Die beste Pose
Unkonzentriert wippte ich mit meinem Stuhl auf und ab. Warum meldete Niall sich nicht? Es war bereits nach drei Uhr und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er noch immer schlief. Hatte ich gestern irgendetwas gesagt oder getan mit dem ich ihn verärgert hatte? Wenn ja, wusste ich es nicht. Sollte ich mir Sorgen machen?
Ich schlug das Lehrbuch zu, in dem ich nur eine Seite durchgelesen hatte und dabei kein einziges Wort verstand, da meine Gedanken mich einfach nicht in Ruhe ließen. Sehnsüchtig warf ich einen Blick auf mein Smartphone. Keine neue Nachrichten lächelte es mir schon beinahe boshaft entgegen. Auch bei dem Versuch ihn anzurufen landete ich lediglich auf seiner Mailbox. Ich sollte mich am Riemen reißen und nicht die über fürsorgliche Freundin spielen. Vielleicht nervte es ihn. Seufzend lehnte ich zurück und betrachtete die Pinnwand hinter meinen Laptop. Ist es komisch, dass ich das Bild von Niall und mir aus einer Zeitung geschnitten hatte und es mich nun Tag täglich an diesen Moment erinnerte, wenn ich hier saß? Bis auf die Kleinigkeit das ich ihm mit Herzaugen schon sehr nahe gekommen war, war es ein schönes Foto.
Ich sah nach oben. Auf dem Regal, das ich aus dem Sitzen gut erreichen konnte, parkte ich die Kamera, die ich zu meinem Geburtstag bekommen hatte. Irgendwie verspürte ich die Lust, sie zu benutzen. Vielleicht könnte ich einige der Tipps von Connor benutzen und ein paar nette Bilder schießen. Es war sowieso Sonntag und mein Hirn war im Moment nicht Aufnahme fähig. Ich zog die Kamera aus der Verpackung und prüfte den Akkustand. Zu meinem Glück befand sich etwas Strom im Akku.
Der Blick aus dem Fenster zeigte mir deutlich, dass ich mich etwas wärmer anziehen sollte. Graue Wolken bedeckten den Himmel. Ich schlüpfte in einen schwarzen oversize Pullover, der an den Schultern jeweils zwei weiße Streifen hatte, eine schwarze Strumpfhose und als würde es anders sein schwarze Stiefel. Mein oberes Kopfhaar band ich mir noch zu einem Knoten zusammen, während der Rest meines braunen Haars mir bis zur Brust hing. Ich entschied mich am Schluss noch für einen kleine Umhängetasche, in der ich ein bisschen Geld und mein Handy verstaute. Kurzer Hand beschloss ich mein neues Fahrrad einzuweihen. Meine Mitbewohner sahen mit etwas überrascht an, als ich mit der Kamera in der Hand an ihnen vorbeisauste.
"Wo willst du hin?", fragte Tobi mich, bevor ich die Wohnungstür erreicht hatte.
Ich drehte mich um. "Ich fahre spazieren." Das Fahrrad neben mir hätte für meinen Geschmack als schlichte Antwort reichen müssen.
"Alleine?"
Ich nickte.
"Melde dich, falls etwas sein sollte."
"Sicher." Ich lächelte Tobi an. Es fühlte sich gut an zu wissen, dass sich jemand um einen Sorgte. Dankbar für unsere Freundschaft schoss ich ein für ihn unerwartetes Foto von ihm. "Das sollte dir eine Ehre sein Miller. Das ist das erste Bild auf meine Kamera und jedes Mal, wenn ich sie anmache und mir die Fotos ansehen will, werde ich zuerst dich sehen."
Tobi zog grinsend eine Braue hoch. "Du hättest mich warnen können. Es sieht sicher furchtbar aus."
Ich verzog die Lippen und zog Luft ein. "Ja, die beste Pose hattest du nicht ... aber für mich reicht es."
***
Eine frische Brise Herbstwind umgab mich. Mein loses Haar tanzte im Wind. Meine Kamera und meine Tasche ruhten im Korb am Lenker, während ich die Straße hinunter brauste. In der Nähe der Themse legte ich meinen ersten Halt ein. Ich sperrte mein Fahrrad ab, legte mir meine Tasche um und schnappte mir meine Kamera. Der Ausblick war gut und der Fluss vor mir machte einen guten Hintergrund. Sonnenstrahlen ließen ihn glitzern. Ich schoss ein Bild, dann ein zweites und schließlich noch ein drittes. Ich spielte mit Filtern und der Belichtung, versuchte mich an Details zu erinnern, die Connor mir genannt hatte. Ein Kind ließ an der Nähe des Ufers einen Drachen steigen. Er war groß und mit Einhörnern bemalt. Auch hiervon schoss ich ein Foto.
