2. Dezember
Nachdem er sich fast die gesamte Nacht nur in seinem Bett hin und her gewälzt hatte, und an Schlaf nicht zu denken war, sah er früh am Morgen auch dementsprechend aus. Wenn er nicht schon so kalt gewesen wäre, und er dadurch furchtbare Schmerzen in seinem rechten Ellenbogen verspürte, hätte er die Zeit zum Trainieren nutzen können. Doch er bezweifelte, dass er zu später Stunde noch eine Erlaubnis von Nedzu hätte bekommen können, um eine der Trainingshallen zu nutzen.
Schließlich bestand die Maus darauf, dass auch die Lehrer gewisse Formulare ausfüllten, und Shota hatte nicht wirklich darauf Lust, sich nachts zu erklären, wieso er lieber trainierte als schlief. Am Ende hätte der Schulleiter ihn noch so vollgequatscht, dass er in seinem Büro eingeschlafen wäre. Zweimal war ihm das schon passiert, danach hatte er angefangen, nachts, wenn er nicht schlafen konnte, lieber laufen zu gehen, aber bei den momentanen Temperaturen würde er sich nur eine Erkältung einfangen. Wobei es wohl besser wäre, krank im Bett zu liegen, als sich aus eben jenem zu quälen, um sich für den Unterricht fertig zu machen. Noch immer lag ihm der gestrige Brief schwer im Magen.
Um etwas wacher zu werden, entschied er sich für eine kalte schnelle Dusche, ehe er in den Speisesaal des Lehrerwohnheims trat. Zum Glück war das Wohnheim bisher weitgehend von der Dekorationswut verschont geblieben, wie Aizawa erleichtert feststellen durfte. Immer noch im Gedanken darüber versunken, wie bescheuert er diese Staubfänger überhaupt fand, merkte er nicht, dass jemand in der Tür zum Speiseraum stand.
„Uff", entfuhr es ihm, als er gegen etwas Hartes prallte und zurückstolperte. Erschrocken atmete das Hindernis aus und wandte sich sofort um. Schnell griffen Toshinoris knochigen Hände nach Shota, der just in diesem Moment drohte, auch noch über Hizashis Speaker zu stolpern, der ungünstig im Weg stand, und zog ihn zu sich. „Es tut mir so leid, dass ich im Weg stand!", entschuldigte sich Yagi augenblicklich.
Dennoch war Shotas Blick finster, als er zu dem Blondschopf aufsah, der ihn seltsamerweise fest an sich drückte, ehe er versuchte, sich aus dem Griff zu befreien, weil ihm diese Nähe doch etwas unangenehm wurde. „Schon gut", murrte er vor sich hin.
„Ouwh! Das ist ja süß", erklang es plötzlich hinter ihnen, „siehst du, Zashi? Ich sagte doch, dass es ein guter Ort wäre, um einen Mistelzweig anzubringen?" Schelmisch grinsend traten Yamada und Kayama näher, und zwinkerte ihnen zu.
„Mistelzweig?", fragte Toshinori verwundert, ehe er seinen Blick zum Türstock nach oben wandern ließ und sofort knallrot anlief. Tatsächlich hing über den beiden Männern einer dieser Zweige, die man an Weihnachten gerne anbrachte, um ahnungslose Menschen in eine Falle zu locken und Küsse zu ergattern.
Sofort riss Aizawa sich von dem großen Blonden los, der plötzlich wie erstarrt wirkte und ging an ihm vorbei in den Speisesaal. „Seid nicht immer so verdammt kindisch", beschwerte er sich laut, und war froh, dass er endlich an seinen Kaffee kam. Nach so einem Fiasko brauchte er einen doppelten Espresso und eigentlich auch Ruhe vor seinen nervigen Freunden, die er vor seinem zweiten Kaffee ohnehin nie ertrug.
„Du weißt, dass das Unglück bringt, wenn man sich nicht küsst, ja? Es ist wie ein Fluch", meinte Hizashi belustigt und trat mit Nemuri unter den Zweig, ehe er ihr seine Zunge in den Hals schob.
„Bullshit", murrte Shota und wich einem Blick von Yagi aus, der sich verzweifelt umsah. Wieso musste der ehemalige Nummer Eins Held sich immer so anstellen? Immerhin sollte er mittlerweile wissen, dass weder Yamada noch Kayama wirklich ernst zu nehmen waren und beide ihre Beziehung seit Jahren gerne raushängen ließen, sodass es nervte. Doch Aizawa musste zugeben, dass auch es auch ihm im Moment mehr auf den Keks ging als für gewöhnlich. Vermutlich machte das diese bescheuerte Adventzeit. „Könnt ihr das lassen? Hier wollen Menschen schließlich essen!", erinnerte er seine beiden beste Freunde schließlich, ehe er seine Kaffeetasse bis oben hin anfüllte und einen langen Schluck nahm.
