My darkest place

Part I: Visions

»Meine Liebe, Sie sollten sich nicht so lange mit mir alter Dame die Zeit vertreiben. Sie waren die ganze Nacht hier. Sie müssen sehr müde sein.«

Ich lächelte, während ich Mrs Barkley ihre Tasse mit Kamillentee vollgoss.

»Das ist schon okay. Ich mag unser alltägliches Ritual um Punkt zehn Uhr.« Ich zwinkerte ihr verschwörerisch zu und reichte ihr die weiße Porzellantasse. »Sie wissen doch, wie gerne ich mit Ihnen Tee trinke und über die neuesten Gerüchte quatsche.«

Sie lächelte hinter vorgehaltener Hand und ihre blondgefärbten Löckchen sprangen auf und ab. »Haben Sie schon von Mr. Phil und Miss Abigail gehört?« Fragend schaute ich sie an. »Ich glaube, sie haben ein kleines Techtelmechtel.« Es schien ihr peinlich zu sein, dass sie es herausgefunden hatte, aber dennoch amüsierte es sie auch sehr.

Zuerst wich ich verwundert mit dem Kopf zurück, ehe ich mir ein Lächeln nicht mehr verkneifen konnte. »Davon habe ich noch nicht gehört.«

»Ich auch nicht, aber glauben Sie mir, ich habe Augen im Kopf.«

Und eine Lebenserfahrung von siebenundneunzig Jahren, dachte ich und gab etwas Zucker mit einer Zange in meinen Tee.

»Und Miss Blairs'Bäuchlein ist mir auch nicht entgangen.«

Ich machte einen erstaunten Laut. »Glauben Sie etwa, sie ist ...«

»Eindeutig in freudiger Erwartung", flüsterte Mrs Barkley und zuckte verschmitzt mit den Schultern, ehe sie erneut an ihrem Tee nippte und beide Hände dafür benutzte.

Manchmal kam sie mir vor wie ein kleines, verspieltes Kind, aber in ihr steckte so viel mehr. Sie war gewitzt, sehr gebildet und hatte mit dem Krieg, einer gescheiterten Ehe und einem Leben arbeitend in einer Textilfabrik vieles erlebt. Dabei hatte sie so viel Besseres verdient als das.

Und auch in dieses Seniorenheim hier gehörte sie nicht. Allerdings wohnten ihre drei Kinder im Ausland und hatten kaum Zeit, sie zu sich zu holen, um sich um sie zu kümmern. Ich war gerne ein Ersatz für sie, auch wenn ich das vielleicht niemals so richtig sein konnte, aber irgendwie fühlte ich mich verantwortlich dafür, ihre letzten Jahre zu bereichern, auch wenn es nur mit einer täglichen Tasse Tee und etwas Klatsch und Tratsch war.

Ich senkte die Lider. »Blair kann sich sehr glücklich schätzen.«

»Und haben Sie schon Pläne für das Wochenende?«

Mrs Bakley riss mich aus meinen Gedanken. Sie schien bemerkt zu haben, wie traurig ich augenblicklich geworden war. »Ja, ein paar. Heute ist Halloween.«

»Ach du liebe Zeit. Das habe ich total vergessen.«

»Hier schauen Sie mal ... dieses Bild habe ich für Sie gemacht. Als ich auf dem Weg zur Arbeit war, habe ich diesen großen Kerl hier entdeckt.« Ich überreichte ihr mein Handy. »Ein riesiger Kürbis, nicht wahr? Und das mitten im Wohngebiet. Die Dekoration der Leute in der Nachbarschaft wird von Jahr zu Jahr immer verrückter. Ich schätze, es ist eine Art Hüpfburg für Kinder. Vielleicht auch ein Durchgang, um die Süßigkeiten an der Haustür zu erhalten. Eigentlich eine süße Idee.«

Erstaunt blickte Mrs Barkley auf das Bild des Riesengemüses aus Plastik.

