Zwei Seelen aber ein Herz

Es war erst zwölf Uhr. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Der alte Professor Dunkley schien selbst bei seinem Unterricht in Geschichte im Lehramt einzuschlafen. Würde der Gehstock sein Gewicht nicht halten, würde er schlafend zur Seite kippen. Gelangweilt kritzelte ich auf meinen Notizblock herum. Am liebsten hätte ich mein Telefon aus der Tasche geholt, um erstens Niall eine Nachricht zu schreiben, wie die Proben liefen und zweitens, um das nächste Level von Gummy Drop zu absolvieren. An diesen einen arbeitete ich schon seit einer geschlagenen Woche.

Gestern hatte ich endlich die Zeit für den wichtigen Test am Freitag zu lernen. Mr Dunkley meinte extra noch, dass unsere Bewertung mindestens fünfundfünfzig Prozent unserer Note ausmachen würde. Na toll, wenn ich das vermasselte, versaute ich mir die Note. Der Ehrgeiz in mir war entfacht. Ich war schon immer pingelig, wenn es um meine Noten ging. Es gab nichts Schlimmeres als eine zwei. Egal in welchen Fächern, aber überall brauchte ich eine Eins. Lernen war einfach etwas in dem ich gut war und genau deshalb wollte ich sehr gut sein.

Zwischen Tobi und Sophie herrschte noch immer die Eiszeit. Tobias wollte mir erklären, warum er so sauer auf sie war, verfing sich aber immer wieder in seinen eigenen Worten. Er sagte etwas wie: "Ich glaube, es ist besser, wenn du es nicht weißt." oder "Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass sie meine gekaufte Couch entweiht." Eine Menge anderer derartiger Sätze fielen, in denen er immer schneller sprach und sein britischer Akzent in vollem Ausmaß zu hören war. Es gab also keinen Dunkin Donut für Sophie, sondern nur für Tobi, Peter und Amara.

Ich mochte Peter. Er hatte eine lässige Art und er passte zu Tobi. Sonderlich viel wusste ich eigentlich nicht von ihm, aber was nicht war, konnte ja noch werden. Ich wusste, dass er bei irgendeiner Redaktion einer Zeitschrift arbeitete. Er hatte diese braun gebrannte Haut, für die gewisse Personen sterben würden - die er seiner Latino-Mutter verdankte. Das Haar war kurz und ab und zu trug er eine Brille. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich ihn gutaussehend fand. Sein Körper war durchtrainiert und ich konnte mich nicht allzu gut an das Sixpack erinnern, als er nur in Kochschürze vor mir im Wohnzimmer stand. Damals hielt ich ihn noch für einen Stripper.

Als die Vorlesung zu Ende war, packte ich meine Sachen zusammen und verließ den Hörsaal. Die Peinlichkeit des Tortellini-Unfalles lag noch immer im Raum. Es waren nicht viele, immerhin war die Universität riesengroß, aber mich erkannten immer noch genügend. Mit Lilly und Stephen traf ich mich heute Morgen wieder in der Bibliothek, wo die beiden über ihr nächstes Buch stritten. Beide wollten eines zusammenlesen um darüber diskutieren zu können, konnten sich aber nicht für eines entscheiden. Sie verhielten sich schon beinahe wie ein verkorkstes Paar, wenn man mich fragte. Heute Abend stieg irgendwo eine Lesung auf die das wir-sind-kein-Paar Paar gehen wollte. Sie luden mich ein, aber ich war mir noch unschlüssig. So wie Sophie mir erzählt hatte, wollte Matt vorbeischauen. Auf ihn freute ich mich. Er war nach meiner kurzen Freundschaft mit Holly eigentlich mein erster und womöglich einziger Freund in Mullingar. Niall zählte ich da nicht mit. Er gehörte zur Familie ... was es auch nicht besser machte, wenn ich genau darüber nachdachte. Stiefgeschwister sollten nicht zusammen sein und trotzdem waren wir es. Ich dachte immer, die Welt würde unter unseren Füßen zusammenbrechen, sobald es öffentlich wurde, aber die Leute nahmen es cool. Das Gegenteil war natürlich auch dabei. Aber was war eigentlich falsch daran? Wir wuchsen nicht zusammen auf und kannten uns nicht. Wir waren praktisch Fremde, bis zu den Tag, an dem sich unserer Wege kreuzten. Wer hätte auch ahnen können, wie das für uns enden würde. Zwei Seelen aber ein Herz. Vielleicht für immer. Na gut wir wollen es mal nicht übertreiben.

An einem Automaten drückte ich mir ein Sandwich hinunter und setzte mich auf eine freie Bank im Park hinter der Uni. Für Oktober war es heute wieder viel zu warm. Die Sonne schien mir ins Gesicht und das Sauwetter von gestern war vergessen. Eigentlich hätten mich Lilly und Stephen wieder gebeten mit zum Speisesaal essen zu kommen, aber ich schlug erneut ab. Ich hatte die leise Befürchtung dort wieder auf Amber zu stoßen und auf eine Wiederholung hatte ich keine Lust.

