Charlotte
Nialls Sicht
Mit festem Blick sah ich Amara nach wie sie sich der Universität näherte. Ich hätte mir gerne gewünscht, dass sie nur für heute, ein einziges Mal, die Royal Holloway vergessen würde, um nur Zeit mit mir alleine zu verbringen. Aber um das laut auszusprechen, hatte ich zu wenig Selbstbewusstsein und wusste vor allem, dass mir das nicht zustand. So etwas könnte ich einfach niemals von Amara verlangen. Schließlich ging sie nicht aus Spaß studieren. Es war der Beginn ihrer Karriere und so selbstsüchtig könnte ich nie sein. Das war auch der Grund, warum ich sie nicht zwingen wollte zu meiner Show zu kommen. Klar, ich hatte es mir erhofft und Matt darauf angesetzt herzukommen, um seine Schwester in die Schranken zu weißen - denn besonders ihr war es nicht erlaubt auch nur einen Finger an meine Freundin zu legen - und Amara vielleicht ins Gewissen zu reden. Was auch sehr gut geklappt hatte. Sie war tatsächlich gekommen.
Ich warf noch einen letzten Blick auf den jetzt freien Platz neben mir, betätigte den Blinker und ordnete mich wieder im Straßenverlauf ein. Auch wenn ich Amara wirklich noch länger um mich gehabt hätte, wusste ich, dass ich mich heute an meinen letzten ganzen Tag in London, noch von jemand anderen verabschieden musste. Und zwar bei einem ganz besonderen Mädchen.
Ich fuhr zurück nach Hause und parkte meinen Wagen an seinem Platz ab. Das ältere Ehepaar, das unter mir wohnte, grüßte mich beim Verlassen des Fahrstuhls, während ich einstieg. Die Hunters waren ein vorzeige Ehepaar. Ihre Liebe hielt schon sechzig Jahre lang und noch immer erwischte ich den alten Herren dabei, wie er seiner Gattin auf den Hintern glotzte oder grapschte und Mrs Hunter lief immer rot an und schimpft ihn leise: "Hör auf! Nicht in der Öffentlichkeit, Schatz."
Ist es kitschig zu denken, dass Amara und ich das sein könnten? Warum dachte ich so etwas überhaupt? Im Moment sollte ich erstmals unsere Beziehung am Laufen halten und versuchen Amara die Wahrheit zu offenbaren. Sie musste es wissen, denn ohne dieses Wissen, würde unsere frische Beziehung nicht von langer Dauer sein. Was es noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass wir auch bei einem Beziehungsende nie wirklich Abstand gewinnen könnten. Wir sind eine Familie. Unsere Eltern sind verheiratet und erwarten ein Kind. Genau das ist es, was es so schwer für mich macht, endlich meinen Mund aufzumachen und die eine Sache zu erzählen. Die Sache die mir seit Ende August den Kopf zerbricht. Schon seit zwei Monaten trage ich die Last auf meinen Schultern herum und lasse mir dabei hoffentlich nicht allzu viel anmerken. Amara ahnte bereits, dass mich etwas bedrückte, sie hatte es nur allzu soft erwähnt. Egal ob es an meinem Geburtstag war oder bei ihren Großeltern, sie hatte immer recht: Ich bin nicht okay.
Im sechsten Stockwerk gingen die schweren grauen Türen des Fahrstuhls auf. Es war wie immer, wenn ich dieses Stockwerk betreten musste: ein schlechtes Gefühl überkam mich. Wenn ich könnte, würde ich alles ändern. Aber das ging nicht mehr. Der Schaden war bereits entstanden. Frustriert stemmte ich mich mit der Hand gegen die Wand. Ich hatte eine Menge Fehler gemacht in der Vergangenheit und das hier war meine wohlverdiente Strafe. Ich stieß mich ab und drückte tief in die Klingel.
"Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr", meckerte Holly beim Öffnen der Tür. Ich fuhr mir genervt durch mein Haar. "Beruhig dich mal. Es ist gerade mal zehn. Ich habe gestern eine Show gespielt also-"
"Glaubst du, dass mich das interessiert?" Sie machte eine abwertende Bewegung mit der Hand, drehte sich um und ging den Flur in ihrer Wohnung entlang. Da sie die Tür offen ließ, empfand ich es als Einladung. Ich schloss die Tür hinter mir und zog meine Jacke aus. In ihrem geräumigen Wohnzimmer, das ich monatlich bezahlen durfte, sah es aus, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Schmutziges Geschirr war zu einem Stapel getürmt, Klamotten lagen an allen Ecken, Spielzeug lag am Boden zwischen leeren Flaschen und Kartons. Ich halte das nicht aus.
"Wie sieht es denn hier aus?", fragte ich Holly, die ich durch den Türbogen in der Küche stehen sah. Sie füllte gerade eine Flasche mit einem weißen Brei ab.