»Heute Abend gehe ich mit ein paar Freunden zu einer Halloween-Party. Ziemlich klischeehaft, nicht wahr?« Ich kicherte.

»Ihr jungen Menschen solltet so viel Spaß haben, wie nur irgend möglich. Die Welt ist grausam genug. Es ist wichtig, die Zeit, die wir geschenkt bekommen, in vollen Zügen zu genießen.«

»Wie haben Sie früher Halloween verbracht?«

»Damals als ich ein Kind war, gab es Halloween nicht in dieser Form wie heutzutage, aber meine Großmutter liebte es uns in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie besaß ein Buch voller Spukgeschichten und las uns an Halloween immer daraus vor. Wir verbrachten Stunden vor dem Kamin. Sie brachte uns immer Äpfel vom Bauern mit oder kandierte Nüsse. Ein Festmahl zu damaliger Zeit. Doch nach ihren vielen Geschichten über Werwölfe, Geister und Hexen fiel es uns oft sehr schwer zu schlafen. Andauernd schreckten wir hoch, da wir meinten ein Geräusch gehört zu haben.  Es war sehr gemein von ihr, aber wir waren auch selber schuld. Wir wollten es schließlich hören.« Sie lachte in sich hinein.

»Das klingt nach guten, alten Zeiten an.«

Mrs Barkley wurde nachdenklich und sah sich in der weißen Spitzentischdecke auf dem kleinen Eichentisch vor uns fest. Die Stille wurde beinahe unangenehm, als ich meine Hand auf ihre legte und sie somit wieder ins Hier und Jetzt beförderte. Sie schaute auf und lächelte.

»Und obwohl ihre Geschichten allesamt grausig waren, so ließ mich eine bestimmte Geschichte nicht mehr los.«

»Welche war es? Vielleicht kenne ich sie.«

»Die Geschichte von dem Mädchen mit dem goldenen Herzen.«

Ich legte den Kopf schräg. »Nein, ich denke, die kenne ich nicht. Erzählen Sie mir davon?«

»Einst fand ein Mädchen mit goldenem Herzen ein Platz auf dieser Welt. Sie war ein glückliches Kind. Ihr Herz machte Luftsprünge vor lauter Lebenslust. Sie konnte jeden Menschen glücklich machen, aber die Menschen konnten damit nicht umgehen. Sie nahmen die Gefühle an, doch zerstörten das Kind mit boshaften Worten. Immer und immer wieder. Das goldene Herz begann zu rosten, es machte keine Luftsprünge mehr, das Mädchen lachte nur noch selten, doch wenn es erschallte, lachte die ganze Welt voller Frieden.

Doch die Menschen wurden nicht besser. Sie traktierten das Kind. Das Herz verrostete vollständig, bis es schließlich schwarz anlief. Bald schon pochte das dunkle Herz aus Teer so gleichmäßig wie die Herzen all derer, die das Kind brachen. Es wuchs zu einer jungen Frau heran, die genauso wurde wie alle anderen. Sie liebte es glücklich zu sein, aber sie akzeptierte es nicht und weigerte sich es anzunehmen und zerstörte von nun an alle goldenen Herzen, die sich ihr in den Weg auf ein frohes Leben stellten.«

Mit Tränen in den Augen sah ich zu Mrs Barkley. Ein Wimpernschlag reichte aus, als sie mir schon über die Wangen liefen. Ich verstand die Metapher der Geschichte. Dies war der wahre Horror, denn es war real. Es konnte überall passieren und das tat es auch.

Ständig.

Mrs Barkley schien dieser Geschichte auch einen tieferen Sinn zu geben. Summend nahm sie noch einen Schluck Tee.

»Wir müssen stets auf uns selbst aufpassen, Liebes. Denn sonst tut es niemand.«

»Aber ich passe auf Sie auf«, versprach ich.