~*~*~*~
Nach diesem furchtbaren Morgen war es natürlich kaum verwunderlich, dass der Tag ebenso beschissen war. Die Schüler hatten es tatsächlich geschafft, das Klassenzimmer zu schmücken. Doch anders als sie erhofft hatten, brachte es nicht den gewünschten Effekt. Denn anstatt sich zu freuen, stöhnte Aizawa nur genervt, als er schon von weitem die Girlanden sah, die die Tür zierten. Er musste mit sich kämpfen, um nicht danach zu greifen, um es mit einem Ruck von der Tür zu reißen und in den nächsten Mülleimer zu pfeffern. Stattdessen sagte er sich, dass er den Anblick für diese Woche ja nur mehr ein paar Tage ertragen musste, dann wäre es vorbei damit. Zumindest hatten seine Augen am Wochenende dann eine Pause von diesen Abnormitäten, bis er sie erneut sehen musste.
Auch das Klassenzimmer sah so aus, als hätte der Weihnachtsmann persönlich sich übergeben. „Na, gefällt es ihnen?", wollte Mina freudig wissen. Die Mädchen der Klasse hatten sich unglaublich viel Mühe gegeben, um das Klassenzimmer zu dekorieren. Natürlich hatten eine Handvoll Jungs geholfen, weil sie der Meinung waren, dass es für einen guten Zweck war, aber die meisten waren eher der Meinung gewesen, dass ihr Lehrer schon Recht hatte und sie die Zeit lieber zum Lernen nutzen sollten, anstatt so etwas sinnloses zu tun.
Als ihn die freudigen Mienen anstarrten und man von ihm tatsächlich eine Antwort erwartete, unterdrückte er ein Stöhnen, einen genervt klingenden Kommentar und das Augenrollen. Nach all den Jahren hatte er eingesehen, dass es nichts brachte, die Kinder, die mittlerweile schon alle fast erwachsen waren, anzufahren und zurecht zu weisen. Meist brachte das immer den gegenteiligen Effekt, wie er im Moment auch wieder feststellen musste. Immerhin hatte er ihnen gestern noch gesagt, dass es keine Weihnachtsdekoration geben würde. „Es sieht ... toll aus", zwang er sich zu sagen, und konnte nicht verhindern, dass ein rechtes Augenlid unkontrollierbar zu zucken begann.
Überraschenderweise schienen seine Worte dennoch überzeugend zu klingen, denn die Mädchen sprangen freudig in die Luft, ehe sie sich endlich auf ihren Plätzen niederließen. Erleichtert darüber, nun endlich in Ruhe gelassen zu werden, zupfte Aizawa eine übergroße Weihnachtsmütze von seinem Stuhl und begann endlich mit dem Unterricht.
~*~*~*~
Der Tag verging ziemlich ereignislos. Nach all den Strapazen der letzten Jahren, und den vielen unvorhersehbaren Abenteuern, in die sie geraten waren, empfand es Toshinori als ziemlich angenehm, die ruhige Zeit des Advents genießen zu können. Dennoch ertappte er sich dabei, wie er seit ein paar Minuten starr aus dem Fenster des Lehrerzimmers blickte und seit geraumer Zeit keinen Satz mehr in seinem Bericht getippt hatte. Irgendwie ging ihm dieser peinliche Zwischenfall von heute Morgen einfach nicht mehr aus dem Kopf. Dabei fiel ihm ein, dass er eigentlich im Internet recherchieren wollte, ob es tatsächlich stimmte und ein verweigerter Kuss zu Unglück führte.
Doch ehe er dem Vorhaben endlich nachgehen konnte, tauchten plötzlich zwei Gestalten hinter ihm auf, die sich an seine Schulter lehnten. „Yo, big Buddy! Willst du mit uns mitkommen zum Essen? Eraser hat uns mal wieder versetzt!", erklang Hizashis Stimme neben seinem Ohr und ließ Yagi erschrocken zusammen zucken. Dafür, dass er einst der größte Held Japans war, hatte er sich in den letzten Jahren zu einer sehr schreckhaften Person entwickelt. Vielleicht lag es auch immer nur daran, dass seine Kollegen die dumme Angewohnheit hatten, plötzlich hinter ihm aufzutauchen.
