Kapitel 66

Wolf's Sicht

Es kommt mir so vor, als wären bereits Stunden vergangen, aber wahrscheinlich sind nur wenige Sekunden in Zeitlupe an mir vorbeigezogen.

Als ich im nächsten Moment meine Augen wieder öffne, finde ich mich auf dem Körper von einem Blonden Typen wieder, welche mit einem blutigen Gesicht, die rote Flüssigkeit immer wieder auf den Boden spuckt.

Meine Hände pochen so intensiv, dass ich den Schmerz gar nicht erst spüre.

Ganz langsam komme ich wieder zu mir, merke nur, wie alles langsam wieder seinen Platz findet, die Zeit wieder normal läuft und die Trance-Erscheinung endlich verschwindet.

Als ich mich umschaue, liegen bereits mehrere geschockte, zum größten Teil auch total entsetzte Augenpaare auf mir.

Mit einem Mal taucht ein ekelhaftes Bild vor meinem inneren Auge auf und ich sehe nur, wie mein Mädchen, einen halb nackten Jungen küsst.

Immer wieder spielt sich diese Szene vor mir ab, so als wäre es auf Dauerschleife gestellt, nur um mich zu quälen.

Mein größter Albtraum ist wahr geworden und ich fühle regelrecht, wie mein Herz mit meiner Rückkehr in die Realität durch den Fleischwolf gejagt wird.

Kein einziges Geräusch erreicht mich.
Kein einziger Mensch gewinnt meine Aufmerksamkeit.
Keine einzige Person dringt durch mein Schutzschild hindurch.

Ohne ein Wort zu sagen, erhebe ich mich von dem reglosen Körper des Jungen, fahre mir mit blutigen Händen durch die Haare und richte dann mein Shirt.

Der Alkohol in meinem Blut ist verschwunden und das muss geändert werden.

Meine Hand findet wie von selbst die Flasche Whisky und mit einem Mal kippe ich mir die braune Flüssigkeit in den Mund den Rachen herunter.

Es heilt meine Wunden nicht, aber es lässt mich den Schmerz vergessen, also warum nicht.

In weniger als zwei Minuten ist die Flasche leer und ich spüre, wie sich der Alkohol in meinem Blut verteilt und langsam alle Qualen zu beenden scheint.

Gerade, als ich den letzten Schluck nehmen will, wird mir die Flasche aus der Hand gerissen.

"Was soll der Bullshit, Wolf?", schreit mich der gebürtige New Yorker an, der doch mein bester Freund ist, aber auch nicht verhindert hat, dass dieser Bastard mein Mädchen küsst.

Das Bild verschwindet einfach, treibt mich in den Wahnsinn und ich habe das Gefühl zu ersticken.

Der Würgereiz tief in meinem Hals ist unerträglich und wenn ich nicht geübt wäre, hätte ich wohl wahrscheinlich schon längst alles ausgekotzt.

"Ich dachte, du bist clean! Hörst du mir überhaupt zu??", ruft Quentin jetzt noch lauter und von seiner Trunkenheit scheint durch die Aufregung auch nichts mehr übrig zu sein.

"Er hat sie - geküsst...", hauche ich mit rauer, schmerzender Stimme, kann die Qual hinter dem Bass nicht verstecken, denn es tut einfach viel zu sehr weh.

Der Blick meines besten Freundes wird sofort sanfter und ich beobachte ihn dabei, wie er mein Gesicht studiert und dann laut seufzt.

"Ich bin doch der erste und einzige den sie küssen soll...", und als ich meine Gedanken laut ausspreche, brechen alle Dämme und ich fange an, wie ein kleines Kind zu weinen.

Es interessiert mich nicht, wie viele andere Menschen anwesend sind; mein Herz ist verschwunden und da gibt es nichts weiter, als ein großes, schwarzes, schmerzendes Loch von Leere.

"Komm, Abruzzi, wir kümmern uns Mal um deine Hände.", sagt Quentin, greift nach meinem Arm und ich nicke nur schniefend.

So als würde ich es in meinem Bewusstsein fühlen, drehe ich mich um und tatsächlich - das Mädchen, das ich mehr liebe als mein eigenes Leben, steht mit einem von ihren Tränen verschmierten Gesicht vor mir.

Ihr ganzer Körper zittert, während sie mich anguckt, als hätte ich ihr gerade das Leben gerettet.

Wenn sie doch nur merken würde, was für eine Art Gift ich bin, dann könnte ich mich endlich von ihr entfernen und wieder der werden, der ich vor ihr war.

"Fahrt sie nach Hause.", sage ich nur, ohne meiner Freundin in die Augen zu gucken, denn gerade fällt es mir sowieso schon schwer zu atmen, was bei ihrem Anblick auch nicht besser wird.

Ich weiß, dass sie nichts dafür kann, aber jetzt gerade wird mir Abstand wohl am besten tun.

"Nein, Wolf, ich will bei dir bleiben.", flüstert sie, sodass nur ich es hören kann.

Der Kontakt von ihrer Haut auf meiner bereitet mir Gänsehaut und ich erschaudere kurz.

Ich schließe die Augen, versuche zu atmen und gucke sie dann an.

"Ich brauche erstmal ein paar Tage für mich allein, Aaliyah. Dieses Bild - hat mich wortwörtlich vergewaltigt.", hauche ich genau so kaputt wie sie, vielleicht sogar ein Stück gebrochener.

Der Gedanke, dass sie dadurch auch leidet, macht mich fertig, denn ihr Schmerzen zuzufügen ist das letzte auf dieser Welt, das ich mit Absicht machen will, aber jetzt gerade kann ich nicht anders.

"Bitte, verlass mich nicht schon wieder, Wolf. Ich brauche dich.", sagt sie und zieht mich an meinem Arm dichter an ihren Körper, der trotz all des Schmerzes immer noch Glück ausstrahlt, auch wenn es um einiges zurückgegangen ist.

"Es tut mir leid, Aaliyah. Ich kann dich gerade nicht angucken.", schlucke ich hart, drücke sie weg, bevor ich mich umdrehe und in Richtung Tür laufe.

"Ich liebe dich, Wolf.", ertönt es plötzlich, genau als ich aus der Tür gehe.

Diese eigentlich so einfachen, aber dennoch so schwer wiegenden Worte hallen in allen Lautstärken in meinem Kopf, füllen meine Brust mit einem Glücksgefühl, das den Schmerz zwar nicht verschwinden lässt, aber meine Brust um einiges erleichtert.

Mein Bauch randaliert, in meinem Körper herrscht dieselbe Stimmung wie bei den Deutschen im zweiten Weltkrieg, als sie erfahren haben, dass Hitler sich umgebracht hat und mein Verstand ist einfach nur leer.

Schluckend drehe ich mich um, gucke in die grünen Augen, welche mich immer noch voller Sehnsucht und Zärtlichkeit anfunkeln, mich in den Wahnsinn treiben und doch der Weg zu meinem Glück sind.

"Hast du mich gehört?", ruft sie mir mit nervöser und gebrochene Stimme zu, sodass ich nicht anders kann, als verzweifelt die Hände vor mein Gesicht zu legen und erneut erbärmlich das Weinen anzufangen.

Wenn sie mich liebt, dann weiß ich, dass ich im Leben gewonnen habe und die Art, wie der Stolz jede Pore meines Körpers annimmt ist unglaublich und dennoch entsetzlich zugleich.

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