»Das heißt, Sie sind am Montag wieder da?«

»Genau. Am Montag bin ich wieder da. Und dann trinken wir wieder einen Tee zusammen.«

»Darauf freue ich mich sehr. Sie sind die gute Seele dieser grauen Einrichtung.«

Sie hatte nicht Unrecht, wenn sie von grauer Einrichtung sprach. Ihre bunten Jacken aus Seide, der alte, verzierte Ohrensessel, die goldfarbene Stehlampe und antiken Vasen aus Japan, waren das Schönste hier in diesem Zimmer und gaben ihm etwas Flair. Die anderen Bewohner waren oft verarmt und lebten mit den Möbeln, die ihnen das Heim zur Verfügung stellte. Und das waren oft nicht die Besten. Sie nahm meine Hand in ihre und drückte sie.

»Oh nein, die anderen sind wirklich auch sehr nett«, beteuerte ich.

»Sie wissen genauso gut wie ich, dass das nicht stimmt, aber ich weiß, dass Sie es sagen müssen. Gute Jobs sind heutzutage schwer zu finden und man möchte sich schließlich nicht unbeliebt machen.«

Ich blickte beinahe entschuldigend drein.

»Sie sind nicht glücklich hier, ich kann es in Ihren Augen sehen.«

Und auch das war Mrs Barkley nicht entgangen. Ich schaute zu den Bildern ihres früheren, jungen Lebens zurück, welche direkt über ihrem Bett in einer schwarz-weißen Welt hingen. Ich hätte so gerne die Farbe ihrer Kleidung und ihres Lippenstiftes gesehen. Alles war verloren. Zumindest irgendwann. Diese Vorstellung ließ mich jedes Mal nachdenklich werden.

»Es ist schon in Ordnung. Vielleicht kann ich meine Träume ja eines Tages doch noch leben und so lange es noch nicht so weit ist, bleibe ich einfach hier. Und selbst wenn ich für immer hier bleiben sollte«, ich stand auf, »dann ist das auch gut so.«

Ich teilte ein ähnliches Schicksal wie Mrs Barkley, obwohl ich ihr niemals etwas darüber erzählt hatte. Auch, wenn ich keine unglückliche Ehe geführt hatte, so hatte ich bisher gar keine geführt, da die Hochzeit geplatzt war, als ich meinen Verlobten mit einer anderen Frau in einem Café entdeckte. Sie planten ein Leben außerhalb der Vereinigten Staaten und ich sah ihn nie wieder.

Der Traum, eine bekannte Malerin zu werden, platzte mit seinem Verschwinden, da er alles Kreative, was in mir wie ein wundervoller, farbenfroher Wirbelsturm getobt hatte, einfach so mit sich nahm. Schließlich landete ich hier. Auf dem Boden der Tatsachen. Dabei war alles ganz anders geplant gewesen. Er und ich, gemeinsam ein Häuschen irgendwo am Strand. Während ich meine Bilder verkaufte und in Museen ausstellen durfte, lebte er seinen Traum von einem eigenen mexikanischem Restaurant, nicht weit von unserem niedlichen Heim entfernt. Das Leben konnte einem wirklich sehr oft in die Karten spielen.

Als ich für ein paar Sekunden nichts mehr hören könnte, drehte ich mich herum und sah, dass Mrs Barkley mit starrem Blick auf ihrem Sessel saß, die eine Hand krallte sich in ihre rechte Stuhllehne, während die andere in diesem Moment ihre Teetasse zerspringen ließ.

»Mrs Barkley!«, schrie ich und rannte auf sie zu.

Ich sah, wie das Blut über ihre Finger rann und ihr ganzer Körper zu zittern begann. Wie ferngesteuert eilte ich ins Bad und schnappte mir ein Handtuch. Innerhalb weniger Sekunden war ich wieder bei ihr, fiel auf meine Knie und presste es gegen ihre Handinnenfläche.

Ihre Augen wirkten so leer und starr.

»Das Tor ist geöffnet - die Königin ist verloren, doch sie suchen sie, aber nicht ohne Tribut. So viel Dunkelheit ... ein Wald in einer Ewigkeit ...«

Da ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte, drückte ich den Notfallknopf.

