4. Dezember
Ein genervtes Seufzen entfuhr Shota, als er in den Konferenzraum trat. Nedzu hatte sie alle zusammengerufen, weil er eine Ankündigung zu machen hatte. Eigentlich hatte der Dunkelhaarige angenommen, dass der Schulleiter nach ihrem gestrigen Gespräch noch ein wenig damit warten würde, um die Neuigkeiten zu verbreiten und sie alle vorsichtig darauf aufmerksam zu machen, dass ab dem nächsten Jahr eine Veränderung auf sie zukommen würde. Auch wenn es nicht wirklich etwas Großes war, erfüllte es Aizawas Herz schon jetzt mit Kälte und er hatte Angst, dass er erneut in das Loch zurückfiel, aus dem er die letzten Monate und Jahre langsam geklettert war. Doch wenn das passierte, was in diesem Brief angekündigt wurde, würde er zerbrechen. Er konnte es fühlen. Schon jetzt kroch die Kälte in ihm auf und er wagte es kaum, den Konferenzraum zu betreten.
Nur zu gerne wäre er wieder aus dem Raum gestürzt, doch Hizashi winkte ihn zu sich, da er neben ihm und Toshinori einen Platz freigehalten hatte. Dabei konnte Aizawa sich nichts Schrecklicheres vorstellen, als zwischen den beiden Blondschöpfen zu sitzen. Dennoch versuchte er sich zusammen zu reißen und setzte sich. Sein Sitzplatz war nicht weit weg von der Tür. Notfalls konnte er immer noch davon laufen. Doch was würde es ihm bringen? Sobald Nedzu die Nachricht verkündet hatte, würden alle Blicke auf ihm liegen und er konnte diesen zwar für den Augenblick mit einer Flucht entgehen, doch später im Wohnheim würden sie ihn alle belagern. Der Gedanke ließ ihn bleich werden.
„Alles in Ordnung bei dir?", fragte Yagi besorgt und legte eine Hand auf Shotas Arm, um ihm Beistand zu leisten, auch wenn er nicht wusste, was den Dunkelhaarigen bedrückte. Es schien jedoch so schlimm zu sein, dass ihm jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war und er so aussah, als müsste er sich jeden Moment übergeben.
Die Wärme, die die große Hand auf seinem Arm ausstrahlte, gab Aizawa für einen kurzen Moment tatsächlich etwas Zuversicht und Halt. Er erinnerte sich daran, dass er sich vor kurzem noch dem großen Mann anvertrauen wollte, es aber seither nicht wieder geschafft hatte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Irgendwie hatte er mittlerweile Angst davor, am Ende genauso zusammenzubrechen wie in Nedzus Büro und diese Blöße wollte er sich nicht geben. Dennoch schrie irgendetwas in ihm, dass es Toshinori gewiss nichts ausmachen würde, wenn er Shotas schwache Seite kennenlernte und eine Umarmung vom ehemaligen Profihelden mehr Halt und Trost geben würde als die von Nedzu.
Noch während er darüber nachdachte und noch nicht im Stande gewesen war, seinem Kollegen eine Antwort zu geben, betrat der Schulleiter den Konferenzraum und brachte somit die Gespräche der anderen Kollegen zum Verstummen. Die Anspannung und Nervosität schien in Aizawa immer mehr anzuwachsen, während Nedzu auf seinen Stuhl zu schritt und schließlich auf diesen kletterte, ehe er sich dem Kollegium zuwandte.
Jetzt wäre es gleich soweit. Jetzt würde es passieren und die Worte würden laut ausgesprochen werden. Ob er es aushalten würde, es laut zu hören? Er konnte nicht riskieren, dass seine Kollegen seinen Zusammenbruch sahen. Im Moment war es noch möglich schnell zu verschwinden. Doch der Moment verstrich schneller, als er angenommen hatte und seine Beine wollten ihm nicht gehorchen.
Nedzu räusperte sich und setzte ein Lächeln auf. „Meine lieben Helden und Lehrerkollegen! Ihr habt euch bestimmt gefragt, wieso ich euch heute zusammenrufe, obwohl ihr schon Feierabend hättet. Aber es hat einen guten Grund", verkündete die sprechende Maus und streckte die Arme aus.
Neben sich konnte Toshinori spüren, wie Aizawa leicht zu zittern begann. Besorgt wandte er seinen Blick von seinem Boss ab und sah zu Shota, der im Augenblick so wirkte, als ob er sich am liebsten sofort übergeben wollte. Am liebsten hätte er um eine kurze Unterbrechung gebeten, um dem jüngeren Kollegen hochzuhelfen und nach draußen an die frische Luft zu begleiten. Irgendetwas stimmte nicht, und es machte ihm große Sorgen.
