152: Bedrohungen

Langsam ging ich wieder zurück nach Hause, ohne wirklich auf den Weg vor mir zu achten. Ich war noch ganz in Gedanken versunken, als ich dort ankam und so ging ich direkt in mein Zimmer. Langsam kamen mir Zweifel an der ganzen Geschichte. Ich glaubte Phil natürlich immer noch, dass alles genau so geschehen war, wie er es mir erzählt hatte, aber die ganze Hintergrundgeschichte ergab keinen Sinn.

Wieso hätte Christine ihrer eigenen Tochter die Stimme nehmen sollen? Ja, es wurde von einigen Hexen nicht gerne gesehen, wenn ein Mitglied aus einer Hexenfamilie keine magischen Fähigkeiten hatte, aber ich hatte noch nie von einem Zirkel gehört, der diese Menschen gleich umbrachte. Und damit hörte es ja auch noch nicht auf. Angeblich töteten sie nicht nur die menschlichen Mitglieder ihres Zirkels, sondern auch jeden, der sie schützen wollte. Das ergab doch keinen Sinn. Welcher Zirkel tötete denn seine eigenen Hexen? Mütter, die nur ihre Kinder beschützen wollte?

Das Wichtigste für Hexen war immer noch die Natur. Sie alle hatten sich vor Jahrhunderten dazu verpflichtet, immer das Gleichgewicht der Natur zu achten. Und es gab nur eines, was die Natur mehr aus dem Gleichgewicht brachte als alles andere, und das war der Mord an einer unschuldigen Hexe. Wenn Hexen untereinander sich umbrachten und ganze Familien ausrotteten, dann hatte das immer Konsequenzen. Die Töchter der Natur hätten niemals zugelassen, dass so etwas öfter als einmal vorkommt. Und spätestens jetzt, wo ich selbst die Hüterin des Gleichgewicht der Natur war, hätte ich davon zumindest hören müssen. Aber die Erzählung von Phil war das erste Mal gewesen, dass ich von einem solchen Zirkel gehört hatte. Irgendetwas stimmte an der ganzen Geschichte nicht, das spürte ich. Das, was Phil und Aubrey für die Wahrheit hielten, konnte auf keinen Fall schon alles sein. Dafür gab es zu viele ungeklärte Fragen. Aber es gab nur eine einzige Person, die mir diese Fragen auch beantworten konnte. Und die war leider gerade auf mysteriöse Art und Weise verschwunden. Oder sie war einfach nur ausgezogen, wer wusste das schon.

Nachdenklich setzte ich mich in meinem Zimmer auf mein Bett und holte entschlossen einige Sachen für einen Lokalisierungszauber vor. Es würde schwer werden, Christine zu finden ohne einen persönlichen Gegenstand von ihr oder irgendeinen Anhaltspunkt, aber ich wollte Aubrey auch nicht um Hilfe bitten. Sie könnte mir zwar mit ihrem Blut helfen, aber ich wollte sie auch nicht unnötig in Gefahr bringen. Ich wollte mit Christine reden, alleine, und das würde ich auch schaffen.

Also legte ich die Karte vor mich und konzentrierte mich mit aller Kraft auf Christine und alles, was ich über sie wusste, während ich anfing, den Zauber zu sprechen. Es war wirklich extrem anstrengend und zerrte an meinen Kräften. Immer und immer weiter sprach ich den Zauber, aber ich hatte nicht das Gefühl, auch nur irgendetwas zu erreichen. Es war, als ob ich mich nur im Kreis drehte. Irgendwann gab ich es erschöpft auf. Ich konnte sie nicht finden. Es war unmöglich. Ich hatte das Gefühl, dass sie überall gleichzeitig war, aber nirgendwo wirklich. Und das konnte nur zwei Gründe haben: Entweder sie hatte einen überaus mächtigen Zauber gesprochen, der sie vor meinem Lokalisierungszauber verbarg, oder sie war gestorben. Und keiner dieser Gründe bedeutete wirklich etwas Positives für uns.

Wenn sie tatsächlich einen so wirksamen Zauber gesprochen hatte, dann zeigte das automatisch, dass sie viel stärker war als ich gedacht hatte. Sie wäre extrem stark und mächtig und ich hätte sie jahrelang unterschätzt. Vor Kurzem hätte ich diese Idee noch für absurd gehalten, aber mittlerweile war ich mir da nicht mehr so sicher. Christine hatte mich ganz offensichtlich schon oft getäuscht. Es könnte durchaus sein, dass sie mehr Macht hatte, als sie bisher vorgegeben hatte. Schließlich war es auch sicher kein einfacher Zauber gewesen, Aubrey ihre Stimme zu nehmen. Und wenn Christine sich nun vor uns versteckte, dann machte ich mir nicht nur Sorgen, weil sie es überhaupt konnte, sondern fragte mich gleichzeitig auch, warum sie das tat. Sie wollte offenbar nicht mit mir reden. Das wollte sie mit keinem von uns. Aber ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass das nur daran lag, dass sie sich für ihr Verhalten schämte. Nach dem, was Phil mir von ihr erzählt hatte, passte das nicht wirklich zu ihr. Das wiederum würde allerdings bedeuten, dass sie sich aus einem anderen Grund versteckte. Sie brauchte Zeit und konnte dabei nicht gestört werden. Sie plante irgendetwas und das war gar nicht gut.

Da klang die Alternative auf den ersten Blick doch deutlich besser. Wenn sie tot war, könnte sie auch nichts planen und sie wäre definitiv keine Gefahr mehr für Aubrey. Aber wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, hätten wir dafür ein ganz anderes Problem. Wenn Christine tot war, müssten wir uns automatisch auch fragen, wer sie getötet hatte. Denn es war alles andere als wahrscheinlich, dass sie sich selbst aus Schuldgefühlen umgebracht hatte. Das passte nicht mal zu der Christine, die ich kannte. Es könnte höchstens ein Unfall gewesen sein. Aber wenn es kein Unfall war, dann bedeutete das, dass sie ermordet wurde. Und dafür kamen unseres Wissens nach nicht sehr viele in Verdacht. Es wäre gut möglich, dass Christines alter Zirkel sie gefunden und getötet hatte. In dem Fall hätte ich vermutlich nicht einmal eine Veränderung im Gleichgewicht der Natur gespürt. Schließlich hatte sie das Leben ihrer Tochter so ruiniert, dass sie den Tod verdient hatte. Zumindest in den Augen von der Natur. Es könnte demnach also gut sein, dass diese Hexen sie gefunden haben, und das mit ihr getan haben, was sie angeblich mit allen tun, die nichtmagische Kinder von Hexen beschützen. In dem Fall wäre nicht nur Christine tot, sondern auch wir alle in großer Gefahr.

Was auch immer der Grund war, wieso ich Christine nicht lokalisieren konnte, es war auf keinen Fall ein gutes Zeichen. Denn egal, ob es jetzt Christine selbst war mit einer so starken Macht oder ein verrückter Hexenzirkel: Es war überaus wahrscheinlich, dass wir schon bald mit der nächsten Bedrohung konfrontiert sein würden. Und das war wirklich alles andere als gut.

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