»Alles wird gut«, sprach ihr zu. »Vielleicht muss es nicht mal genäht werden.« Mit kurzem Blick auf ihre Hand wurde mir schwindelig. Es musste definitiv genäht werden.

»Mein Kind. Mein liebes, liebes Kind. Es tut mir so leid.« Ihre knochige, eiskalte Hand legte sich plötzlich an meine Wange und Tränen traten in ihre hellblauen Augen. Ich spürte das brennende Metall ihrer Goldringe an meiner Haut.

»Machen Sie sich keine Gedanken. Die Scherben kehren wir auf und ihre Wunde wird jeden Moment versorgt. Es ist okay«, sprach ich ruhig auf sie ein.

Sie blickte mich für einen Moment an, ehe sie den Kopf schräg legte und voller Verzweiflung weinte: »Ihr Tod ist ganz und gar nicht okay.«

Ich riss die Augen auf, als ich schon die lauten Stimmen auf dem Flur hören konnte.

Part II:  Hopes&Tears

Ich spielte mit dem Schlüssel in meinen Händen und schaute mich in dem wilden Muster des Bodens fest, als Harper aus dem Aufenthaltsraum kam, in ihrer Hand eine große Kuchenglocke.

»Hiermit überreiche ich dir feierlich die selbstgemachte Kürbissuppe und frisch gebackenen Cupcakes in Fledermausform meiner Grandma. Der alten Tradition wegen!«

Ich lachte, obwohl mir danach gar nicht zumute war. »Oh wow! Damit habe ich wirklich nicht gerechnet! Vielen Dank!«

Ich umarmte Harper und nahm die Kuchenglocke entgegen. Wir kannten uns bereits aus Kindertagen und waren die besten Freunde. Ihre Familie war in alle Welt verstreut, außer ihre Großeltern, die sich rührend um sie und auch um mich kümmerten. Ich war lange nicht mehr bei ihnen gewesen. Vielleicht hätten sie sauer auf mich sein müssen, aber das waren sie nicht. Dafür waren sie viel zu gute Menschen.

»Lass es dir schmecken!«, sagte sie und rieb mir über meinen Rücken. »Wir sehen uns dann heute Abend um sieben bei dir. Ich kann's kaum erwarten, dir mein sexy Katzenkostüm zu zeigen. Damit stelle ich Catwomen komplett in den Schatten.« Sie vollführte einen kleinen Hüftschwung und lachte laut.

Mrs Barkley hätte ihre reine Seele erkennen müssen. Sie war es auch gewesen, die mir diesen Job hier beschaffte. Ohne ihren guten Einfluss auf Mrs Clancy, unsere Chefin und Leiterin des Seniorenheimes, hätte ich niemals einen Platz hier bekommen. Schließlich war ich eine absolute Quereinsteigerin, als Kunststudentin.

»Als was gehst du jetzt eigentlich? Hast du dich schon entschieden?«

»Lass dich überraschen«, sagte ich nur, als ich plötzlich sah, wie zwei Rettungssanitäter mit einer Liege an mir vorbeischnellten.

»Es wird wirklich Zeit, dass du dich mal in ein richtiges Kostüm wirfst.« Da erhaschte auch sie das Rettungsteam. »Arme Mrs Barkley. Aber mach dir nicht so viele Gedanken. Sie hat Demenz und ist wirklich sehr alt. Manchmal haben unsere Bewohner nun mal solche Attacken.«

»Ich weiß, mir fällt es nur so schwer. Sie erinnert mich immer an meine Grandma.«

»Und du sie an ihre Enkelin oder Tochter. Wie aus einem früheren Leben.« Da piepste es plötzlich wieder aus einem anderen Zimmer und dann aus einem weiteren.