„Ich möchte den Schülern gerne eine kleine Aufgabe stellen", fuhr Nedzu indes fort, „sie sollen in den nächsten Tagen einen kleinen Adventmarkt auf die Beine stellen. Der örtliche Kindergarten fällt seit Jahren langsam auseinander, und ich dachte mir, dass es endlich an der Zeit ist, dass wir sie ein wenig unterstützen und durch einen Basar Geld sammeln. Was haltet ihr davon?" Freudig streckte der Schulleiter seine Arme aus, und bekam von seinem Lehrerkollegium auch sofort Zuspruch.
All das nahm Shota jedoch kaum wahr. Stattdessen war er in seinem Stuhl zusammengesunken und atmete erleichtert aus. Er zitterte noch immer leicht, weswegen Toshinori damit begonnen hatte, sachte über seinen Arm zu streichen, während ihre Kollegen sich damit befassten ein paar Pläne auszuarbeiten. Der Blondschopf spürte, dass das, was Nedzu von sich gegeben hatte, wohl nicht das war, womit Aizawa gerechnet hatte. Doch hier war der falsche Ort, um nachzufragen, was er stattdessen erwartet hatte, und weswegen er so verloren wirkte. Nur zu gerne hätte er ihn in den Arm genommen und tröstend an sich gedrückt, doch er wusste nicht, ob Shota das in aller Öffentlichkeit zugelassen hätte.
„Eraser und Vlad King, meint ihr, dass eure Schüler diese Aufgaben hier übernehmen können und Konzepte ausarbeiten würden?", erklang plötzlich Nedzus Stimme und Shota fuhr hoch, als er seinen Namen hörte. Man hatte Zettel ausgeteilt, mit einer groben Planung. Sofort nickte der Dunkelhaarige, auch ohne einen Blick auf die Liste geworfen zu haben. Kurz trafen sich ihre Blicke, was Nedzu dazu veranlasste, dem bleichen Mann ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. „Gut, dann könnt ihr es ihnen ja in ihren Wohnheimen erklären!" Damit schloss der Schulleiter seine kurz einberufene Konferenz und verschwand schnell wieder.
Als Shota sich erhob, fühlte er sich elend. Zum einen, weil sein Kreislauf plötzlich komplett im Keller war und zum anderen, weil er sich so dämlich verhalten hatte. Nedzu hatte versprochen, es ebenso noch hinter dem Berg zuhalten, also hätte er gar keine Angst haben müssen, dass der Schulleiter die Bombe schon jetzt platzen ließ. Er fühlte sich dämlich.
Immer noch lag Toshinoris Blick auf Aizawa, der leicht schwankte, als er sich zur Tür aufmachte. Da er den Zettel hatte liegen lassen, griff Yagi nach den Unterlagen und folgte ihm. Genau im richtigen Moment, als Aizawa plötzlich stolperte. Sofort war er bei ihm und griff ihm unter die Arme. „Irgendwas stimmt doch nicht mit dir", stellte der Blondschopf besorgt fest und ließ es so aussehen, als würde er ihm freundschaftlich den Arm um die Schulter legen, obwohl er ihn in Wahrheit stützte.
Obwohl Shota nur zu gerne seinen großen Kollegen abgeschüttelt hätte, schaffte er es jedoch nicht, sich gegen ihn zu wehren. Außerdem kamen im nächsten Augenblick auch schon Hizashi und Nemuri auf die beiden zu. „Na, wie findet ihr die Idee? Ist doch genial oder?", stellte die Dunkelhaarige fest und legte ebenso einen Arm um Shota. „Aber Eraser findet es wohl eher zum Kotzen", bemerkte Hizashi belustigt und trat näher an Aizawa heran um ihn zu mustern, „du warst aber auch noch nie ein Weihnachtsmensch."
„Verpiss dich, oder ich kotz dir auf die Schuhe", knurrte Shota ungewöhnlich finster, was den Voicehero tatsächlich zurückzucken ließ. Im nächsten Augenblick riss sich der Dunkelhaarige auch schon los und stürmte zur Tür hinaus. Er konnte es sich nicht leisten, noch mehr Zeit hier zu verschwenden, und am Ende noch mehr Schwäche zu zeigen. Die Gefahr, dass sie herausfanden, was ihn bedrückte, war zu groß und er würde es nicht ertragen, wenn sie davon Wind bekamen. Am Ende würden sie ihn alle noch bemitleiden und das konnte er nicht gebrauchen.
„Könnt ihr nicht einmal aufhören, ihn aufzuziehen?", seufzte Toshinori schließlich, „ihr wisst, dass ich euch alle drei gut leiden kann, aber manchmal seid ihr einfach sehr unsensibel, wenn es um Shota geht." Auch wenn er sich nur ungern in die Angelegenheiten der anderen einmischte, war es ihm doch wichtig, es endlich anzusprechen. Die drei waren Freunde, beste Freunde sogar, doch manchmal gab es einfach Momente, in denen man sich fragte, wie diese Freundschaft überhaupt zustande gekommen war, wenn sie nicht einmal merkten, dass es ihm nicht gut ging. Vielleicht hatten sie sich nach all den Jahren aber auch nur auseinander entwickelt. Immerhin konnte sich Yagi nicht daran erinnern, dass es früher auch so zwischen ihnen gewesen war.