Mit meinem Rad fuhr ich weiter, ließ mich von der Gegend inspirieren und suchte nach dem perfekten Schnappschuss. Beim Vorbeifahren an einer Reklametafel hielt ich an. Auf der anderen Straßenseite klebte ein riesiges Plakat mit Nialls Gesicht darauf. Es war das Cover von seinem Album. Eine Gruppe von jugendlichen Mädchen stand davor. Mit Vorfreude in den Augen schossen sie Bilder von sich mit ihren Idol an dem Plakat hinter ihnen. Ich beschloss mich ebenfalls dort zu fotografieren. Die Ampel schaltete zu meinem Glück gerade auf Grün um. Schon nach wenigen Sekunden erreichte ich die kleine Gruppe.
"Seid ihr auch schon so aufgeregt?", ich grinste die drei Mädchen übertrieben an, als ich auf das Plakat deutete. Die kleiner von ihnen mit dem braunen Haar und einer Brille quiekte hoch.
"Ja! Und wie! Ich kann es kaum noch erwarten! Niall ist einfach sooo perfekt und This Town war einfach so gut und Slow Hands ... -"
"Ja, ja Mel, wir haben es verstanden", unterbrach sie eine andere. "Sie liebt ihn", erklärte sie mir. Sie hatte schwarzes Haar, war größer als die Andere und wenn ich es recht sah, hatte sie ein Zungenpiercing.
"Mel hat recht. Die Songs, die er bis jetzt veröffentlicht hat, sind mega! Ich freue mich schon auf On The Loose. Ich habe ja gehört, dass in diesem Video die Freundin seiner Stiefschwester mitmacht. Bin schon sehr gespannt." Die dritte im Bunde hatte das Wort ergriffen.
Ich stieg indes von meinem Rad ab und lehnte es an der Wand an. "Oh, ja. Das habe ich auch schon gehört."
"Wer weiß, vielleicht hat auch seine Schwester einen Auftritt darin, in dem sie es endlich offiziell machen", sagte dasselbe Mädchen von eben und zwinkerte dabei.
"Ich hoffe es. Die Beiden sind so süß zusammen!", quiekte Mel erneut. Sie rieb sich die Hände. "Ich bin übrigens Melanie, aber du darfst mich Mel nennen. Und meine Freunde Helene und May." Mel zeigte von der schwarzhaarigen auf die Brünette.
"Freut mich. Ich bin ... Marie." Mein Zweitname war auch mein Name, oder nicht? Ich hatte schon Glück, dass sie mich nicht erkannten. "Könnte ich euch vielleicht etwas bitten?"
Sie nickten.
"Könnte jemand von euch von mir ein Foto machen?", ich hob die Kamera in meiner Hand und nickte auf die Plakatwand.
"Klaro!", schnalzte Mel mit ihrer Zunge. Ich gab ihr meine Kamera posierte lächelnd vor der Kamera. Beim zweiten Foto drehte ich ihnen den Rücke zu und sah hinauf auf das Plakat.
"Danke."
"Gerne. Mit deiner Kamera schauen die Bilder voll gut aus", meinte May, als sie sich über meine Schulter hinab die Fotos ansah, die ich gerade begutachtete.
"Ich könnte auch eines von euch machen. Falls ihr wollt?" Fragend zuckte ich mit der Schulter. Ich hatte kein Problem damit. Schließlich sind es Nialls Fans und wenn ich schon für so viele von ihnen ein Problem darstellte, wollte ich zumindest versuchen ihnen zu zeigten, dass ich keines war.
Grinsend stellte sich Mel, Helene und May vor die Wand. Ich schoss mehrere Bilder von ihnen, in denen sie sich auf verschiedenste Arten hinstellten. Am witzigsten Fans ich dass, als sie sich auf ihren Knien hinsetzten und das Plakat anbeteten. Ich ließ mir ihre Twitter-Namen ins Handy tippen, so hatte ich später die Möglichkeiten ihnen die Bilder zu schicken.
"Kommst du noch mit zum McDonalds Marie? Wir laden dich auch auf einen Burger ein."
