie durchschlagen, denn ich brauchte keinen Beschützer, dem ich nicht vertrauen konnte, ich brauchte keinen Seth.


„Fuck! Fuck! Fuck!", dachte ich, während ich mich durchs Gedränge des Dagger kämpfte. Überall um mich herum wimmelte es nur so von schwitzenden Leibern, die sich zum Bass der Musik aufreißend wanden.

Der Nachtclub war ein beliebter Treffpunkt für Vampire, Clanangehörige, Hexen und was sich sonst noch so auf den Straßen rumtrieb. Hier wurde getrunken und gekämpft, und zwar im großen Stil, nicht umsonst war der Laden nach einer Waffe benannt. Oft endete die Nacht mit einer ordentlichen Prügelei, dessen Ausgang nicht selten durch das Auftauchen Serenas entschieden wurde.

Trotzdem wunderte es mich, dass sie keinen Namen wie Sword" oder Excalibur" gewählt hatte, denn das hätte viel mehr ihrem Naturell und Wesen entsprochen. Die weißhaarige Frau war berühmt für ihre Kunst im Umgang mit dem Langschwert „Iced", durch dessen Klinge schon viele ihr Ende gefunden hatten. Als ehemalige Aoife gehörte sie zu den meistgefürchteten Clanangehörigen der Welt, dessen Ruf den Laden besser beschützte, als es hundert Sicherheitsleute hätten tun können. Dennoch kamen mir immer noch Zweifel, wenn ich der zierlichen Gestalt Serenas begegnete, die nicht gerade wie eine gefürchtete Kriegerin aussah. Ihre Augen waren groß und eisig blau, ihre Haare schimmerten in einem reinen Silber, doch es war ihr zierlicher Körperbau, der alle Vorstellungen von einer hochgewachsenen, muskulösen Kämpferin zertörte.

Doch der Schein trog. Das hatte sie mir mehr als einmal bewiesen, und jedes Mal waren wir nur mit knapper Not einem schmerzvollen Tode entkommen. Es war erst vor Kurzem, als ich ihrem gebundenen Gefährten half, sie aus einer brenzligen Situation zu erretten: Die Ungebundenen hatten sich zu einem eigenen Clan zusammengeschlossen und jagt auf die ehemalige Aoifenkriegerin gemacht.

Zu Vipers großem Entsetzen schafften sie es tatsächlich, Serena gefangen zu nehmen und sie in ein Versteck inmitten der Vereinigten Staaten zu verschleppen. Nur durch die Hilfe einiger Bekannter von Nightlight war es uns gelungen, sie unter viel Blutvergießen zurückzugewinnen. Seit diesem Tage waren sie und Viper ein Team.

Dass die beiden keine drei Tage voneinander getrennt verbringen konnten, brachte die Vermutung nahe, sie in diesem Etablissement anzutreffen. Das Dagger war ihrer beider kleines Hobby und wohl ziemlich lukrativ, denn keiner von beiden brauchte sich in irgendeiner Form zurückzuhalten, was die Nutzung von Geldern in Höhe von sechs bis achtstelligen Beträgen anging. Jedoch hatte ich sie noch nie besonders extravagant gesehen. Ganz im Gegenteil, von ihrem Lebensstiel bis hin zu ihrer Kleidung – besondere Veranstaltungen einmal ausgeschlossen – waren sie eher praktisch veranlagt.

Weiterhin vor mich hin fluchend, drängte ich die Menge auseinander und suchte mit den Augen den großen Saal nach den bekannten Gesichtern ab.

Für einen kurzen Moment erblickte ich einen hellen Haarschopf hinter einer Tür mit einem „personal"- Schild verschwinden. Ich änderte sofort die Richtung und steuerte auf die Tür zu, von der ich wusste, dass sie in Wahrheit zu einem geheimen Schlafzimmer führte, das speziell nach Vipers Vorlieben eingerichtet wurde.

Mit einer schnellen Bewegung des Handgelenks schmolz ich die Klinke und das Schloss gleich mit. Ungehindert betrat ich die kleine Treppe, die steil nach oben führte. Am Treppenabsatz machte ich kurz Halt, verwarf meinen Gedanken ans Klopfen jedoch wieder und sprengte regelrecht ins Zimmer.

***

Der Raum auf der andren Seite wurde von einem erschreckend großen Bett dominiert, auf dem sich zwei Leiber in tiefer Leidenschaft umschlungen hielten. Serenas silber-weißes Haar floss wie ein Wasserfall an der Seite des Bettes herab und bedeckte kaum ihre bloße Gestalt.

