3. Bewerte einen Tag erst, nachdem er zu Ende gegangen ist


Ilvie

Endlich ist es soweit, ich betrete einheimischen Boden. Nennt mich altmodisch, aber nirgendwo ist es so schön wie zuhause. Reisen ist toll, das nach Hause kommen nach längerer Zeit mindestens genauso. Wie immer reise ich zu den Feiertagen nach Edinburgh, egal wo in der Welt ich mich gerade als Kinderkrankenschwester aufhalte oder in welchem Krankenhaus ich arbeite. Meine ältere Schwester Katelyn holt mich gemeinsam mit unserer jüngeren Schwester Cameron vom Flughafen ab. Natürlich ist Cam bereits hier, weil sie ebenfalls heute aus London anreist. Zwar kenne ich die Songs dieser Pop-Indie-Country-Rockband nicht, für die Cam als Tontechnikerin arbeitet, da ich diese Musik nicht auflege, geschweige denn schon von diesem Genre-Mix gehört habe. Dennoch bin ich furchtbar stolz auf meine kleine Schwester. Es ist sicherlich nicht leicht, sich in dieser Männerdomäne durch zu kämpfen. Was sie geschafft hat, erreichen nicht viele. Dennoch hat sie es gemeistert, vollkommen alleine. So viel ist mir klar. Wenngleich ich wenig mit Konzerten am Hut habe, anders als früher. Heute höre ich hauptsächlich Klassik oder lateinamerikanische Lieder. Dort verstehe ich keinen Text und laufe nicht Gefahr, mich in ihnen wieder zu finden oder mich von falschen Worten verzaubern zu lassen. Nein, einmal reicht vollkommen. Ein weiteres Mal vergucke ich mich nicht in einen Sänger, weil mich die Texte berühren.

Wie auf das Stichwort erblicke ich ein Plakat, das eine neue Single von Cams Band „The Crowns" ankündigt. Darauf sind vier Männer abgebildet, alle in schwarzen Lederhosen und stylischen Shirts mit tätowierten Armen und interessanten Frisuren. Wobei der Frontman und Sänger der einzige ist, der statt Shirt ein weißes Hemd trägt, das bis zur Mitte sexy geöffnet ist. Dabei wird seine bemerkenswerte, muskulöse Brust zielsicher ins Rampenlicht gerückt. Zugegeben, er sieht heiß aus, obwohl man keine Gesichter sehen kann, denn er trägt eine verschnörkelte Kronenmaske. Nur die Kinnparte mit Mund ist zu erkennen. Die schwarze Maske verdeckt nicht nur die obere Hälfte seines Gesichts, sondern der dunkle Stoff zwischen der Krone, die um den ganzen Kopf reicht, verhüllt ebenso seine Frisur. Der Leadsänger ist fast komplett hinter seiner Maske verhüllt. Das sagt meiner Meinung alles über den Charakter aus, wenn diese Typen sich verstecken und ihr wahres Selbst verhüllen. Zu schade, dass Cam nicht mit auf dem Bild ist. Ihre Anwesenheit hätte es um einiges aufgebessert.

Tja, meine Einstellung zu solchen Bands hat sich im letzten Jahrzehnt grundlegend geändert. Wenn ich heute an meine Teeniezeit und die Besessenheit über den maskierten Sänger „Black Panther" nachdenke, kann ich nur beschämt den Kopf schütteln. Doch Fehler sind dazu da, um aus ihnen zu lernen. Und an jenem Abend auf seinem Konzert, habe eine Menge gelernt. Wie es ist, die Augen geöffnet zu bekommen. Wie weh es tut, sich in seinem eigenen Körper nicht mehr wohlzufühlen. Ihn für einige Zeit regelrecht zu hassen. Dabei war nicht ich oder meine Statur schuld daran, sondern einfach nur ein Typ, der sich zu wichtig nahm. Doch das habe ich erst Jahre später erkannt. Jahre, die ich gelitten habe, die mich verändert haben. Nun kann ich beinahe darüber lachen, oder zumindest so tun. Heute liebe ich mich selbst und meinen Körper wieder. Das kann mir keiner mehr nehmen. Kein Mann, keine enttäuschtes Date – niemand.