Harper schaute entschuldigend drein. »Ich muss wieder los. Genieß deinen Feierabend. Wir sehen uns später.«

»Wie lange musst du noch?«

»Bis 3 Uhr. Dann besuche ich noch meinen Grandpa. Er hat gesagt, es gibt Rum und ein kleines Lagerfeuer. So wie jedes Jahr! Danach bin ich dann Zuhause, um mich aufzuhübschen.«

»Das mit dem Rum klingt verlockend«, grinste ich, um ihr die Vorfreude nicht zu nehmen. In mir drin sah es jedoch ganz anders aus. »Bis später, Harper. Ich freue mich!«

Draußen angekommen, checkte ich noch schnell meine E-Mails und ein paar Nachrichten meiner Freunde für die heutige Halloween Party in Audrey's Crazy Mansion. Eigentlich war es einfach nur Audreys Little Nightcafe, aber heute feierte die halloweenverrückte Dame ganz im Zeichen der gruseligsten Nacht des Jahres. Jon und Patricia, die erst zwei Jahre später bemerkten, dass sie doch mehr als nur Freunde waren und nun das Vorzeigepärchen schlechthin darstellten, schrieben, dass sie das beste Partnerkostüm tragen würden, welches die Welt je gesehen hatte. Sie pflegten hin und wieder einen Hang zu Übertreibungen, waren aber herzensgute Menschen. Katelyn verzweifelte währenddessen fast an ihrem selbstgebastelten Mad Hatter Kostüm, da der Klebstoff den Stoff nicht zusammenhielt, während Brady es sich leicht machte und als der Sunnyboy ging, der er bereits längst war. Ich musste schmunzeln und verdrehte die Augen.

Als ich Stimmen vernahm, schaute ich in Richtung des Bewohnerheimes und sah, wie sie Mrs Barkley mit der Liege rausfuhren. Ihr Gesicht war kalkweiß. Ich konnte ihre starrenden Augen erkennen und wie ihre Adern an Hals und Händen blau und wulstig hervorstachen.

Meine Augen füllten sich mit Wasser, ehe die Tränen meine Wangen benetzten. Dieser Anblick tat so weh, dass ich mich wegdrehte. Gerade eben hatten wir doch noch beieinander gesessen. So schnell waren schöne Zeiten vorbei, so schnell war alles trist und grau. Einzig der Sonnenschein gab mir etwas Hoffnung in diesem Moment. Das Herbstlaub wurde durch einen warmen Wind umhergewirbelt, lud zu einem Spaziergang ein, hinauszugehen in eine Welt voller Erwartungen und Trostlosigkeit, wenn der Winter kam.

Part III: My Little Nightmare

All die letzten Jahre hatte ich mir gerne die bunte, gruselige Halloween-Deko in den Gärten von Missdipi Road angeschaut. Als Kinder waren wir gern von Haus zu Haus gegangen, um Süßigkeiten in unsere Kürbiseimer füllen zu lassen, doch heute war mir einfach nicht danach in alten Erinnerungen zu schwelgen. Die Nachtschicht war ruhig verlaufen, ich freute mich auf das Essen von Harpers Grandma und konnte mich glücklich schätzen meine Freunde heute Abend bei der Party zu sehen, doch Mrs Barkleys Gesundheitszustand bereitete mir große Sorgen. Ich wollte sie nicht verlieren. Nicht schon wieder. Ich wollte niemandem mehr Lebewohl sagen. Das hatte ich in der Vergangenheit viel zu oft. Doch auch ihre Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.

Ihr Tod ist ganz und gar nicht okay.

Ein Satz, der nicht zu ihr passte und auch wieder doch. Was hatte sie gesehen? So lange wie ich mit ihr zusammensaß und Tee trank, hatte sie nicht halluziniert. Sie vergaß zwischendurch mal etwas, aber sonst war sie immer klaren Verstandes gewesen. Es war, als hätte jemand durch sie hindurchgesprochen. Hatte sie etwa gesehen, ... wie ich starb?