"Wie es hier aussieht?!", fuhr sie mich an. Ihr sonst so glänzendes perfektes Haar hing fast kraftlos an ihrem Hinterkopf. Ohne Make-up wirkte sie noch blasser. Die Falten durch ihren bösen Gesichtsausdruck passten ihr nicht und ließen sie älter aussehen. "Was glaubst du eigentlich, was ich hier den ganzen Tag mache?! Wenn du es besser kannst, dann pass doch selbst auf! Ich habe die Schnauze voll!", brüllte Holly, die auf mich zustürmte und mir die Flasche mit Wucht in die Hand drückte. Schneller als ich reagieren konnte, krallte sie sich ihre sieben Sachen und verließ mit einem lauten Türknall das Apartment. Gerade als ich zur Verfolgung ansetzten wollte, hörte ich Charlotte weinen.
Ich konnte nicht gehen.
Ich konnte die Kleine nicht alleine lassen. Ihr Brüllen wurde immer lauter, während ich mich nicht rühren konnte. Es war immer etwas anderes sich um Theo zu kümmern, aber nun war es mein Kind. Nicht mein Neffe, sondern meine Tochter. Verdammt.
Ich ging ins Nebenzimmer, in dem die Kleine in ihrem Gitterbett lag. Ihr Gesicht war bereits gerötet und ihre Wangen feucht. Die Flasche mit dem Brei stellte ich auf den Tisch nebenbei ab. Vorsichtig nahm ich sie unter ihren Armen hoch, um mit meinen Fingern ihren Kopf zu stützten. Ich legte sie in meinen linken Arm und schwankte hin und her um sie zu beruhigen.
"Bitte hör auf zu weinen ...", flehte ich leise. Ich nahm mir die Flasche und versuchte sie zu füttern. Mit ihrer kleinen Zunge drückte sie den Silikonverschluss aus ihrem Mund hinaus, nur um danach noch lauter zu weinen. Ich probierte es erneut und hoffte, dass sie endlich aufhören würde zu schreien. Charlotte hörte kurz auf, begann aber gleich wieder, als links und rechts an ihren Mundwinkel die weiße Flüssigkeit ihre Wangen hinunterlief. Sie konnte keinen Hunger haben ... was konnte es sonst noch sein?
Die Windel?
Ich legte sie auf den Wickeltisch ab, wischte ihr Gesicht ab, zog ihr die graue Stoffhose hinunter, knöpfte den Body auf und wechselte die feuchte Windel. Inzwischen hatte sie sich etwas beruhigt. Anstellte zu weinen, hatte sie nur noch leichten Schluckauf. Ich trug sie ins Wohnzimmer und setzte mich mit ihr in meinen Armen auf das Sofa. Ich wog sie in meinen Arm und betrachtete das kleine Wesen. Wenn man genau hinsah, konnte man schon helle feine Haare erahnen. Die blauen Augen hatte sie von uns beiden, während Ohren und Nase von Holly waren. Nun hoffte ich nur, dass sie meinen Charakter geerbt hatte. Wenn sie jemals so werden würde wie ihre Mutter könnte mich mir nie vergeben.
Ganz sanft streichelte ich ihre weiche Wange. Ein warmes Gefühl stieg in mir auf, als sie ihre winzigen Finger um meinen Daumen drückte. Obwohl sie noch so klein war, war ihr Griff bereits fest. Als würde sie mir sagen wollen, dass ich nicht gehen sollte.
Ich wünschte mir das Holly nicht die Mutter meiner Tochter wäre. Wäre es Amara, wäre ich glücklich und wüsste, dass mein Kind in guten Händen sein würde. Amara hätte mir die Schwangerschaft nicht verleugnet. Sie wäre nicht mit einem drei Wochen alten Säugling vor meiner Tür aufgetaucht und hätte Geld von mir verlangt. Ich hätte mich damals vergewissern müssen, dass sie mir die Wahrheit erzählt hatte, als sie meinte, dass sie nicht schwanger sei. Aber wie sollte ich wissen, dass sie mich anlügen würde? Sie hatte sich geschämt schwanger zu sein und wollte das Kind, ohne mein Wissen, loswerden. Doch ihre Muttergefühle übermannten sie. Holly konnte es nicht.
Das Wochenende, das ich mit Amara in Mullingar bei unseren Eltern verbrachte, war das Wochenende, nach der Geburt von Charlotte. Holly gab sich das erste Mal nach Monaten wieder die Kante mit ihren Freunden und traf dabei zufällig auf Amara und mich. Im Nachhinein gesehen weiß ich natürlich, dass ich in der Nacht eine Reihe von Fehlern begangen hatte. Ich hätte niemals annehmen sollen, dass Holly endlich über mich hinweg sein könnte. Wir hätten nicht mit zu ihr nach Hause gehen sollen, um zu trinken. Es war eine Falle und ich bin darauf hineingefallen. Holly ist ein manipulierendes Monster. Warum habe ich das früher nie gesehen? War sie früher auch so? Wussten es alle anderen außer mir? Nein, sie hatte sie in den letzten Jahren stark verändert. Vielleicht war ich ihr Anker, als wir noch glücklich waren. Und nur vielleicht wäre sie jetzt anders, wenn wir uns damals nicht verloren hätten.
