Kapitel 72

Aaliyah's Sicht

Meine Augen gleiten über das erschöpfte Gesicht meines Bruders und nervös setze ich die Wasserflasche vor ihm ab.

Seine Augen schreien nur so nach Schlaf aber so wie ich meinen Bruder kenne, weiss ich, dass er keine Ruhe haben wird, bis wir dieses Gespräch hinter und haben.

Sein Oberkörper wird von einem großen Tattoo über die linke Brustseite bis zur Schulte verziert und wenn ich meinen Anfangsbuchstaben in dem Muster erblicke, schmunzle ich still.

Die Haare total zerzaust, leert er die Flasche in einem Zug, bevor er sich das Glas mit dem Aspirin nimmt und auch das wegkippt.

Mike schließt kurz seine Augen, atmet tief durch und fährt sich dann mit beiden Händen übers Gesicht, bevor er sich richtet und seine ganze Aufmerksamkeit mir widmet.

Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, Wolf dazu zu bringen, zum Arzt zu gehen, denn so kann ich mich nicht nur in Ruhe mit Mike unterhalten, sondern habe auch endlich ein reines Gewissen wegen seinen Händen.

Da seine Nähte von den anderen Prügeleien auch noch nicht geheilt waren, haben sich die Fäden der Wunden in sein Fleisch gefressen und auch wenn ich es desinfiziert habe, ist es immer noch am besten, es jemandem zu zeigen, der sich auskennt.

Er wollte nicht gehen und auch ich wollte ihn nicht gehen lassen, aber ich bin mir sicher, wenn mein Freund da wäre, dann könnte Mike niemals alles sagen, was er sagen will, weil er wahrscheinlich anfangen wird zu weinen.

Der Gedanke an heute Nacht, wie er in meinen Armen so viele Tränen vergossen hat, bereitet mir Gänsehaut und noch bevor ich wirklich auf diese Dinge eingehen kann, räuspert mein Bruder sich; zieht damit meine ganze Aufmerksamkeit auf sich.

"Es tut mir leid, dass ich nicht der Bruder bin, den du brauchst, Aaliyah.", beginnt er, guckt mir zuerst in die Augen, fährt sich jedoch dann durch die Haare und bricht den Augenkontakt ab.

"Mi-", "Nein, lass mich zuerst sprechen und dann kannst du sagen was du willst, okay?", unterbricht er mich sanft und wie in Trance nicke ich.

Mike bietet mir den Stuhl auf der anderen Seite der Kochinsel an und schweigend nehme ich Platz.

Seine grünbraunen Augen leuchten, triefen aber auch nur so vor Schmerz und es fällt mir schwer, bei diesem Anblick nicht zu weinen.

"Nate ist ein echter Bruder, genau so wie Chuck aber ich? Ich bin einfach nur ein Versager. Zweimal musste ich die Klasse wiederholen, sodass wir doch tatsächlich unseren Abschluss zusammen machen. Du glaubst mir gar nicht, wie sehr ich mich dafür schäme und ich kann mir kaum vorstellen, wie sehr du ich für mich schämst. Ich mag es dir nicht zeigen, aber Aaliyah - du bist alles was mich noch am Leben hält. Als ich - erfahren habe, dass Mum tot ist, stand ich mit einer Waffe, stockbesoffen an einer Brücke und ich schwöre bei Hott, die Versuchung war so groß, abzudrücken, aber dann habe ich an dich gedacht. Das Leuchten in deinen grünen Augen hat mich wachgerüttelt und ich wusste, es gibt noch einen Grund, zu leben. Die ersten Wochen nach Mum's Tod waren wie die Hölle auf Erden für mich, wenn nciht sogar um einiges schlimmer. Das Ausmaß an Schmerz und Sehnsucht, das ich empfunden habe und immer noch tue, hat unmenschliche Größen angenommen und irgendwann, ungefähr vor drei Wochen war ich wieder an einem der tiefsten Punkte in meinem Leben.", Mike macht eine Pause und still gucke ich ihm dabei zu, wie er anscheinend nach den richtigen Worten sucht.

Kurz darauf atmet er erneut tief durch und fährt fort.

"Nach unserem Gespräch hatte ich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Immer wieder hat sich dasselbe Szenario in meinem Kopf abgespielt und irgendwann konnte ich nicht mehr. Aaliyah, ich wollte sterben. Ich rede hier nicht von diesem  gefälschten Sterbedrang sondern davon, wie ich erneut am Bahnhof stand und wirklich kurz davor war, zu springen. Es hätte so schnell vorbei sein können und auch dieses Mal war es der Apfel auf einem Silbertablett, aber erneut waren es deine Augen, die mich davon abgehalten haben. Ich verdanke dir so viel, Snow, das ist dir nicht Mal bewusst. Du bist der Grund, warum ich kein alkoholsüchtiger Drogenjunkie geworden bin und dafür bin ich dir so dankbar. Auf meine Fehler in der Vergangenheit werde ich nicht eingehen, denn ich kann sie nicht rückgängig machen, egal wie oft ich Aiden verprügle. Ich möchte nur, dass du weisst, dass du alles für mich bist und ich ohne dich nicht mehr existieren würde. Es tut mir leid, wenn ich nicht das war oder bin, was du brauchst, aber ich - wäre sehr glücklich, wenn du mir die Chance geben würdest, das zu ändern.", beendet er seinen Redefluss und ehe ich es realisieren, landen bereits zwei Tränen auf meinen Handflächen.

Immer wieder blinzle ich, so als könnte ich nicht glauben, was gerade passiert.

Vor ein paar Wochen hätte ich niemals gedacht, mich irgendwann in dieser Situation zu befinden und das auch noch mit Mike.

Sein Geständnis über die Art, wie er von mir denkt und was für einen Faktor ich in seinem Leben spiele, lässt mein Herz wärmer werden und pure Zufriedenheit füllt meine Brust.

"Sag was dazu, Snow, bitte.", fleht Mike leise, als nach ein paar Minuten nichts von mir kommt.

Ich öffne den Mund, um irgendwie meine Gefühle zu erklären und genau so gut in Worte zu fassen, wie er es getan hat, aber ich bekomme nichts heraus.

"Wenn du willst, lasse ich dich allein und du kannst-", "Danke, Mike.", schluchze ich wie aus dem Nichts und überrascht, mit Erleichterung in den Augen blickt er mich an.

"Wofür?", fragt mein Bruder verwirrt und die Art, wie er sich nur schwer zusammenreißt, sein Lächeln zu verstecken, macht mich glücklicher als je zuvor.

"Für all diese Worte. Ich habe mit uns eigentlich schon längst abgeschlossen, aber dich so zu sehen und diese Dinge von dir zu hören hat uns gerettet. ", seufze ich und wische mir die Tränen aus dem Gesicht.

"Also verzeihst du mir?", "Natürlich, aber nur, wenn du mir all meine harschen Worte verzeihst.", erwidere ich und gucke ihn lächelnd an.

Seufzend erhebt mein Bruder sich und kommt auf mich zu, bevor er seine Arme um meinen Körper schlingt und meinen Ansatz küsst.

"Wenn du diese Dinge nicht gesagt hättest, wären wir nicht hier, mein Herz.", flüstert er leise, während sein Herz stark an meinem Ohr klopft und mich bis ins Mark beruhigt.

Auch wenn einige Dinge nicht wirklich geklärt wurden, weiss ich, dass sie nicht besprochen werden müssen, weil wir beide wissen, dass nur noch die Zeit nach heute zählt und darüber bin ich viel glücklicher als ich je zu glauben gewagt hätte.

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