Je länger ich lief, desto kühler wurde es. Und das lag nicht an dem kalten Schauer, der mir immer wieder über den Rücken lief. Die Sonne verschwand hinter einem dichten Wolkenmeer und ich presste erst unmerklich, dann bibbernd meine Arme um meinen Oberkörper. Der Herbst hielt Einzug, während ich durch die halloweendekorierten Straßen lief. Hier war ich ganz allein, niemand zu sehen, niemand an meiner Seite. Wie so oft, wie eigentlich immer. Melancholie breitete sich aus. Aber ich wollte nicht undankbar sein. Es gab vereinzelnd Menschen in meinem Leben, die mich aufrichtig liebten. Dieses Glück war nicht jedem vergönnt.

Ich seufzte und versuchte meinen Kopf freizubekommen, als es mit einem Mal in der Ferne grollte.

Ich blieb stehen und schaute mich um. Es sah ganz danach aus, dass ein Gewitter aufzog. Mit zusammengezogenen Brauen schaute ich auf das Display meines Handys hinab. Es zeigte noch immer Sonne und eine Niederschlagswahrscheinlichkeit von 10% an.

»Merkwürdig«, nuschelte ich nur und setzte meinen Spaziergang nach Hause fort.

Um nicht weiter an die alte, kranke Dame aus dem Heim, ihren unbehaglichen Worten oder meine verkorkste Vergangenheit zu denken, überlegte ich mir, welches Kostüm ich heute Abend tragen wollte. Ich hatte mich nie wirklich verkleidet an Halloween. Mehr als ein Stirnband mit Katzenohren oder Engelsflügel auf dem Rücken waren nie drin gewesen, doch nun wartete ein orangefarbener Samtumhang mit Kapuze gespannt auf einen Kleiderbügel an meinem Schrank auf mich, dazu ein Kleid aus Tüll und ein goldener Armreif. Du bist die einzig wahre Kürbisqueen hatte Harper einst zu mir gesagt, als ich an einem Halloween vor etlichen Jahren zehn unterschiedlich ausgehöhlte Kürbisse in meinem Garten verteilt und sie nachts angezündet hatte. Das Licht der Runkelrüben hatte mir Sicherheit gegeben. In dieser Nacht hatte ich gut geschlafen. Vielleicht so gut wie lange nicht mehr, denn als ich allein war kamen auch die Albträume.

Ich kniff die Augen zusammen, um nicht länger darüber nachdenken zu müssen und widmete mich wieder dem Gedanken über mein Kostüm. Ich glaubte, dass mich Harpers Spruch und diese Glückseligkeit, die ich in jener Nacht empfand, den Umhang kaufen ließ und eine Faszination auf mich ausstrahlte, welche ich vorher nicht für möglich gehalten hätte. Ich wollte meinem Namen der Kürbisqueen, um es mit Harpers Worten auszudrücken, alle Ehre machen und Harper würde sich sehr über ein Kostüm an mir freuen.

Plötzlich zischte und knackte es zu meiner Rechten, als ein gewaltiger Blitz in den Baum direkt neben mir einschlug. Sofort bogen sich seine knochigen Äste gefährlich in meine Richtung und ich schrie auf. Ich befand mich direkt im Auge des Sturms, während mir der Regen ins Gesicht peitschte, als auch schon ein weiterer riesengroßer Blitz am Himmel erschien und in der Ferne einschlug. Bloß wenige Sekunden später ertönte ein Donnerschlag so laut, dass ich mir die Hände auf die Ohren presste. War ich so in meiner Gedankenwelt gefangen gewesen, dass ich das Unwetter erst jetzt sah und spürte? Da erhaschte ich plötzlich wieder den großen Kürbis von heute Morgen. Die Hüpfburg, von welcher ich ein Bild für Mrs Barkley gemacht hatte, um ihr die Zivilisation wieder etwas näherzubringen.