„Er will doch ohnehin nie über etwas reden", verteidigte sich Hizashi sofort und verschränkte die Arme, „er ist schon seit Tagen so seltsam, aber er wird es erst erklären, wenn er dazu bereit ist. Bis dahin behandeln wir ihn nicht anders als sonst." Bisher hatte es immer so funktioniert. Shota wollte weder Mitleid noch besorgte Blicke und machte nur noch mehr dicht, wenn er beides von ihnen bekam. So bestand wenigstens die Möglichkeit, dass er bald mit der Sprache rausrückte.
Doch der ehemalige Profiheld bezweifelte, dass es diesmal auch so einfach werden würde. Kurz sah er zu seinen Händen hinab, in denen er immer noch die Unterlagen für den Adventmarkt hatte. Ohne diese würde die 3-A nicht wissen, was sie zu tun hatte. Doch nicht nur aus diesem Grund hing sein Blick viel zu lange auf seinen Händen. Er hatte fühlen können, wie Shota sich etwas beruhigt hatte, nachdem er ihm die Hand auf seinen Arm gelegt hatte. Vermutlich war es auch nur Einbildung gewesen. „Ich bringe ihm die Unterlagen und rede noch einmal mit ihm", erklärte Toshinori, nachdem er sich endlich losreißen konnte.
„Wie du meist, Großer. Aber wir kennen Sho schon länger und wissen, wie er tickt", seufzte Nemuri und strich kurz tröstend über Toshinoris Arm, ehe sie sich bei Hizashi unterhakte und mit ihm den Raum verließ.
~*~*~*~
Als Toshinori jedoch zurück zum Lehrerwohnheim kehrte, konnte er Aizawa nirgendwo finden. Nur Eri saß in seinem Zimmer, über ihre Hausaufgaben gebeugt und sah sofort auf, als sie hörte, wie jemand den Raum betrat. Natürlich konnte der Blondschopf ihrem Blick entnehmen, dass sie jemand anderen erwartet hatte. „Suchst du ihn auch?", fragte sie sofort, als sie Yagis suchenden Blick bemerkte, „er war nach der Schule nur kurz hier und hat sich ein wenig Wärmer angezogen, weil er noch etwa für seinen Fall machen muss." Mehr hatte er ihr auch nicht gesagt. Nur, dass sie mit dem Essen nicht warten sollte, und hatte ihr ein bisschen Geld dagelassen, ehe er ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte und verschwunden war. „Langsam mache ich mir Sorgen. Irgendetwas bedrückt ihn", meinte sie und seufzte.
Verwundert sah Toshinori sie an. „Wie kommst du darauf?"
„Weil er sich zurückzieht und sich seltsam verhält. Er denkt zwar, dass es mir nicht auffällt, aber mittlerweile kenne ich ihn auch schon sehr gut ...", murmelte sie verlegen. In letzter Zeit verhielt sich Aizawa genauso wie früher, als sie noch nicht lange an der UA gewesen war. Damals hatte er sich immer wieder zurückgezogen und abgekapselt, weil er dachte er wäre niemanden wichtig und es würde niemanden auffallen. Erst langsam hatte er sich, vor allem Eri gegenüber geöffnet, doch in letzter Zeit verhielt er sich einfach seltsam.
Sofort trat Toshinori näher und nahm Eri in den Arm. „Ich glaube, dass er das nicht einmal mit Absicht macht", versuchte er sie zu trösten, als er merkte, dass sie zu schniefen begonnen hatte, „alte Muster legt man selten schnell ab. Aber wir finden schon heraus, was los ist." Ein Versprechen, dass er ihr geben würde. Immerhin war für morgen Abend ein Karaokeabend im Kollegium geplant und dort könnte Yagi den Dunkelhaarigen bestimmt in ein Gespräch verwickeln. Zumindest nahm er es sich vor.
Eri nickte, löste sich von dem großen dürren Mann und setzte ein Lächeln auf. „Sag mal, hast du Hunger? Papa hat mir Geld dagelassen, wir könnten Essen gehen", schlug sie vor. Zum Dank, weil Toshinori ihr helfen wollte, wollte sie ihm zum Essen einzuladen. Sie konnte sich erinnern, dass Aizawa ständig anmerkte, wie dürr und untergewichtig der ehemalige Profiheld war. Zumindest war er immer das Paradebeispiel, dass Shota brachte, wenn Eri verkündete, sie hätte keinen Hunger und nichts essen wollte. Dabei war es wichtig sich immer ausreichend zu stärken. Vielleicht hatte er ihr deswegen so viel Geld dagelassen, damit sie Yagi mitnahm.
Tatsächlich willigte der Blondschopf ein und wenig später waren die beiden auch schon warm eingepackt auf dem Weg zu einem Imbiss.
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