Kapitel 10

Das Wasser schwappte an meine Füße und ich warf den Kopf leicht zurück. Solche Tage liebte ich einfach. Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Ich drehte den Kopf. Ein junges Mädchen rannte auf mich zu. Ihr Haar war blond, wie meines. Die Augen ... Nein! Das war nicht möglich. Istari konnten keine Kinder zeugen. Das Mädchen blieb. Selbst, nachdem ich geblinzelt hatte und ich starrte ganz offenkundig in Gandalfs Augen. Wie bei den Valar war dies möglich? „Das ist nur Wunschdenken", redete ich mir ein. „Nichts weiter. Warum solltest du auch die Gabe der Vorhersagung haben? Du bist nicht Arwen oder Elrond." Dennoch ... Es erinnerte mich stark an Arwens Vision, die sie gehabt und von der sie mir erzählt hatte. Das Mädchen blieb sehen und fuhr herum. Hinter ihr tauchte Gandalf auf. Sein Mund öffnete sich zu einem freudigen Lachen und er breitete die Arme aus. Das Kind hüpfte zu ihm. Er hob es hoch und dann verschwanden die Beiden. Für eine Sekunde saß ich vollkommen reglos da. Schritte hinter mir. Vertraute Schritte. „Schon zurück?", begrüßte ich Gandalf, ohne meine Position zu verändern. Er nahm neben mir im Gras Platz. „Radagast ließ sich schnell helfen. Geht es dir gut, mein Herz?" Ein Schauer kroch meinen Rücken hinunter. Er hatte mich noch nie zuvor so genannt. Sollte ich ihm von dem berichten, was ich gesehen hatte? „Wird die Gabe der Vorhersehung vererbt?", wollte ich wissen und warf ihm einen Blick zu. „Was hast du gesehen?", erkundigte der Zauberer sich bei mir. „Nichts. Nur einen Wunsch, das war alles", winkte ich ab und wand den Blick ab. „Ein Kind", murmelte Gandalf. „Du hast ein Kind gesehen, nicht wahr?" Wieso war er so gut darin meine Gedanken zu erraten? Leugnen brachte mich nicht weiter. So nickte ich nur. Der weiße Zauberer legte einen Arm um mich. „Dein Wunsch ist verständlich, Nienná und ich verurteile dich auch nicht dafür. Jedoch ..." Er stockte. „Es ist nicht möglich, ich verstehe", meinte ich und verbarg das Gesicht in meinen Händen. „Das wollte ich nicht sagen, Nienná. Viel mehr, dass ich es nicht weiß", fuhr Gandalf fort. Wie bitte? War denn alles falsch, was ich über Istari gelernt hatte? „Diese Situation ist furchtbar", bemerkte ich. „Wenn es nicht funktioniert, hast du ein schlechtes Gewissen und das kann ich nicht ertragen. Dass du meinetwegen leidest. Wenn es jedoch funktioniert ... ich weiß nicht, wie ich damit umgehen würde. Am Besten vergesse ich meinen Wunsch." „Geliebte, so darfst du nicht sprechen", beschwichtigte Gandalf mich sanft. „Wir finden eine Lösung dafür." Da löste ich die Hände von meinem Gesicht. „Mir ist gestern auf einer Patrouille an den Grenzen etwas ungewöhnliches aufgefallen", berichtete ich und wechselte das Thema. „Was hast du gespürt?" Gandalf war sofort hoch konzentriert. „Ein ... Grauen. Wie ein Schatten, der sich über mich legte. Möglich, dass ich es mir nur eingebildet habe", meinte ich. Der Zauberer zog die Augenbrauen zusammen. „Wo genau war das?" „Im Westen. Nach dem kleinen Abhang." Er nickte. „Wenn du möchtest, können wir uns das gemeinsam anschauen", schlug er vor. „Gerne", stimmte ich zu und erhob mich. Im Laufen holte ich einen Pfeil aus meinem Köcher und legte ihn an meinen Bogen. Die Stelle war schnell gefunden. Mein Herz schlug schneller und mein Atem hinterließ weiße Wölkchen in der Luft, obwohl es hier mild war. Gandalf nahm seinen Zauberstab fester in die Hand. Als sich unsere Blicke trafen, erkannte ich dort, dass er dasselbe fühlte wie ich. Nichts zu hören und niemand zu sehen. Plötzlich verschwand das Gefühl. Als wäre es nicht vorhanden gewesen. „Was war das nur, Liebster? Einer dieser Láthbären?" „Komm mit", bat er mich und setzte sich in Bewegung. Rasch folgte ich ihm, ließ den Pfeil jedoch nicht von meinem Bogen verschwinden. Wir hatten nur wenige Meter zurückgelegt, als Gandalf stehen blieb. Er bückte sich und ich kniete mich ebenfalls hin. Ein Abdruck war zu sehen. Der Abdruck eines Tieres. Eindeutig ein Bär. Ein Láthbär. Kein anderes Wesen dieser Art konnte ein derartiges Grauen verursachen. „Was machen diese Tiere nur so weit im Westen?", hauchte ich. „Diese Frage kann ich dir leider nicht beantworten, Nienná. Wir sollten das beobachten und ich werde schauen, dass ich mehr über sie herausfinde." „Das klingt vernünftig", kommentierte ich. „Lass uns zurückkehren, mein Liebster." Gandalf richtete sich auf und legte einen Arm um mich. Zusammen betraten wir wieder das Reich meiner Eltern.


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