Ich versuchte mich vor dem Gewitter und den zuckenden Blitzen in Sicherheit zu bringen und stolperte mehr schlecht als recht auf den großen Kürbis zu. Er war meine einzige Rettung in diesem Moment. Ich fand den Eingang und strauchelte hinein. Als ich endlich ein Dach über dem Kopf hatte, blickte ich hinaus. Woher war dieses furchtbare Wetter bloß gekommen? Ich stützte mich mit den Händen zu meinen Seiten ab, um mich etwas besser vorlehnen zu können, als sie auch schon beinahe selbstständig zurückzuckten. Die Wände waren schleimig. Lange Fäden hingen von der Decke und den Wänden, verfingen sich in meinen Haaren, als auch schon ein paar Kürbiskerne von oben auf mich nieder rieselten.

Der war echt?

»Du solltest nicht hier sein.«

Erschrocken fuhr ich herum, als ich einen hochgewachsenen jungen Mann erhaschte. Er stand auf der anderen Seite, mir direkt gegenüber. Sein Haar so pechschwarz wie seine Jeans und sein Mantel. Etwas Melancholisches lag in seinen hellen Augen, während scharfe Zähne aufblitzten. Ein abgefahrenes Kostüm.

»Wie bitte«?, fragte ich.

Plötzlich trat etwas Merkwürdiges, beinahe Erschrockenes in sein Gesicht.

»Geht es Ihnen nicht gut?«

Und da erhaschte ich eine klaffende Wunde an seinem Unterarm. Die Hälfte seines Mantelärmels war zerfetzt und Blut rann ihm die Finger hinunter. So wie bei Mrs Barkley.

»Sie hatten die ganze Zeit recht.«

Er starrte mich nur an. Nur der plätschernde Regen unterhielt uns. Dann ballte er die Hände zu Fäusten und schaute mit angespanntem Kiefer gen Boden.

»Mir egal. Ich weiß, was ich weiß.«

Seine Stimme war dunkel und samtig. Eigentlich hätte man sich in ihrer Nähe beinahe wohlfühlen sollen, aber bei seinem Anblick war das eher schwierig.

»Bitte?«, fragte ich.

Ich verstand kein einziges Wort von seinem kryptischem Gerede.

»Du solltest die Stadt verlassen. Oder noch besser das Land. Nimm dich in Acht vor den Schatten. Eigentlich sollte ich dir das nicht sagen, aber befolge meine Bitte.«

Als ich wieder zu ihm aufschaute, sah ich wie ihm eine Träne über die Wange rann. Doch sie war nicht so wie jede andere Träne - sie bestand aus rotem, dickem Blut. Ich schrie auf, stolperte nach hinten und flog aus dem Kürbis hinaus. Ich schlug hart auf.

Für den Moment war ich wie benebelt, schaute mich um. Über mir greller Sonnenschein.

»Mami, was ist mit der Frau?«

Verschwommen drehte ich meinen Kopf auf dem Asphalt und erkannte vage Umrisse einer schlanken Frau und ihrer kleinen, blonden Tochter.

»Weißt du, mein Schatz. Früher hatte diese Stadt gesittete Bewohner. Heutzutage ist sie überfüllt von diesen Junkies an jeder Straßenecke. Komm schon, gehen wir nach Hause.«

Verdutzt schaute ich ihnen hinterher. Sie liefen einfach davon und ließen mich liegen. Doch das war mir in diesem Moment beinahe gleichgültig. Irgendetwas war passiert. Vor meinem inneren Auge sah ich immer noch diesen merkwürdigen schwarzen Mann, der mir nur Rätsel aufgegeben hatte. Er war verschwunden und auch das Unwetter war von dannen gezogen. Langsam rappelte ich mich wieder auf.

Alles war grau in grau. Die Sonne hatte mich nur aufgeweckt. Oder war es ein weißes Licht gewesen? Ein eigenartiger Nebel lag in der Luft. Ich drehte mich herum und sah einen Eingang auf ein Feld, direkt gegenüber der Straße, der Geisterstadt, in der ich mich anscheinend mit einem Mal befand. Ein großes morbides Tor stand offen. Etwa eine Einladung hindurchzugehen?

