157: Loretta

Unsicher musterte Aubrey die Tür und sah dann zu mir, als wir vor dem kleinen Haus standen.

"Denkst du wirklich, dass das hier eine gute Idee ist?", fragte sie mich leise und ich lächelte sie sanft an.

"Nein. Eine gute Idee ist das hier sicher nicht. Es ist gefährlich. Aber es ist trotzdem notwendig, das verstehe ich. Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendetwas passiert, das verspreche ich dir. Wenn du aber nicht mehr willst, musst du nur ein Wort sagen, dann steigen wir wieder ins Auto und wir fahren zurück. Es ist deine Entscheidung und ich werde dich unterstützten, egal, wie du dich entscheidest."

Sie atmete einmal tief durch, um sich zu beruhigen und nickte dann leicht. "Okay, du hast recht. Es ist notwendig, ich werde mich nicht eher entspannen können, bis ich weiß, dass Mom in Sicherheit ist. Danke, Phil. Gehen wir rein."

Aubrey streckte schon ihre Hand nach der Türklinke aus, aber ich hielt sie zurück. "Warte. Es ist das Beste, wenn du erst mal nur mich reden lässt, in Ordnung? Vielleicht ist das wirklich deine Familie, aber sie denken immer noch, dass du nur nicht zaubern kannst, weil du stumm bist. Und das sollten sie dann auch am besten weiterhin denken, oder?"

Als Antwort nickte sie nur wieder leicht und ich streckte nun selbst meine Hand nach der Türklinke aus. Sobald ich sie jedoch berühren konnte, schwang die Tür von sich aus nach innen, erstaunlicherweise sogar ohne ein Geräusch von sich zu geben. Ich tauschte einen überraschten Blick mit Aubrey, bevor ich aus dem Innneren die Stimme einer alten Frau hören konnte.

"Aubrey, Phelipe. Kommt doch rein, ich habe euch schon erwartet!"

Beunruhigt sah ich ins Innere des Hauses, konnte aber selbst mit meinen Vampirsinnen nur Dunkelheit erkennen. Diese Hexe hatte uns erwartet, das war gar kein gutes Zeichen. Aber ich versuchte trotzdem, das Ganze positiv zu sehen. Immerhin mussten wir uns jetzt keine Gedanken mehr darum machen, ob wir überhaupt ins Haus konnten, ohne eingeladen zu sein.

Sanft drückte ich Aubreys Hand und schritt dann mit ihr über die Türschwelle. Sobald ich im Inneren war, schlug mir der Duft von allen möglichen Kräutern entgegen und ich bemerkte sofort die vielen Kerzen überall, die ein warmes Licht verbreiteten. Anscheinend hatte diese Hexe hier einen Zauber über ihren Laden gesprochen, der verhinderte, dass all diese Eindrücke auch von außen wahrzunehmen waren. Mein Blick wanderte weiter durch den Raum, über volle Regale mit Kräutern und Pflanzen aller Art bis hin zu einem kleinen Tisch am anderen Ende des Raumes. Eine Art Schreibtisch, aus dunklem Holz gefertigt, und hinter ihm saß eine alte Frau auf einem altmodischen Sessel. Sie sah auf den ersten Blick gar nicht so gefährlich aus mit ihrer rosafarbenen Blümchen-Bluse und ihren vielen Ketten, aber ich wusste, dass der erste Eindruck immer täuschen konnte.

"Kommt doch näher, keine Angst.", meinte sie mit einem Lächeln und deutete auf zwei klapprige Stühle vor ihrem Tisch. "Setzt euch doch."

Ihre Stimme klang merkwürdig rau, aber dennoch nicht sehr unangenehm. Trotzdem lief mir ein Schauer über den Rücken, als sie mit uns sprach. Sie klang so freundlich, beinahe so, als hätte sie keine Hintergedanken, dabei wusste ich, dass das höchstwahrscheinlich nicht der Fall war. Langsam ging ich mit Aubrey auf die beiden Stühle zu und setzte mich. Ich wollte sie nicht jetzt schon unnötig reizen. Erst einmal mussten wir wissen, wo Christine war und wieso diese Frau überhaupt wusste, dass wir kommen würden. Wobei die zweite Frage eindeutig weniger auffällig sein würde.

"Woher wussten Sie, dass wir kommen würden?", fragte ich sie also leise und musterte sie dabei aus der Nähe. Sie hatte kein unfreundliches Gesicht, eher sah sie aus wie die liebe, nette, Kuchen backende Oma, die nur das Beste wollte. Es irritierte mich, dass sie eine positive Ausstrahlung hatte. Waren wir vielleicht doch bei der falschen Hexe und sie war gar nicht mit Aubrey verwandt? Diesen Gedanken verwarf ich allerdings schnell wieder. Wenn ich sie mir ansah, blickte ich direkt in die gleichen blauen Augen wie die von Aubrey. Sie sahen sich ähnlich, das konnte man nicht leugnen. Wir sprachen definitiv mit einer von Aubreys Verwandten. Nur dass sie ganz anders war als ich sie mir vorgestellt hatte.

"Ich bin eine Hexe.", antwortete sie ganz offen. Sie wusste offenbar schon, dass wir auch nicht normal waren. Aber das überraschte mich jetzt auch nicht mehr. "Und glücklicherweise habe ich die besondere Gabe, immer wieder kleine Ausschnitte aus der Zukunft sehen zu können. Ich weiß, wer ihr seid, und ich weiß, was ihr seid. Ich habe euch beide schon erwartet."

Aufmerksam beobachtete ich sie, um bereit zu sein, falls sie uns plötzlich angreifen sollte, doch sie rührte sich nicht. Sie blieb nur ruhig in ihrem Sessel sitzen und musterte Aubrey. Sie schien wirklich sehr fasziniert von ihr zu sein und ich bemerkte, wie Aubrey unter ihrem Blick nervös mit ihren Fingern spielte. Mir gefiel diese Musterung genauso wenig wie ihr. Diese Frau hatte kein Recht, Aubrey so anzusehen, nicht nach allem, was sie getan hatte. Wegen ihr konnte Aubrey schließlich keine friedliche Kindheit haben und musste sich ihr Leben lang verstecken.

"Ich bin wirklich froh, dich endlich einmal wiederzusehen, Aubrey. Wo warst du nur in den letzten Jahren so lange?", lächelte sie leicht und ich spannte mich sofort an. Wollte sie Aubrey damit zum Reden bringen, und sie so enttarnen? Oder hatte sie wirklich Interesse an Aubreys Leben? Mein Instinkt sagte mir, dass das Zweite der Fall war, aber mein Verstand schrie mich an, dass ich nicht so naiv sein sollte.

"Sie haben sich noch gar nicht vorgestellt.", meinte ich also schnell, um sie abzulenken. Irgendetwas an dieser ganzen Situation stimmte nicht. Irgendetwas übersah ich doch. Diese Frau war viel zu freundlich.

"Oh, entschuldigt, meine Lieben. Das habe ich bei der ganzen Aufregung wohl ganz vergessen.", entschuldigte sie sich und ich sah sie nachdenklich an. Wieso wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie gar nichts Böses plante? "Mein Name ist Loretta. Ich bin deine Großmutter, Aubrey, und ich bin wirklich unglaublich, erleichtert, dich wohlauf zu sehen. Aber jetzt erzähl mir bitte... Was hat Christine in den letzten Jahren mit dir gemacht?"

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top