Als er sich umwandte, ließen Nemuri und Hizashi ihn los und musterten ihn. „Du siehst blass aus, alles in Ordnung?", fragte die Dunkelhaarige besorgt, während sie nun an Yamada lehnte, der seine Arme um ihre Hüften geschlungen hatte. Bis heute fragte Yagi sich, wie diese Beziehung zustande kommen konnte. Laut Aizawa waren die beiden bereits seit ihrer Schulzeit ein Paar, doch sie wirkten auch heute noch wie frisch verliebt.
Irgendwie versetzte dieser Gedanke dem Älteren einen Stich. Bereits seit seinem Rücktritt und dem Tod eines seiner besten Freunde hatte Toshinori das Gefühl, dass etwas aus der Dunkelheit seine gefährlichen Klauen nach ihm ausgestreckt hatte und versuchte ihn nach unten zu ziehen. Er fühlte sich einsam, obwohl er im Kollegium zumindest eine Handvoll toller Freunde gefunden hatte. Heute jedoch waren es genau diese Freunde, die ihm das fürchterliche Gefühl, allein zu sein, vermittelte. Der Anblick des verliebten Pärchens setzte ihm irgendwie gerade jetzt mehr zu als sonst. „Nein, mir geht es gut. Ich habe nur keinen Hunger! Ihr könnt also ohne mich los!", erklärte er ihnen. Schließlich wollte er auch nicht das dritte Rad am Fahrrad sein.
„Ihr seid beide miese Verräter", motzte Yamada sofort drauf los, doch Nemuri knuffte ihm in die Seite und versuchte, seine schlechte Laune ein wenig zu heben. „Arbeite nicht mehr zu lange. Pausen sind wichtig", meinte Kayama an Yagi gerichtet, ehe sie ihm kurz zum Abschied auf die Stirn küsste, so wie sie es immer tat, bevor sie mit ihrem Freund den Raum verließ.
Seufzend wandte Toshinori sich wieder seinem Computer zu, doch da er die nötige Konzentration nicht wieder finden konnte, machte er ihn schon bald aus, um nach Hause zu gehen. Eigentlich hatte er die beiden vorhin angelogen. Er hatte Hunger, doch das merkte er erst, als er das Lehrerwohnheim betrat und der Duft von Frischgekochtem in seine Nase stieg. Kurz schloss er seine Augen, als er den Geruch einsog, ehe er beschloss nachzusehen, wer da in der Küche am Werk war, während die anderen sich alle von Lunch Rush bekochen ließen.
Überrascht darüber, wen er in der Küche erblickte, hielt Yagi in der Tür inne. Mit Leichtigkeit hackte der Dunkelhaarige, der hinter der Küchentheke stand, Gemüse klein und warf es anschließend in eine Pfanne, um es anzubraten. Er schien den Besucher noch nicht bemerkt zu haben, der seine Jacke auf einem Stuhl ablegte und näher trat. „Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst", machte Toshinori sich bemerkbar.
Doch auch wenn Shota nicht aufgesehen hatte, blieb ihm nicht verborgen, dass er nicht mehr alleine war. Schließlich musste man gerade als Undergroundhero sehr aufmerksam sein, selbst wenn man gerade nicht seiner Heldentätigkeit nachging. Er sah nicht auf, als sein Kollege näher trat, sondern schwenkte die Pfanne. „In den letzten Jahren habe ich einiges dazu gelernt", gestand Aizawa, ehe er sich weitere Zutaten griff und sie zum Gemüse hinzufügte.
„Für Eri?", fragte Yagi neugierig, ehe er einen Hocker nach hinten zog und darauf platznahm.
Shota nickte und wandte sich kurz mit dem Rücken zu dem großen Blonden, damit er sein Gesicht nicht sehen konnte, während er nach zwei Tellern griff. Für Eri hatte er sich in den letzten Jahren so einiges angeeignet, von dem er früher immer der Meinung war, dass er es niemals für sich selbst brauchen würde. Doch als klar wurde, dass er sich nicht mehr nur um sich selbst kümmern musste, sondern auch um ein Kind, musste er einiges ändern. An sich und seinem Verhalten. Allein der Gedanke ließ ihn wehmütig das Gesicht verziehen.
Als sich Aizawa jedoch wieder an Toshinori wandte, konnte man davon nichts erkennen. Stattdessen stellte er die zwei Teller auf der Kücheninsel ab und begann das Essen anzurichten. „Du siehst hungrig aus", murrte er nur, ehe er seinem Kollegen das zweite Teller hinschob. Kurz musterte Yagi die Nudeln und das Gemüse auf seinem Teller, was dem Dunkelhaarigen nicht verborgen blieb. „Keine Sorge, das sind alles Sachen, die du verträgst", erklärte er, ehe er sich umwandte und einen Schrank ganz unten öffnete, ehe er darin zu kramen begann und eine Flasche hervorzog. „Hizashi und Nemuris Weinlager. Möchtest du einen Schluck?", fragte er aufmerksam und bemühte sich schon einmal, zwei Gläser herbeizuschaffen. Irgendwie war ihm im Moment nach einem Glas Rotwein, und er wollte nicht unhöflich sein.
