146: Schuld

"Möchtest du irgendetwas machen?", fragte ich Aubrey unsicher. "Einen Film sehen oder so etwas?" Wenn ihr die Ablenkung gut tat, dann wäre das zumindest eine mögliche Lösung. Vorübergehend jedenfalls. Doch sie schüttelte als Antwort nur ihren Kopf und setzte sich auf ihr Bett, ohne mir in die Augen zu sehen.

"Soll ich dich lieber alleine lassen?", fragte ich also leise. Ich wusste einfach nicht, wie ich mich verhalten sollte. Sie hatte gerade etwas sehr Traumatisches erlebt. Es war verständlich, dass sie nicht so einfach damit klar kam, dass sie gerade vor ihrer eigenen Mutter hatte fliehen müssen. Vielleicht wollte sie ja jetzt einfach alleine sein und ich nervte sie mit meinen Fragen nur. Und wenn ich nur eine Sache nicht wollte, dann war es, sie zu nerven. Ich wollte sie nicht stören. Ich wollte doch nur das Beste für sie. Wenn ich doch nur wüsste, was genau das war...

Statt jedoch auf meine Frage zu antworten, sah sie weiter auf den hellen Teppich auf ihrem Fußboden. "Ich sehe sie.", flüsterte sie irgendwann leise. "Ich sehe sie vor mir, wie wütend sie war. Wie sie mich angeschrien hat. Ich sehe es immer und immer wieder. Es hört einfach nicht auf. Wieso hört es nicht auf, Phil? Wieso kann sie nicht einfach damit aufhören?"

Unsicher musterte ich Aubrey und setzte mich dann zu ihr aufs Bett. "Es wird aufhören. Irgendwann.", versuchte ich, sie aufzumuntern. Leider hatte ich das Gefühl, dass mir das nicht sehr gut gelang.

"Und wann? Vielleicht war es ein Fehler, einfach zu gehen. Sie ist doch auch in Gefahr. Es war egoistisch von mir. Kein Wunder, dass sie wütend ist."

"Ein Fehler? Wenn es eines nicht war, dann ein Fehler. Du hast deine Mutter dein ganzes Leben lang unterstützt. Es ist Zeit, dass du auch einmal an dich denkst. Das ist nicht egoistisch, das ist vollkommen verständlich. Normal. Wer weiß, was passiert wäre, wenn du bei ihr geblieben wärst. Christine hat kein Recht, wütend auf dich zu sein. Eher solltest du wütend auf sie sein. Ich weiß zwar nicht, was genau gerade passiert ist, aber sie hat sich definitv nicht so verhalten, wie es eine gute Mutter hätte tun sollen. Sie hat kein Verständnis für dich, aber das ist ihr Problem und nicht deines. Du solltest dir von ihr nicht einreden lassen, dass du schuld an irgendetwas bist. Es waren Christines Entscheidungen, die euch in dieses Situation gebracht haben, und nicht deine. Du solltest dir nicht die Schuld für etwas geben, was du nicht zu verantworten hast."

"Aber genau das ist doch das Problem. Du siehst es vielleicht nicht, weil du es nicht einsehen willst, aber ich habe das hier zu verantworten. Das alles fing doch schon mit meiner Geburt an. Wenn ich einfach eine normale Hexe gewesen wäre, wäre das alles nicht passiert. Nur weil ich zu schwach war, waren Mom und ich in Gefahr und nur deswegen musste sie mir meine Stimme nehmen. Das war doch für sie sicher auch alles andere als einfach. Ohne mir hätte sie noch immer ein normales Leben in unserem Zirkel leben können. Sie hat alle Kontakte zu ihren Verwandten und Freunden abbrechen müssen, denn die hätten herausfinden können, dass ich viel zu wenig Magie in mir habe, um Zaubern zu können. Ich bin eine Schande für meine Mutter."

"Sag so etwas nicht! Aubrey, du bist sicher keine Schande. Du bist das schönste, netteste und wunderbarste Mädchen, das ich jemals getroffen habe. Allein dein Lächeln ist umwerfend und jede andere Frau wäre unsagbar stolz, wenn du ihre Tochter wärst. Du bist etwas Besonderes." Ich wurde rot, als ich bemerkte, wie sehr ich von ihr schwärmte und räusperte mich verlegen. "Du kannst dir nicht die Schuld dafür geben, dass du nicht zaubern kannst. Außerdem sollte das eigentlich nichts ausmachen. Dann kannst du eben keine Zauber sprechen. Na und? Das bedeutet doch noch lange nicht, dass du schwach bist oder etwas in der Art. Du bist zwar nicht wie die anderen im Zirkel, aber das heißt nicht, dass du schlechter oder weniger wert bist. Es kommt doch nicht nur auf die Stärke der Magie in dir an. Und nur weil euer Zirkel das vielleicht so sieht, musst du dir noch lange nicht die Schuld dafür geben, dass deine Mutter nichts mit ihnen zu tun haben wollte."

"Danke.", flüsterte sie leise und sah in meine Augen. "Aber das alles ändert auch nichts daran, dass meine Mutter mich trotzdem hasst. Als ihr klar wurde, dass ich meine Stimme wiederbekommen hatte... Es war einfach furchtbar."

"Erzählst du mir, wie sie es herausgefunden hat?", fragte ich und sie nickte leicht, bevor sie mit leiser Stimme anfing, mir davon zu erzählen.

"Es passierte, kurz nachdem du weg warst. Ich war so zuversichtlich, dass sie es nicht bemerken würde. Ich hatte schließlich mein ganzes Leben geschwiegen und es war ja nicht so, als ob sie versuchen würde, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Eigentlich hatte ich sogar ziemlich gute Chancen. Ich habe gerade den Tisch gedeckt, als... Mir ist ein Teller runtergefallen. Ich habe versucht, es zu unterdrücken, aber ich konnte es nicht. Es war wie ein Reflex, also habe ich geschrien. Nur ganz kurz und auch nicht sehr laut. Aber es war laut genug, dass sie es gehört hat, obwohl sie nicht einmal da war. Sobald mir das klar wurde, bin ich einfach losgerannt. Ich wusste nicht sicher, ob sie das gehört hatte, aber ich hatte so eine unglaubliche Angst. Also bin ich in mein Zimmer gegangen und habe dich da angeschrieben. Sie hat noch versucht, die Tür irgendwie aufzukriegen. Und sie war nicht einmal richtig wütend, das kam erst, als sie sich sicher war, dass das, was sie gehört hatte, wirklich meine Stimme war. Sie hat nur versucht, mich dazu zu überreden, die Tür wieder aufzumachen. Hat gefragt, ob ich ein Problem hätte. Ihre Stimme war so... sanft. Und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie mir eigentlich am liebsten den Hals umdrehen würde. Sie war sogar kurz davor, meine Tür einfach einzutreten, aber dann bist du gekommen. Wenn du nur ein wenig später gewesen wärst... Ich weiß nicht, was sie dann mit mir gemacht hätte."

Voller Mitleid sah ich Aubrey an und griff unwillkürlich nach ihrer Hand. "Hey... So etwas wird nie wieder vorkommen. Du bist hier in Sicherheit. Wir werden für alles eine Lösung finden, das verspreche ich dir."

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