"Na Stranger?"

"Hey", grüßte ich zurück und biss danach von meinem Sandwich ab. Er setzte sich, mit etwas Abstand neben mich.

Dylan legte einen Arm auf die Lehne hinter mir. "Traust du dich noch immer nicht in den Speisesaal?" Er klang nicht belustigt, sondern einfach neugierig.

"Ich habe keine Angst!", stellte ich klar und sah ihn fest an. "Ich will nur nicht in Amber laufen."

Dylan legte den Kopf zur Seite und hob eine Braue. "Das bedeutete, du willst auch im Winter hier sitzen und ein Sandwich aus dem Automaten essen?"

"Kann dir doch egal sein." Ich drehte den Kopf weg und biss erneut ab. "Warum interessiert dich das überhaupt?"

"Tut es nicht ...", er schüttelte den Kopf. "Aber wir sind Nachbarn und sollten aufeinander achtgeben."

"Versuchst du plötzlich mein Freund zu sein? Das hat das letzte Mal nicht sonderlich gut geklappt", erinnerte ich ihm. Nur weil er mich letzten nach Hause bringen durfte und mir die Tortellini aus den Haaren pickte, waren wir keine Freunde. Er war doch schließlich sauer auf mich, weil ich ihn mit Niall ausgetauscht hatte.

"Amara", seufzte er meinen Namen. "Eigentlich habe ich keine Ahnung was ich von dir will. Zu Beginn des Sommers, dachte ich, wir wären ein Paar, innerhalb von Tagen waren wir es nicht mehr und dann waren ... verfeindet. Ich war sauer, weil ich wirklich gedacht hätte, dass es was Festes werden würde und es geglaubt habe. Ich will nicht dein Feind sein."

"Wenn du nicht mein Feind sein willst, dann beantworte mir eine Frage." Ich leckte mir über die Lippen und drehte mich zu ihm. "Hast du die Fotos auf der Party wirklich nicht geschossen?"

Dylan hob die Hände. "Ich schwöre es. Damit hatte ich nichts zu tun."

"Na gut", nickte ich und damit wuchs mein Freundeskreis wieder um eine Person. Dylan hatte, aber noch nicht das Vertrauen das ich meinen wirklichen Freunden schenkte. Freundschaft ist auf Vertrauen aufgebaut und davon hatten wir füreinander noch nicht viel übrig. Es wird dauern und ich weiß auch nicht wie Niall darauf reagieren wird, aber meine Freunde suche ich mir selbst aus. Zumindest ist es schonmal gut, dass wir das mit uns wieder in den Griff bekommen. Dylan war ja sonst eigentlich immer nett zu mir. Ich trug die Schuld an der Spannung zwischen uns. Eigentlich müsste ich mich mal bei ihm entschuldigen. "Dylan?"

"Ja?" Ich hatte seine völlige Aufmerksamkeit.

"Ich ähm...", murmelte ich. "Es tut mir leid, was ich damals gemacht habe. Es war nicht fair von mir dich so zu verletzten. Diese 'Beziehung' war eine blöde Idee von mir. Aber ich hatte wirklich nicht gerechnet, wieder mit Niall zusammenzukommen. Ich wollte mir einfach nicht eingestehen, dass dieser Kerl mich so in seinen Klauen hatte und dass nach unserem Streit. Es hätte mir klar sein müssen ... Verzeih mir bitte. Ich wollte dich nicht vorführen."

Dylan legte eine Hand auf meine Schulter. "Wir machen alle Fehler."

Nach einer weiteren Lesung traf ich mich mit Lola auf einen Kaffee. Die Rothaarige schrieb mir beinahe täglich auf WhatsApp. Ich bekam eine Party-Einladung nach der Anderen von ihr. Aber dafür hatte ich die letzten beiden Wochen keinen Kopf. Sie hatte auch versucht auf mich einzureden, um mich vom Kündigen abzuhalten, aber ich wusste, dass es das Richtige war. Ich wollte nicht, dass sie und auch alle anderen Mitarbeiter des Cafés in Gefahr gerieten.

Mit dem Bus fuhr ich anschließend nach Hause. Dort hatte ich auch versucht Niall zu erreichen. Ich wollte seine Stimme hören und herausfinden, ob inzwischen wieder alles okay bei uns war. Er hob ab und sagte, dass er gerade keine Zeit hatte, er wollte mich später zurückrufen. Matt hatte mir währenddessen eine SMS geschrieben und nachgefragt, ob Sophie mir erzählt hatte, dass er heute kommen wollte.

"Hat sie, wann kommst du?", schrieb ich zurück.

"Bin auf den Weg. Keine Ahnung wie lange dieser Bus braucht."

