149: Wunderschön

Als ich an diesem Morgen nach unten kam, saß Aubrey bereits am Küchentisch und aß etwas. Sobald ich das Zimmer betrat, sah sie zu mir auf und ich bemerkte sofort ihre geröteten Augen. Anscheinend hatte sie schon wieder geweint. Ich hasste es, dass sie so leiden musste.

"Guten Morgen, Phil.", flüsterte sie leise und sah danach direkt wieder auf ihr Essen, um meinem Blick auszuweichen.

"Guten Morgen.", antwortete ich leise und setzte mich neben sie. Besorgt sah ich sie aus den Augenwinkeln an. "Wie geht es dir?", fragte ich, auch wenn die Frage eigentlich überflüssig war. Ihr ging es ganz offensichtlich nicht gut, aber ich wollte ihr selbst die Entscheidung überlassen, ob sie mit mir darüber reden wollte oder nicht.

"Ich denke, das weißt du. Ich will endlich mal wieder nicht ständig an Mom denken müssen. Aber sie ist irgendwie immer in meinen Gedanken. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch so aushalten soll.", flüsterte sie und ich sah sie mitleidig an. Ich konnte mir wahrscheinlich nicht einmal annähernd vorstellen, wie sie sich gerade fühlen musste. Aber vielleicht könnte ich ihr ja auch helfen.

"Weißt du was? Heute solltest du keinen einzigen Gedanken mehr daran verschwenden.", meinte ich und grinste sie leicht an. Die einzige Reaktion, die ich aber daraufhin erhielt, war ein müdes Lächeln. Sie glaubte wohl nicht wirklich, dass ich dafür sorgen könnte. Kein Wunder, in den letzten zwei Wochen hatte ich es ja nicht geschafft. Aber jetzt hatte ich eine Idee.

"Glaub mir, ich werde dafür sorgen, dass du nicht mehr an sie denken musst. Ich werde es schon schaffen, dich genug abzulenken.", fügte ich zuversichtlich hinzu.

"Also gut. Mir ist alles recht, was mich ablenkt. Und was hast du dir vorgestellt?", fragte sie mich, jetzt doch ein wenig neugierig geworden.

"Lass dich überraschen.", grinste ich nur leicht und sah auf ihr Essen. "Bist du fertig?"

Auf ihr unsicheres Nicken hin nahm ich ihre Hand und zog sie mit nach draußen.

"Wo gehen wir hin?", fragte sie mich noch einmal neugierig, aber ich grinste nur leicht und zog sie weiter.

Erst als wir das Haus verlassen hatten und einige Meter in den Wald gelaufen waren, blieb ich mit ihr stehen und sah sie lächelnd an. "Wir sind da.", verkündete ich und sie sah sich überrascht um.

"Was? Ehrlich? Aber hier ist doch nichts. Von Bäumen mal abgesehen. Wie soll mich das ablenken?", fragte sie mich skeptisch.

"Auf den ersten Blick gibt es hier nur Bäume, ja. Aber du bist jetzt seit Wochen ein Vampir und hast noch nie wirklich erfahren dürfen, was das bedeutet. Von den verstärkten Emotionen mal abgesehen. Also zeige ich dir, was du überhaupt neuerdings alles kannst.", grinste ich leicht und sah sie unsicher an. "Es sei denn, du willst das gar nicht..."

"Doch, natürlich will ich das!", rief sie sofort und lächelte mich schwach an, bevor sie sich wieder hier umsah. "Aber warum müssen wir dafür mitten im Nichts sein?"

"Das wirst du gleich schon merken. Das hier ist alles andere als nichts. Du bemerkst es nur im Moment noch nicht. Schließe die Augen.", fordere ich sie leise auf.

"Wieso?", wollte sie wissen und ich schüttelte nur lächelnd den Kopf.

"Du solltest nicht immer alles hinterfragen. Vertraust du mir etwa nicht?", fragte ich leicht grinsend. Mein Lächeln verging aber sofort wieder, als mir die Bedeutung dieser Frage bewusst wurde. Ich wollte gerade etwas sagen, um von der Frage abzulenken, als sie wortlos ihre Augen schloss. Sie vertraute mir anscheinend doch. Das machte mich viel glücklicher als es wahrscheinlich sollte. Ich riss mich aber nach ein paar Sekunden wieder zusammen und konzentrierte mich auf Aubrey. "Hör genau hin.", flüsterte ich leise. "Es fällt leichter, es zu hören, wenn du es nicht siehst. Der Wald besteht aus viel mehr als nur aus Bäumen. Er ist voller Leben."

Sie blieb ganz still und ich beobachtete, wie sich langsam ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.

"Was hörst du?", fragte ich sie leise.

"Alles. Das ist unglaublich. Die Gesänge der Vögel, das Rascheln von Laub... Den Herzschlag des Tieres ein paar Meter neben uns.", antwortete sie flüsternd und ich sah sie lächelnd an.

"Das ist ein Reh. Es würde sofort wegrennen, wenn wir uns bewegen, also bleib ganz still stehen.", erzählte ich ihr flüsternd. Ich wusste nicht genau, warum ich das gesagt hatte. Aber ich wollte einfach irgendetwas sagen.

"Woher weißt du, dass es kein anderes Tier ist? Kannst du es sehen?", murmelte Aubrey glücklicherweise interessiert.

"Nein. Aber dein Gehör ist nur einer deiner Sinne. Du kannst es auch riechen, wenn du dich konzentrierst. Irgendwann kannst du daran sogar erkennen, wie groß es ist oder in welche Richtung es sieht.", erklärte ich leise und plötzlich riss sie ihre Augen auf.

"Ich habe noch etwas gehört. Ist hier in der Nähe etwa ein Fluss?", fragte sie und sah dabei so glücklich aus wie schon lange nicht mehr, was mir augenblicklich ein Lächeln entlockte.

"Ja, ein Fluss ist hier auch. Das, was du da gerade gehört hast, war aber genau genommen nicht der Fluss selbst, sondern der Wasserfall.", erklärte ich.

"Wasserfall?", wiederholte sie mit großen Augen. "Ein richtiger Wasserfall? Hier mitten im Wald?"

"Ja, natürlich. Wo denn sonst?", lachte ich leise und griff dann nach ihrer Hand. "Komm, ich führe dich dahin. Lauf einfach neben mir her.", forderte ich sie auf und lief dann mit Vampirspeed los. Sie brauchte erst ein paar Sekunden, hatte sich dann aber schnell an die Geschwindigkeit gewöhnt. Mit zerzausten Haaren kamen wir irgendwann an und ich setzte mich mit ihr auf einen durch die Sonne erwärmten Stein. Glücklich lächelnd sah Aubrey zu dem fließenden Wasser. Ich musste zugeben, es war ein wirklich beeindruckender Anblick, aber ich konnte meine Augen nicht von Aubrey nehmen.

"Das ist wunderschön. Danke.", flüsterte sie leise und lehnte sich dann gegen mich, bevor sie den Kopf auf meiner Schulter ablegte. Glücklich legte ich einen Arm um sie und drückte sie sanft an mich.

"Gerne doch. Es ist wirklich wunderschön.", antwortete ich leise, sah aber dabei die ganze Zeit nur Aubrey an. Wunderschön. Ja, das war es wirklich.

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