Danach habe ich die Musik des Panthers nicht weiter verfolgt. Habe regelrecht alles gemieden, was in diese Richtung Musik geht. Vielleicht extrem, aber es hat geholfen. Später habe ich zufällig mitbekommen, dass sich der Sänger zurückgezogen hat. Schnell war er von der Bildfläche verschwunden und andere haben seinen Platz eingenommen. Einige ebenfalls mit Masken, wie „Cro", „Daft Punk" „Slipknot" oder eben auch „The Crowns", die vor ungefähr vier Jahren aufgetaucht sind. Ein Jahr später hat meine kleine Schwester den Job bei der Band ergattert. Ich liebe sie, aber dennoch bin ich auf kein einziges Konzert gegangen. Am Anfang hat sie es versucht, jetzt drängt sie mich nicht mehr dazu. Es ist kein Geheimnis, mich mit dieser Art von Musik besser zu verschonen. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen deswegen. Cam möchte mir nur einen Teil ihrer Arbeit zeigen und das sollte ich einfach so hinnehmen. Doch dann erinnere ich mich an jenen Abend. An den Kuss, an das zuerst erregende Gefühl und danach an den Schmerz der Ablehnung, der gemeinen Verarsche. Für einen Moment taumle ich. Benommen blicke ich in der Gegenwart erneut auf das Plakat.

Augenblicklich verziehe ich angewidert das Gesicht und reiße mich zusammen, um dem selbstgefälligen Grinsen des Typens hinter der Maske auf dem Plakat nicht den Finger zu zeigen. Warum sehen solche Typen immer so? Können sie nicht zwanzig Kilo mehr auf den Rippen haben, anstatt wie nachgeformte Adonisse zu sein? Nur damit sie unschuldige Frauen zu ihren Konzerten locken, um hinterher willkürlich mit der einen oder mehreren zu schlafen? Das ist widerwärtig. Solche Männer sind alle gleich und es kotzt mich unbeschreiblich an. Weil sie damit durchkommen. Jedes Mal. Und wer bleibt am Ende übrig. Verletzte, enttäuschte Frauen, die sich benutzt oder schäbig fühlen.

Wütend stampfe ich weiter durch den Flughafen, obwohl meine Augen noch immer auf das Plakat gerichtet sind. Bei meinem giftigen Blick, wunderte es mich, dass dieses Bild nicht in Flammen aufgeht. Wumms. Mein Schädel hämmert plötzlich furchtbar und ich werde mit einer solchen Wucht zurückgeworfen, wodurch ich auf meinen Hintern knalle. Zum Glück bin ich trotz schlanker Figur an dieser Stelle gut gepolstert. Dennoch tut meine Kehrseite weh. Genauso sehr pocht meine Stirn schmerzhaft. Ich lege lindernd meine kühle Hand darauf und blicke mich unter ihr nach dem Übeltäter um. Vor mir befindet sich eine wackelnde Glastür, gegen die ich gelaufen sein muss. Na klasse, ich bin mal wieder selbst Schuld an meinen Schmerzen. Klassisch. Neben mir starrt mich eine Frau erschrocken an, „Alles in Ordnung mit Ihnen?", während ich im Hintergrund Teenies lachen höre.

„Danke, es geht mir gut, ich ruh mich nur kurz hier aus", murmele ich der Frau zu und versuche nach dieser Peinlichkeit so elegant wie möglich aufzustehen. Fehlt nur noch, dass mich einer dieser Teenies gefilmt hat, um morgen ein belächelter Youtube-Star zu sein. Argwöhnisch werfe ich dem Plakat einen letzten bösen Blick zu. Logischerweise gebe ich dem sexy Typen darauf die Schuld für meine unwillkommene Showeinlage.