„Na? Habt ihr beide etwa Spaß, so ganz ohne mich?", hörte ich mich selbst fragen.

„Kannst du nicht anklopfen?", fauchte Viper mich an und versuchte vergeblich Serenas geschmeidigen Körper mit dem seinen zu verdecken.

Diese hatte nur gelangweilt den Kopf nach hinten gelegt und starrte an die Decke.

„Lass es gut sein. Ist ja nicht so, als hätte mich Seth noch nie nackt gesehen." Mit der einen Hand zwirbelte sie eine Haarsträhne um den Finger, die andere wanderte langsam an Vipers Oberschenkel hinauf.

„Und jetzt komm runter, wir waren noch nicht fertig.", lockte sie ihren Gefährten.

„Ich kann nicht, wenn er noch hier ist.", presste Viper hervor.

„Und wie du kannst, Liebling." Mit einem Ruck hatte die unerschütterliche Frau einen der gefürchtetsten Kopfgeldjäger auf sich gezogen und verschränkte demonstrativ die Beine hinter seinem Rücken.

„Er kann ja bleiben, wenn es ihm solch einen Spaß macht zuzuschauen.", stellte sie klar.

„Serena!", zischte Viper.

„Liebling.", schoss sie zurück, was Viper nur die Augen verdrehen ließ. Er konterte sofort, indem er sich kurz über ihr bewegte, was sie stöhnen und vor Wonne die Augen schließen ließ. Alles Darauffolgende bekam ich nicht mehr mit, denn ich hatte den Raum im Eiltempo verlassen, wollte ich doch nicht Zeuge von etwas werden, was mich noch mein ganzes Leben lang heimsuchen würde.

Den eigenen Partner beim Sex mit seiner Gefährtin zu beobachten gehörte nicht gerade zu meinen Hobbys und ich wusste, dass mir Viper im Nachhinein die Hölle heißgemacht hätte.

Und ich konnte ihn verstehen. Wäre es andersherum gewesen, ich hätte ihn in zwei Hälften geteilt und zu Asche verbrannt, bevor er auch nur einen Streifen Haut von meinem Engel zu Gesicht bekam.

Ich begab mich wieder zurück in den großen Saal und bemerkte einmal wieder, wie viel Mühe sich in jedem einzelnen Detail verbarg. Die Wände waren mit vielen verschiedenen Waffen geschmückt: Es gab Säbel, Pistolen, Schwerter, Wurfmesser, Sicheln, alles was das Herz begehrte. Jede einzelne von ihnen war echt und obwohl ich sie selbst mit meinem Feuer an der Wand befestigt hatte, staunte ich nicht schlecht über die Stimmigkeit des Ganzen.

Auch die Decke etwas Besonderes. Faustgroße Haken waren an ihr befestigt, an denen wiederum schwere Eisenketten herabhingen. Am Ende dieser Ketten befanden sich kleine Eissterne, deren blaues Leuchten dem Saal eine düstere Stimmung verlieh. Schwarz und blau, wie passend.

Zum Schluss war da noch die Bar, das Herzstück des Dagger. Sie erstreckte sich über eine komplette Wand und war einige Meter nach vorne gezogen, um der Menge einen genaueren Blick auf die Barkeeper zu ermöglichen.

Nahezu mühelos warfen die Herren hinterm Tresen die Gläser in die Luft und vollführten wahre Farbwunder. Von der weiß-blauen Spezialität des Hauses – ein Original Serenas – bis hin zu kunterbunten Regenbogengetränken, für jeden war etwas dabei.

Doch nicht alle hatten nur Augen für die kleinen Kunstwerke, die in Strömen ihren Weg zu der tanzenden Menge fanden, auch die Barkeeper selbst boten einen mehr als phänomenalen Anblick. Die nackten, bemalten Waschbrettbäuche glänzten im Licht der Eissterne und strahlten wie frisch entstandenes Eis. Serena hatte höchstpersönlich jeden einzelnen von ihnen mit ihrer Magie umhüllt, was sie gleichzeitig beschützte und für gute Stimmung sorgte. So war es nicht verwunderlich, dass die Besucher um die Bar herum fast ausschließlich Frauen waren, die mit ihrem Körper überzeugen wollten.

Hatte einer der bemalten Männer ein Auge auf jemanden aus der Menge geworfen, erwartete diese Person eine Nacht, die sie niemals vergessen würde.

Ich hatte mich gerade an eine der Eissäulen gelehnt, die hier einfach so aus dem Boden wuchsen, da sah ich aus dem Augenwinkel eine bekannte Gestalt auf mich zukommen.



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