151: Getäuscht?

Marys P.o.V.

Es dauerte nicht lange, da stand ich nervös vor Christines Wohnung. Wenn sie nicht mit mir reden wollte, musste ich eben selbst kommen und sie dazu zu zwingen. Egal, ob sie das nun wollte oder nicht. Vielleicht würde sie ja auch vor mir wegrennen, damit ich sie nicht zur Rede stellen konnte. Vielleicht würde sie mich angreifen. Nach dem, was Phil mir erzählt hatte, war das durchaus möglich. Ich hatte das Gefühl, dass ich sie gar nicht wirklich kannte. Aber das war nicht der Grund, wieso ich so nervös war. Auch wenn Phil versucht hatte, mich zu überreden, nicht zu ihr zu gehen, glaubte ich nicht, dass das für irgendjemanden eine Gefahr sein würde.

Christine würde nicht plötzlich Aubrey angreifen, nur weil ich mit ihr geredet hatte.  Das war absurd. Schließlich wusste sie auch genau, wie mächtig wir Mikaelsons waren und solange Aubrey bei uns wohnte und unter unserem Schutz stand, war es reiner Selbstmord, zu versuchen, sie umzubringen. Niemand, der noch ganz klar bei Verstand war, würde das versuchen. Und sie würde auch mich nicht angreifen. Sie wusste schließlich ganz genau, wie mächtig ich war. Ich war viel stärker als sie und wirklich alles andere als in Gefahr.

Und trotzdem war ich nervös. Ich hatte Angst. Und zwar nicht vor Christine, sondern davor, wie sie sein würde, wenn sie erfuhr, dass ich nun die Wahrheit kannte. Sie war eine gute Freundin gewesen und nun hatte ich keine Ahnung, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte. Phil hatte mir gerade so viel Schlechtes über sie erzählt und ich glaubte ihm jedes einzelne Wort davon. Aber ich konnte mir dennoch nur kaum vorstellen, dass ich mich tatsächlich so in ihr getäuscht haben könnte. Irgendwann hätte ich es doch merken müssen, dass sie nicht so eine liebevolle Mutter ist wie ich dachte. Ich glaubte meinem Sohn alles, was er mir erzählt hatte und trotzdem redete eine kleine Stimme in meinem Kopf mir ein, dass Christine mir dann doch irgendwann mal von ihrer Situation erzählt hätte. Sie könnte es doch unmöglich so lange vor mir geheim gehalten haben, dass sie aus einem so grausamen Zirkel kommt. Wir waren doch befreundet. Ich kannte sie. Zumindest hatte ich das gedacht. Konnte ich mich wirklich so in ihr getäuscht haben?

Allerdings war ich mir im Moment auch bei gar nichts mehr wirklich sicher. Vielleicht kannte ich Christine ja auch gar nicht. Vielleicht hatte ich sie nie wirklich gekannt. Schließlich war es nicht nur Jahre her, dass ich Kontakt zu ihr hatte, ich hatte auch vor meinem Tod nie sehr viel mit ihr zu tun gehabt. Ich habe sie zwar zu meinen Freunden gezählt, aber wir haben auch nie über unsere Vergangenheit und unsere Familien gesprochen. Mir war das damals nur allzu recht gewesen, schließlich wusste zu der Zeit niemand aus meiner Familiem, dass Phil und ich überhaupt noch lebten, und so hatte ich Christine nie dazu gedrängt, über ihre Familie zu reden. Zu groß wäre die Gefahr gewesen, dass sie mich auch nach meiner fragen könnte. Eigentlich wusste ich so gut wie gar nichts über sie und ihre Vergangenheit. Das einzige, was sie mir je von ihrem Zirkel erzählt hatte, war, dass sie einen Streit mit ihren Eltern hatte und sie keinen Kontakt mehr zueinander hatten. Ich hatte nie weiter nachgefragt, aber jetzt fragte ich mich, ob es einen Unterschied gemacht hätte, wenn ich es doch getan hätte. Hätte ich gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte? Hätte ich gemerkt, dass sie mir etwas verschwieg? Hätte ich Aubrey schon damals helfen können, wenn ich nur ein wenig aufmerksamer gewesen wäre?

Aber mir diese Fragen zu stellen half mir jetzt auch nicht weiter. Ich konnte die Vergangenheit nicht ändern, also brachte es auch nichts, darüber nachzudenken, was passiert wäre, wenn ich mich nur ein wenig anders verhalten hätte. Leise seufzte ich auf und klingelte dann an der Tür. Ich wartete ein paar Sekunden und lauschte dann. Aus ihrer Wohnung kam kein einziges Geräusch, ich konnte nicht einmal einen Herzschlag hören. Christine war also anscheinend gerade nicht zu Hause. Doch das bedeutete noch lange nicht, dass ich deswegen gleich aufgeben würde. Irgendwann würde sie ja wohl wieder zurückkommen, daher würde ich einfach hier auf sie warten. Da ich aber keine große Lust hatte, vielleicht sogar mehrere Stunden vor ihrer Wohnung zu warten, holte ich den Zweitschlüssel heraus, den sie immer unter einer kleinen Blumenvase vor der Tür versteckte. Langsam drehte ich den Schlüssel im Schloss herum und öffnete die Tür. Leise trat ich ein und zog die Tür hinter mir wieder zu, bevor ich mich überrascht in ihrer Wohnung umsah.

Nichts war mehr so, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich sah keine Jacken oder Schuhe von Christine und als ich weiter ins Wohnzimmer ging, fiel mein Blick zuerst auf die kahlen, weißen Wände. Alle Fotos waren abgenommen worden, nur die Möbel zurückgelassen. Das Sofa sah irgendwie fehl am Platze aus, wie es beinahe allein mitten im Raum stand. Obwohl offensichtlich war, dass niemand mehr hier wohnte, ging ich weiter durch die Räume. In der Küche war kaum etwas verändert worden, aber als ich Christines altes Schlafzimmer betrat, fiel mir sofort auf, dass die Türen von ihrem Kleiderschrank offen standen, im Schrank selbst aber nichts mehr zu finden war. Als letztes betrat ich das Zimmer von Aubrey, wenn auch erst nach kurzem Zögern. Es war wirklich winzig und hatte gerade mal Platz für eine Person. Aber auch hier zeigte nichts mehr, dass hier bis vor Kurzem noch jemand gewohnt hatte. Es stand nur noch ein schmales Bett und ein kleiner Schrank in dem ansonsten kahlen Zimmer. Generell erinnerte es mehr an eine Abstellkammer als an ein Schlafzimmer. Ich seufzte leise und verließ die Wohnung wieder. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was diese Entdeckung jetzt bedeutete. Aber ich konnte auch nicht die Augen davor verschließen. Christine war nicht mehr da und sie würde wohl auch nicht wieder hierherkommen, so wie es aussah. Das war zwar gut, aber es hatte auch einen riesengroßen Nachteil: Wir hatten keine Ahnung, wo sie jetzt gerade war.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top