Freudig nahm ich die Einladung von Helene an. Das Fastfood-Restaurant war nicht weit entfernt, somit waren wir in wenigen Minuten vor Ort. Erneut sperrte ich mein Fahrrad ab. Wie versprochen bezahlte Helene mein Menü. Mit Big Mac, Pommes und einer Cola setzten wir und an einen Tisch neben der Scheibe. Ich fand es sehr nett, einfach mal mit fremden über Niall und seine Musik zu quatschen. Aber wir sprachen auch über private Dinge, so erfuhr ich, dass Mel mit ihren sechzehn Jahren vorhatte beim nächsten X-Faktor teilzunehmen, weil ihr größer Wunsch es war, so erfolgreich zu werden wie ihr Liebling. Das einzige Problem war, dass ihre Eltern strikt dagegen waren. Helene war achtzehn. Sie wollte, um alles in der Welt versuchen nach Oxford in die Uni zu kommen. Ihr größter Wunsch war es immer Prinz Harry zu treffen. May hingegen hatte mit ihren ebenfalls achtzehn Jahren noch keinen Plan von der Zukunft und hatte auch keinen großen Wunsch, außer stinkreich zu sein. Das Gespräch mit ihnen ließ mich total vergessen, dass ich schon den gesamten Tag auf einen Anruf oder eine Nachricht von Niall wartete. Erst als Helenes Telefon läutete und sie mit einem zuckersüßen Lächeln ran ging und ihre bessere Hälfte mit den Worten: "Hey Schatz", begrüßte kam mir die Erinnerung.
Mel und May rollten hingegen mit den Augen. "Das kann wieder ewig dauern", murrte May.
"Die telefonieren immer stundenlang", seufzte Mel, während sie Pommes in den Ketchup tunkte. Ich zog an meiner Cola und lehnte mich zurück. Möglichst unauffällig, nahm ich mein Handy aus der Tasche, suchte Niall Namen in meiner Kontaktliste und versuchte es ebenfalls noch einmal in zu erreichen. Als hätte ich es nicht schon gewusst, war es wieder umsonst. So langsam begann ich mir Sorgen zu machen. Was, wenn ihm etwas passiert ist? Sollte ich vielleicht bei ihm vorbeischauen? Oder wäre das übertrieben?
"Warum so niedergeschlagen?"
Ich sah auf und sah den Blick auf Mays Gesicht. "Ist alles okay?"
Ich zuckte mit der Schulter. "Ich weiß nicht. Mein Freund hätte sich heute bei mir melden sollen, aber das hat er nicht. Und erreichen kann ich ihn auch nicht."
"Typisch Kerle. Zuerst wollen sie deine Aufmerksamkeit so lange, bis man nachgibt. Und was ist dann?" Sie seufzte und rutsche tiefer an ihrer Bank hinab. "Dann sind sie nicht mal erreichbar und ignorieren einen." Hörte sich für mich so an, als würde sie genau wissen, wovon sie sprach.
"Mays Ex Freund war genauso.", wieder war es Mel die erklärte. "Du kannst dir sicher vorstellen, dass das nicht lange gehalten hat."
Nur das man meine Beziehung nicht mit der von May und ihren ehemaligen Freund vergleichen konnte. Aber das konnten dieses Mädchen nicht ahnen - worüber ich eigentlich froh war. Ich hatte schon Glück genug, das sie mich anscheinend nicht erkannten.
Schmollend zog sich May am Tisch wieder hoch, um sich aufzurichten. "Lasst uns über etwas anderes reden. Zum Beispiel ... über Nialls Tour. Marie hast du Karten für die Flicker Sessions?"
"Ich muss gestehen, dass ich diese Möglichkeit verpasst habe. Die Shows sind ja, glaube ich, auch schon ausverkauft, nicht wahr?", fragte ich und zog danach wieder am Strohhalm meines Getränkes. Die Wahrheit war eigentlich, dass ich überhaupt nicht daran gedacht hatte mir Karten zu kaufen, wozu auch? Mein Freund war immerhin der Hauptact. Niall würde doch nicht von mir verlangen, dass ich mir Karten kaufen müsste, oder? Gesprochen hätten wir darüber nicht. Außer er wollte überhaupt nicht, dass ich ihm auf einer seiner Shows besuche.
Und wieder merkte ich, wie ich mir selbst immer alles negativ redete. Egal was es war, ich suchte immer das Negative in der Sache. So langsam aber doch sah ich es. Bei jeder Kleinigkeit könnte ich sofort an die Decke gehen. In mir war eine stark ausgeprägt impulsive Ader, die durch meine Selbstzweifel nährte. Warum bin ich bei der Neuigkeit ausgeflippt, dass meine Mutter noch ein Baby bekommt? Es ist doch schön. Sie liebt Bobby und ist nach all den Jahren glücklich. Ich sollte mich freuen eine kleine Schwester zu bekommen. Und die Sache mit dem Zwilling sein und Connor ... sie wollte mich bloß beschützten. Sie hatte Angst um mich, wollte mich nicht auch noch verlieren und mein Vater selbst, hat auch nur aus Interesse um unser wohl gehandelt, auch wenn er es sicher anders lösten hätte können. Ich vermute mal, Eltern sein ist nicht einfach und manchmal machen sie Fehler aus Sorgen um einen. Sie verletzten nicht mit Absicht, denn sie sehen ihre Welt in uns. Kinder sollten anfangen ihren Eltern nicht alles böse zu nehmen.
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