Kurz runzelte der ehemalige Profiheld seine Stirn, ehe er nickte. „Ja, ein kleiner Schluck sollte keinen allzugroßen Schaden anrichten. Danke!" Lächelnd sah er zu Shota, der ihm tatsächlich nur ein kleines Bisschen in das große Rotweinglas füllte, während er sein eigenes halbvoll machte. Für Yagi war es immer noch ein wenig seltsam, dass sich nach dem anfänglich holprigen Start zwischen den beiden, so langsam so etwas wie eine Freundschaft entwickelt hatte. Dafür waren wohl vor allem Mic und Midnight verantwortlich, die Yagi schnell integrieren wollten, aber auch die Abenteuer, in die Shota und Toshinori mit hineingezogen wurden, hatten das brüchige Band zwischen ihnen langsam gefestigt. Daher wusste der Blondschopf auch, dass ein großes Glas Wein bei Shota an einem Wochentag und um diese Uhrzeit nichts Gutes zu bedeuten hatte. „Ist alles in Ordnung bei dir?", fragte er schließlich nach, nachdem Shota ihm zugeprostet und das Glas in einem Zug fast wieder geleert hatte.
Aizawa zuckte nur kurz mit den Schultern, ehe er das Besteck aus der Schublade holte und seinem Kollegen eines davon reichte. „Es ist im Moment einfach alles nur ein bisschen ... zu viel", seufzte der Dunkelhaarige und begann in seinem Essen herumzustochern.
„Die Deko? Oder das ungebührliche Verhalten von MidMic, oder wie auch immer sie sich im Moment selbst nennen", seufzte Toshinori. Die beiden hatten sich im Laufe der Zeit unzählige Shippingnamen selbst verpasst, sodass man schnell den Überblick über den aktuellsten verlor. Am liebsten hätte Yagi seinen jüngeren Kollegen gefragt, ob er sich auch oft wie ein überflüssiger Mensch fühlte, wenn die beiden ihre Beziehung raushängen ließen, doch irgendwie blieb ihm diese Frage im Halse stecken.
„Das auch ... aber ..." Shota hatte bereits darüber nachgedacht, ob er seine Bedenken, und Gefühle, die dieser Brief von gestern in ihm ausgelöst hatte, jemanden anvertrauen sollte, und er war auch tatsächlich fast so weit einen Freund einzuweihen. Denn auch wenn er Yagi anfangs nervtötend fand, hatte er sich mittlerweile zu einem guten Freund entwickelt. Vor allem wenn sie zu viert unterwegs waren, fanden es die beiden immer angenehm, das sie sich unterhalten konnten, wenn MidMic mal wieder das Paar raushängen ließ. Aus diesem Grund war es auch kaum verwunderlich, dass Aizawa nun Yagi dazu auserkoren hatte, sich seine Probleme anzuhören.
Doch genau in diesem Moment öffnete sich die Tür, und ein nicht mehr ganz so kleines Mädchen kam freudig strahlend in die Küche. „Hallo!", grüßte Eri laut und lief auf Shota zu, um ihm zur Begrüßung in die Arme zu fallen, „die Schule heute war toll! Wir durften im Zeichenunterricht unser perfektes Weihnachtsfest aufmalen!" Sofort berichtete sie freudig über alles, was an diesem Tag passiert war. Die fast 10-jährige war überglücklich, dass sie jeden Tag zur Schule durfte, und freute sich ebenso, danach zur UA zurückzukehren und gemeinsam mit dem Mann, dem sie das alles zu verdanken hatte, zu essen und die Hausaufgaben zu erledigen.
Das Gespräch, dass Shota somit mit Toshinori führen wollte, war sofort nebensächlich, was auch Yagi spürte. Die veränderte Stimmung des Dunkelhaarigen war ihm nicht entgangen. Während er wenige Sekunden zuvor noch niedergeschlagen gewirkt hatte, räumte er nun sein leeres Weinglas beiseite und lauschte leicht lächelnd den Worten des Kindes. Darin war Aizawa schon immer ein Meister gewesen. Seine eigenen Gefühle zu verbergen und hinten anzustellen, um sich um andere zu kümmern. Kurz beobachtete Toshinori die beiden, ehe er ebenso in das Gespräch mit einstieg und ein Lächeln aufsetzte.
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