Nur um meine Tochter immer nahe bei mir zu haben, hatte ich Holly hier ein Apartment verschafft. Zuerst hoffte ich noch, dass der Vaterschaftstest negativ ausfallen und ich sie wieder loswerden würde, aber so war es nicht. Die Vaterschaft wurde zu neunundneunzig Komma neun Prozent bestätigt. Es gab keinen Zweifel mehr daran, dass Charlotte nicht mein Fleisch und Blut ist.
Während ich Charly beobachtete, wie sie an meinen Daumen nuckelte und dabei immer wieder die Augen schloss, spürte ich, wie etwas an meinem Gesicht an meiner Wange hinunterglitt. Ein nasser Tropfen fiel auf meinen Arm, der sofort einen feuchten Fleck an meinem Hemd bildete.
Amara wird so enttäuscht von mir sein. Wie soll ich das je wiedergutmachen? Ich möchte sie nicht verlieren ... Aber ich kann nicht so tun, als hätte ich nicht ein Kind für das ich versuchen musste ein guter Vater zu sein.
Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt um Amara einzuweihen. Ich konnte ihr noch nicht von Charlotte erzählen und sie anschließend für Wochen alleine zurücklassen. Wenn ich zurück bin, werde ich ihr alles erzählen und erklären. Sie wird meine Tochter kennenlernen und sie wird mich nicht verlassen. Amara wird es verstehen - sie musste es.
Ich trug Charly zu ihrem Bett und legte sie ab. Mit der grünen Kuscheldecke, die ich ihr gekauft hatte, deckte ich sie noch zu, damit sie nicht fror. Da Holly noch immer nicht zurück war, schrieb ich ihr und fragte, wenn sie vorhatte wiederzukommen. Während ich auf eine Antwort wartete, räumt ich das Chaos zusammen. So sollte mein Kind nicht leben müssen. In Bergen von Müll sollte niemand hausen müssen. Ich hatte Holly doch schon angeboten eine Haushaltshilfe zu besorgen, aber dafür war sie sich zu gut.
Der Geschirrspüler lief bereits zum zweiten Mal, als ich den Müll einsammelte, die vollen Säcke im Flur abstellte, zusammenkehrte und die Oberflächen abwischte. Charlottes Spielzeug verräumte ich in den Kasten neben ihrem Bett. Sie schlief so ruhig und friedlich, dass ich überhaupt nicht glauben konnte, wie laut sie zuvor noch gebrüllt hatte. Wie kann ein so kleines Baby nur so laut schreien?
Plötzlich hörte ich, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel. Ich wendete meinen Blick vom Gitterbett ab und ging in das Wohnzimmer, in dem Holly zwei Tüten von Forever twentyone abstellte. "Du hast zusammengeräumt", bemerkte sie nüchtern.
Ich zuckte mit der Schulter. "Was hätte ich sonst tun sollen?" Ich ließ meine Hände in meine Hosentaschen gleiten. "Ich habe beschlossen dir jemanden zur Seite zu stellen, während ich nicht hier bin. Du allein bist überfordert und ein Nein lasse ich nicht gelten."
Holly sah mich nicht an, sondern widmete sich der Unterwäsche die sich aus einer Tüte zog. "Tu, was du nicht lassen kannst." Sie legte die rote Reizwäsche auf die Couch ab und zog das nächste Teil aus der Tüte.
Ist ihr das alles hier so egal?
Ich schüttelte den Kopf seufzend. "Ich habe dich früher wirklich geliebt, weißt du das?"
Holly hob den Kopf. "Ich liebe dich auch, Niall."
"Nein", ich schüttelte erneut den Kopf. "Ich sagte, ich habe dich geliebt. Das ist die Vergangenheit. Es gibt nur drei Frauen die für mich von Bedeutung sind und du bist keine davon. Du bist nicht wie Amara, du bis das Gegenteil, du bringst nur das schlechte im Menschen hervor, während Amara das Licht ist. Und mit meiner Mutter oder meiner Tochter wirst du nie mithalten können."
Holly schmunzelte und zog eine Augenbraue hoch. "Ich denke, du vergisst etwas. Nicht Amara ist die Mutter von Charly, sondern ich. Sie wird nie ihre Mutter sein."
"Na, dann hoffe ich für dich das du Charly nicht vergiftest, denn sonst werde ich dafür sorgen, dass du sie nie wiedersehen darfst."
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Jetzt bin ich auf eure Meinung gespannt. Versteht ihr nun, warum ich meinte, dass dieses Buch sehr stark mit Teil Eins verknüpft ist?
LG
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