Mit knirschenden Zähnen stapfe ich weiter zum Ausgang und anschließend in die ausgebreiteten Arme meiner Schwestern. Es fühlt sich sofort wie Zuhause an. Zumindest bis sie mich wieder loslassen und genauer betrachten. Die beiden bemerken natürlich sofort die rote, anschwellende Stelle auf meiner Stirn.

„Ilvie, was hast du da wieder angestellt?", fragt Katie besorgt, während Cam ein paar Mal verdattert blinzelt, bevor sie grinsend den Mund aufbekommt. „Scheiße, Schwesterherz. So eine Beule habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Also, ich meine auf einer Stirn, nicht im Schritt eines Typen. Haha. Komm schon, erzähl!"

„Ja genau, haha", brumme ich und reibe über die Stelle. Aufgrund ihrer mitfühlenden Blicke, folge ich ihrer Aufforderung. Und auch weil ich ihren Beule-Schritt-Scherz ganz gut finde. Humor muss honoriert werden. Egal in welchen Lebenslagen.

Schließlich beende meine Erzählung mit den Worten: „Wie ihr seht, pfuschen mir solche Musikertypen selbst nach all den Jahren noch in mein Leben. Wie ein Fluch oder so ein hässlicher Poltergeist, der nicht zu vertreiben ist. Vielleicht sollte ich einen Exorzisten aufsuchen, um das böse Karma loszuwerden. Tut mir leid, Cam. Ich weiß, du arbeitest mit ihnen zusammen, aber ich komme mit solchen Männern nicht klar."

Dabei meine ich diesen Scherz mit dem Exorzisten nur halbernst. Zwar glaube ich nicht an Voodoo und dieses ganze Zeug, aber ein Versuch kann vermutlich nicht schaden. Und ehrlich gesagt habe ich gegen eine Voodoo-Puppe und ein paar Nadeln nichts einzuwenden, wenn wir schon dabei sind.

Cam verzieht das Gesicht und seufzt. „Ilvie, wer weiß, vielleicht sind ja nicht alle so. Es können nicht alle Rocksänger Mistkerle sein. Die Jungs von der Band sind ganz okay. Auf Konzerten passieren nicht nur schlimme Sachen, es ist auch magisch, nicht alles schlecht. Und die Texte auf ihrem neuen Album sind viel tiefsinniger als von vielen anderen Künstlern, wirklich."

Meine Schwestern kennt meine Vergangenheit mit den Konzerten und dem besagten Abend. Zumindest den größten Teil. Daher wundert es mich ein wenig, dass sie ihn verteidigt. Abfällig schnaubend schüttle ich den Kopf, obwohl ich weiß, in dieser Sache zu halsstarrig zu sein. „Ja, vermutlich so tiefsinnig wie eine Pfütze. Aber du hast Recht, es tut mir leid, dass ich darauf herum reite. Das ist meine Sache, mit der ich klarkommen muss. Du machst einen tollen Job und ich bin furchtbar stolz auf dich."

Damit hake ich mich bei den beiden unter und wir marschieren aus dem Flughafen. „Klärt mich lieber auf, was ich die letzten Monate so verpasst habe und bringt mich auf den neuesten Stand."

„In welcher Hinsicht? Und wie sieht es eigentlich mit Justin und dir aus? Habt ihr noch einmal geredet?", fragt Katie mitfühlend und streicht ihren sandfarbenen Pony zurecht.

„Kein gutes Thema. Justin ist und bleibt ein Arschloch. Er hat sich nicht einmal entschuldigt, sondern so getan, als wäre nichts passiert. Daher lenkt mich bitte ab und bleiben wir bei dir", antworte ich schnell und sie nickt verständlich. „Das tut mir leid. So ein mickriger Jammerlappen! Gut, dann reden wir zuerst über mich, um dich auf andere Gedanken zu bringen. Also, über was wollt ihr zuerst reden? Jobs oder Männer?"

