159: Gefahr
Schockiert sah ich Loretta nach dieser Offenbarung an. Ich hatte genau auf ihren Herzschlag und ihren Atem gehört, und ich war mir sicher, dass sie nicht gelogen hatte. Eigentlich sollte ich nicht überrascht davon sein, schließlich war es nicht das erste Mal gewesen, dass Christine gelogen hatte, aber damit hätte ich dann doch nicht gerettet.
"Das heißt... Der einzige Grund, warum ich nie reden durfte... war meine Mutter selbst?", fragte Aubrey leise und ich griff automatisch sanft nach ihrer Hand. Es musste schlimm für sie sein, das jetzt, nach so langer Zeit, herauszufinden. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie sie sich jetzt fühlen musste. Ihre Großmutter nickte auf ihre Frage hin nur leicht.
"Aber...", murmelte Aubrey wieder leise. "Wieso hat sie mir dann diese Geschichte erzählt? Wieso hat sie mir nicht erlaubt, meine Stimme zurückzubekommen? Wieso ist sie so durchgedreht, als sie erfahren hat, dass ich meine Stimme wiederhabe? Sie hat sich so verhalten, als hätte sie wirklich nur Angst vor unserem Zirkel."
"Weißt du, Aubrey, deine Mutter war immer schon... anders. Wenn sie sich mit anderen Kindern beim Spielen eine Geschichte ausgedacht hat, hat sie noch Wochen später daran festgehalten und behauptet, das wäre alles wirklich passiert. Ich denke, dass das mit dir wieder passiert ist. Sie hat dir erzählt, dass das alles unsere Schuld war, bis sie es selbst geglaubt hat. Und über die Jahre, in denen du nicht reden konntest, hat sie sich vermutlich eingeredet, dass du ein normales Mädchen bist, eine gewöhnliche Hexe, die nur leider nicht zaubern kann, weil ihr die Stimme fehlt. Das ist nun mal ihre Art. Sie hat wahrscheinlich selbst irgendwann geglaubt, was sie laut ihrer Geschichte uns glauben machen wollte. Und als du deine Stimme wiederbekommen hast, ist ihr wieder klar geworden, was damals wirklich passiert ist und ist anscheinend durchgedreht. Sie kann nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Lügen unterscheiden. Sie weiß nicht mehr, was real ist. Und das macht sie auch so gefährlich."
"Phil?", wandte Aubrey sich leise an mich. "Können wir gehen? Ich glaube, ich muss das alles erst einmal verarbeiten."
"Ja, das wird wohl das Beste sein.", stimmte ich ihr zu und stand mit ihr auf.
Sofort erhob sich auch Loretta und ging um den Tisch herum näher zu uns. Sanft griff sie nach der Hand ihrer Enkelin und drückte sie leicht. "Pass auf dich auf, Aubrey. Ihr beide. Ich habe das Gefühl, dass ihr in großer Gefahr schwebt. Das Schlimmste kommt erst noch auf euch zu. Und ich glaube, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis es passiert."
Aubrey nickte nur überfordert. Sie kam mit dieser ganzen Situation wohl nicht wirklich klar. Selbstverständlich nicht, schließlich hatte sie gerade erfahren, dass wirklich alles in ihrem Leben nur eine große Lüge war und ihre Mutter psychisch gestört.
"Wir werden auf uns aufpassen.", flüsterte ich leise und drückte Aubreys Hand leicht, bevor ich mit ihr nach draußen ging. Ich hoffte nur, dass Christine uns trotz aller Wahrscheinlichkeiten in Ruhe lassen würde. Aubrey hatte erst mal genug Drama in ihrem Leben gehabt.