Ich kann es kaum erwarten ihn wiederzusehen. Ob Niall auch wusste, dass einer seiner besten Freunde aus Mullingar in der Stadt war? Sollte ich ihn anrufen und Bescheid geben? Nein, er hatte doch eben gesagt, dass er keine Zeit hatte.

Nachdem ich ganze zehn Minuten zu Hause war, klingelte es an der Tür. Ich sprang von der Couch auf und hopste glücklich zur Tür hinüber. Schwungvoll riss ich sie auf. "Ah!", schrie ich viel zu laut. "Matt!" Ich fiel ihm um den Hals.

"Hey, Kleine. Wie geht es dir?", hörte ich ihn sagen, als wir uns in den Armen lagen. Wir ließen voneinander ab und musterten uns gegenseitig.

"Mir geht es gut." Ich grinste über das ganze Gesicht hinweg. "Na los, komm rein."

Matt ließ sich nicht zweimal bitte und trat in meine Wohnung herein. Ich fand es schade, dass Tobi nicht da war. Ich hätte ihm gerne Matt vorgestellt und auch Sophie musste heute leider arbeiten. Davina hatte sie heute Morgen angerufen, dass sie sie sofort brauchen würde. Irgendwer ist irgendwo abgesprungen und für diesen Job wäre sie perfekt gewesen.

"Ich habe etwas für dich." Er nahm seine rechte Hand, die er hinter seinen Rücken versteckte hervor. Matt hielt eine große Schachtel mit Pralinen in der Hand.

"Für mich?" Ich nahm sie ihm danken ab und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Dazu musste er seinen Kopf extra nach unten lehnen, weil er ja bei weitem größer als ich und Niall war.

Matt zog dich danach Schuhe und Jacke aus und folgte mir in das Wohnzimmer. "Ihr habt es nett hier."

"Danke. Hier sah es schon so aus, als ich eingezogen bin. Soll ich dir eine kurze Tour geben?"

Matt nickte. "Ich würde gerne sehen, wo die schmutzigen Dinge hier passieren." Er wackelte mit den Augenbrauen. Ich schnappte mir ein Kissen von der Couch und schoss es auf ihn.

"Du und Sophie könntet euch auf einen Haufen hauen!"

Schmunzelnd hob er das Kissen auf. "Das haben wir doch schon mal. Ich bin mir sicher, dass du das weißt. Frauen reden doch über so etwas."

"Dazu sagte ich nichts", murmelte ich und ging in Deckung, als ich sah, wie das Kissen auf mich zuflog. Ich legte das Kissen wieder zurück auf die Couch und gab Matt eine kurze Besichtigungsrunde durch das Apartment. In meinem Zimmer blieben wir schließlich kleben. Ich setzte mich auf den Rand meines Bettes und Matt auf meinen Drehstuhl, der am Schreibtisch parkte. Dort lagen stapelweise Uni-Bücher und Mappen. Er nahm einen meiner Notizzettel in die Hand, als ihn und legte ihn mit großen Augen wieder zurück.

Er streckte seine langen Beine aus. "Mann, wenn ich das alles so sehen, bin ich froh die Uni geschmissen zu haben."

"Du hast die Uni geschmissen?", fragte ich geschockt. Davon wusste ich überhaupt nichts.

Matt raufte sich sein Haar, was seinem Aussehen keinen Schaden machte. "Ja, es lag mir nicht. Und um ehrlich zu sein, sah ich mich noch nie als Student. In Cork gibt es viele kleine Jobs mit denen man sich das nötige Kleingeld verdienen kann."

"Und mit was verdienst du da dein Geld so?" Ich konnte nicht glauben, dass er die Uni aufgegeben hatte.

Matt begann an einem Ohrring zu drehen. "Am Hafen gibt es immer irgendetwas zu tun und nebenbei bin ich auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz zum Tätowierer."

"Das Tätowieren, würde natürlich gut zu dir passen", meinte ich und deutete auf ihm. Seine Haut war übersät mit der bunten Kunst. Es stand Matt und passte bei ihm wie Faust aufs' Auge.

"Hast das" ich deutete auf die schwarze Tinte unter seiner Haut. "Eigentlich sehr wehgetan?"

Matt zuckte mit der Schulter. "Es kommt immer auf die Stelle an. Warum? Willst du auch eines?"

"Ähm ... vielleicht irgendwann mal. Aber im Moment hätte ich zu viel Schiss vor der Nadel und den Schmerzen. Außerdem befürchte ich, dass Niall mir beim Händchenhalten umkippen würde." Ich kannte das Video vom Tattoo Roulette und wusste daher von Nialls Angst. Man das war wieder das perfekte Beispiel um zu beweisen, dass jeder, auch Niall, vor irgendetwas Angst hatte. Egal wie stark sich jemand gibt, es gibt immer etwas, das demjenigen, den Angstschweiß an die Stirn treibt - was in Nialls Fall die Tattoo-Nadel war. 


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top