Ihre grauen Augen funkeln aufgeregt und Cam und ich antworten unisono: „Männer!"

Typisch! Sie brechen uns das Herz, dennoch sind sie unser Gesprächsthema Nummer eins. Nachdem wir über uns selbst gelacht haben und uns in ein Taxi fädeln, warte ich gespannt auf Katies Bericht. Ich will etwas Gutes, Schönes und Verzauberndes in Sachen Liebe hören. Etwas, das gut geht und positiv in Bezug auf Männer ist, bevor ich endgültig alle Hoffnungen in den Sand setze. Auf diesem Gebiet kann ich von meiner Seite aus seit langem keine guten Neuigkeiten bieten. Bis auf Justin hatte ich in den letzten Jahren nur ein paar harmlose, unspektakuläre Kurzbeziehungen oder One Night Stands. Und selbst diese waren nicht äußerst prickelnd. Irgendwie hat die Chemie nie richtig gepasst, nie war der Funke die Leidenschaft entflammt. Und ich will brennen – lichterloh. Natürlich im positiven Sinn. Irgendwie gibt es für mich da draußen nicht den berühmten, passenden Deckel auf meinen Topf, obwohl ich nicht weiß, woran es liegt. Vermutlich an mir. Ich bin so etwas wie beschädigte Ware – mit roten Warnaufklebern und allem.

Statt zu seufzen oder mich in meinem Elend zu suhlen, wende ich meine Aufmerksamkeit an meine ältere Schwester. „Also erzähl schon. Wie geht es Ruben und wie sieht es bei euch mit dem nächsten Schritt aus?"

Vor drei Jahren haben sie sich im Job kennengelernt. Er war Flugbegleiter bei einem Flug, bei dem sie die Pilotin gewesen ist. Daher haben sie sich auf Anhieb verstanden, konnten die ungewöhnlichen Arbeitszeiten des anderen gut nachvollziehen, ohne Stress zu machen. Zu ihrem Glück können sie sogar oft gemeinsam fliegen, was die Sache natürlich leichter macht. Fehlt nur noch, dass sie endlich zusammen ziehen, Heiraten und Kinder bekommen. Daher warte ich gespannt auf ihre Antwort, denn Ruben ist ein wirklich netter Mann. Einer von den Guten. Zwar nicht mein Fall, da er mir eine Spur zu gestriegelt wirkt, jedoch macht er meine Schwester glücklich und dafür bin ich ihm jeden Tag dankbar. Katie grinst verschmitzt. „Nun, tatsächlich gibt es etwas, dass ich euch erzählen muss. Aber erst zuhause, wenn wir alle zusammen sind. Mum und Dad sollen es auch hören."

Na klar, als würden wir es solange aushalten zu warten.

„Du spinnst wohl, erzähl schon!", schaltet sich Cam ein und ich stimme ihr zu. „Raus mit der Sprache. Wir sterben vor Neugierde. Hat er dich gefragt, ob ihr endlich zusammenziehen wollt?"

Ihre Wangen färben sich rosa und sie raffte den Saum ihrer hellrosa Bluse zwischen den Fingern. „Nicht nur."

Ein Ruck fährt durch meinen Körper, als ich ein verdächtiges Funkeln an ihrem Finger sehe. Wahnsinn! Ich kann es nicht glauben – sie werden es tatsächlich tun. In dem Moment als ich aufgeregt: „Ihr werdet heiraten", quietsche, hüpft Cam neben mir ebenfalls auf und brüllte: „Oh Gott, ihr seid verlobt!"

Besser hätte dieser Tag nicht enden können und ich würde alles was ich besitze dafür geben, wenn es bei dieser einen Neuigkeit geblieben wäre. Doch oft werden einem die simpelsten Wünsche nicht erfüllt. 

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