Langsam lief ich darauf zu. Krähen flogen in Scharen über meinen Kopf hinweg, ein Uhu sang in einer kahlen Lerche in der Ferne und das Echo eines Heulens drang in meine Ohren. Vielleicht war es ein Hund oder ein Wolf gewesen.

Je näher ich dem Tor kam, desto mehr erkannte ich die verschnörkelte Struktur seines schwarzen Metalls. Ein alter, zerfleddertes Stück Papier war an zwei der vielen Stangen befestigt worden und wehte im Wind umher.

The Queen is missing. Have you seen her?

Ich schluckte schwer. Waren das nicht die Worte von Mrs Barkley gewesen?

Das Tor ist geöffnet - die Königin ist verloren, doch sie suchen sie ...

Mein Blick wanderte über das Schild hinaus, richtete den Fokus auf das Feld, welches immer weiter im Nebel versickerte. Bloß die verschwommenen Umrisse wurden vor der grotesken Szenerie immer klarer, nahmen immer mehr Formen an, bis ich das ganze Ausmaß ihrer Leibhaftigkeit erkennen konnte.

Es waren drei Personen, die eine war kleiner als die anderen beiden. Sie schienen wie Blumen im Wind. Sie wehten hin und her. Und hin und her. Etwas Mystisches umgab sie. Kleine Glühwürmchen umschwärmten sie, als wären sie die Quelle aller Wärme, die sie zum Überleben benötigten. Während die hinteren beiden sich nicht vom Fleck bewegten, kam die vorderste Person plötzlich auf mich zu. Ich bekam es mit der Angst zu tun und wich einige Schritte zurück, als ich ihr weißes Gesicht, die giftgrünen Haare und diese schwarz umrandeten Augen erkannte.

Es war ein Clown ... oder zumindest so etwas wie ein Clown. Ein Wesen wie aus einem Horrorbuch. Er fasste sich mit einer Hand an die Brust und grinste. Zum Vorschein kamen ein Haufen schiefer, gelber Zähne.

Der Clown grinste. »Da ist sie ja.«

Eine weitere Person der drei tauchte auf. Eine elegante Dame, gehüllt in ein weißes Kleid bestehend aus Rüschen über Rüschen. Ihr schwarzes langes Haar ummantelte ihren zierlichen, doch eckigen Körper. Überall traten die Knochen unter ihrer weißen Haut hervor. Lange, blutrote Nägel fuhren durch die Luft, so als würden sie Bilder malen. Konnte ich so etwas wie ein Rosenmeer erkennen? Auch die dritte Person kam hinzu, hob ihren Hut als ein skelettierter Kopf zum Vorschein kam. Der schwarze Frack gab seinem Körper mehr Volumen als er besaß. Was passierte hier gerade? Einst hatte meine Seele so dunkel ausgesehen, wie diese Umgebung hier, doch ihre Gestalten hatten etwas Buntes, auch, wenn sie traurig wirkten. Ich geriet ins Grübeln. In welcher Welt befand ich mich gerade? In meiner eigenen oder in einer anderen?

Wie dunkel konnte der düsterste Ort sein?

»Du solltest mit uns kommen«, riet mir der Clown. »Es gibt viel zu bereden.«

... aber nicht ohne Tribut ...

»Was wollt ihr von mir?«

»Aber Eure Majestät ... Euer Königreich wartet auf euch.« Die Dame trat vor und verbeugte sich augenblicklich vor mir und auch die anderen beiden fielen auf ihr rechtes Knie.

Da hörte ich die Stimme des jungen Mannes in dem Kürbis zu mir sprechen: »Ich habe dich gewarnt. Wieso bist du nicht gegangen? Um dein Leben gerannt? Jetzt gibt es kein Zurück mehr.«

So viel Dunkelheit ... ein Wald in einer Ewigkeit ...





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