Nur kurze Zeit später saßen wir beide im Auto und fuhren wieder in Richtung Mystic Falls. Aubrey neben mir sah nur wie betäubt aus dem Fenster, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass sie wirklich etwas dort draußen sah. Sie sah so in sich gekehrt aus, ganz in ihrer eigenen Welt. Ich hatte keine Ahnung, wie sie sich gerade fühlen musste. Verzweifelt überlegte ich, wie ich sie jetzt irgendwie aufmuntern konnte. Aber ich hatte das Gefühl, dass es dieses Mal nicht reichen würde, wenn wir einfach nur die Musik anmachten und ein bisschen sangen. Dafür war Aubrey gerade einfach zu schockiert.
"Wie geht es dir?", fragte ich sie leise, auch wenn ich wusste, dass die Frage überflüssig war. Selbstverständlich ging es ihr nicht gut. Immerhin hatte sie gerade erfahren, dass ihre Mutter wissentlich ihr Leben ruiniert hatte, nur weil sie geisteskrank war. Das war vermutlich auch der Grund, warum Aubrey mir nicht antwortete, sondern nur weiter aus dem Fenster starrte.
Also sah ich wortlos wieder auf die Straße und konzentrierte mich darauf. Ich würde gerne ihre Hand halten, um sie zu trösten, aber ich wusste, dass das gerade nicht der richtige Augenblick war. Wir fuhren gerade durch Mystic Falls, als mir plötzlich schlagartig klar wurde, wieso mir diese Situation so bekannt vorkam. Das alles hatte ich schon einmal gesehen. Ich hatte es schon miterlebt. Damals war es zwar nicht real gewesen, aber ich hatte es die leeren blauen Augen von Aubrey noch nicht vergessen, die mich angesehen hatten, während ihre verzerrte Stimme leise zugeflüstert hatte, dass ich sie retten wolle. Das war der schlimmste Albtraum gewesen, den ich in der letzten Zeit gehabt hatte, und im Moment sah alles so aus, als ob er genau in Erfüllung gehen würde. Ich wusste nicht mehr genau, was in diesem Auto in meinem Traum passiert war, aber ich wusste, dass es an genau der Kreuzung geschehen war, auf die wir gerade zufuhren.
Von diesem Moment an ging alles ganz schnell, aber ich hatte dennoch das Gefühl, dass die Zeit kaum verstrich. Ich überlegte sofort, ob ich es mit einer Vollbremsung noch schaffen würde, anzuhalten, bevor irgendetwas passieren konnte, kam jedoch zu dem Ergebnis, dass das einfach unmöglich war. Wenn ich jetzt bremsen würde, würde ich frühestens direkt auf der Kreuzung zu stehen kommen und das wollte ich um jeden Preis vermeiden. Ein Bruchteil einer Sekunde verstrich, bevor ich Aubrey hektisch dazu aufforderte, sich festzuhalten. Sie zuckte bei meinem plötzlichen Ruf zusammen, als hätte ich sie damit erst in die Wirklichkeit zurückgeholt, tat dann aber sofort, was ich sagte. Ich umklammerte das Lenkrad fest und tat dann das einzige, was mir einfiel: Ich fuhr schneller. Wahrscheinlich war das einfach nur verrückt, aber ich wusste, wenn ich ganz normal weiter fahren würde, würde uns gleich irgendetwas von der Seite treffen. Und Aubrey würde vermutlich dabei sterben oder zumindest sehr schwer verletzt werden. Und da ich auch nicht mehr bremsen konnte, blieb mir nichts anderes übrig als schneller zu fahren und zu hoffen, dass was auch immer uns treffen würde nur den hinteren Teil des Autos erwischte.
"Was tust du da?", fragte Aubrey mich ängstlich, während wir auf die Kreuzung fuhren. Ich drehte meinen Kopf zu ihr und sah durch das Fenster hinter ihr wie in Zeitlupe ein Auto auf uns zukommen. Ich sah, wie es immer näher kam, bis ich in das Gesicht des Fahrers sehen konnte. Oder besser gesagt, der Fahrerin. Und so war das vor Wut verzerrte Gesicht von Christine das letzte, was ich sah, bevor ich nur noch den Aufprall spürte, bei dem sich mein Nacken schmerzhaft verrenkte, und ich starb.
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